Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren. Peter Oestmann

Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren - Peter Oestmann


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es darum, wer Rechtsstreitigkeiten entscheidet. Im modernen Recht hat man es mit unabhängigen Berufsrichtern zu tun, die ein Jurastudium und zwei Staatsprüfungen absolviert haben. Die Gerichtsbarkeit ist horizontal in verschiedene Gerichtskreise bzw. Gerichtssprengel und vertikal auf mehrere Instanzen aufgeteilt. Dazu treten feste Zuständigkeitsregeln. Neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit gibt es andere Zweige, nämlich die Verwaltungs-, Arbeits-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit. Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder vervollständigen das Bild. Doch auch innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind die jeweiligen Funktionen fest zugewiesen. Der Blick in die Geschichte zeigt erneut Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Die Über- und Unterordnung von Gerichten mit festen Instanzen begegnet zuerst im kirchlichen Bereich und wird im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation seit dem 15. Jahrhundert auch im weltlichen Recht greifbar. Der studierte Berufsrichter taucht ebenfalls seit dem Mittelalter in der Kirche, aber auch in italienischen Kommunen auf. Ganz anders sah die einheimische Tradition aus. Der Richter war hier Leiter des Verfahrens, nicht aber an der Urteilsfindung selbst beteiligt. Laienschöffen, ein sog. Umstand oder in der Frühzeit sogar die gesamte Gerichtsgemeinde fanden dagegen die Antwort auf die zu entscheidende Frage. An eine Gewaltentrennung ist hierbei nicht zu denken. Der Rat vieler mittelalterlicher Städte war zugleich Regierungsorgan und Gericht. In der Neuzeit waren die Universitäten in die Gerichtsverfassung eingebunden. Das Spruchkollegium der Juristenfakultäten entschied Anfragen in Zivil- und Strafsachen [<<16] und beförderte damit zugleich die Professionalisierung der Rechtpflege. Ein besonderes Augenmerk gilt den jeweils obersten Gerichten. Wie waren sie organisiert und worüber entschieden sie?

      1.2.3 Prozessrecht

      Die dritte Leitfrage umkreist das zeitgenössische Prozessrecht. Hierbei geht es insbesondere um die Prozessmaximen und Rechtsmittel. Das moderne deutsche Gerichtsverfahren ist geprägt durch öffentliche, mündliche Prozessführung, die freilich umfassend schriftlich vorbereitet wird. Im Zivilprozess beherrscht die Dispositionsmaxime das Verfahren. Danach entscheiden die Parteien über die Angriffs- und Verteidigungsmittel und geben dem Gericht den Streitgegenstand vor. Der Verhandlungsgrundsatz besagt, dass die Parteien auch für die Beibringung der Tatsachen verantwortlich sind. Das Gericht ist im Grundsatz auf die Entscheidung der Sache beschränkt. „Da mihi facta, dabo tibi ius“ (Gib mir die Tatsachen, ich werde dir das Recht geben), lautet der lateinische Sinnspruch dazu.

      Im Strafverfahren dagegen gilt die Offizialmaxime. Von Amts wegen geht der Staat gegen Straftäter vor und setzt seinen eigenen Strafanspruch durch. Dazu passt die Instruktions- bzw. Inquisitionsmaxime. Denn auch die Ermittlung des Sachverhalts ist hier eine hoheitliche Aufgabe und richterliche Pflicht. Die Entscheidungen aller Gerichte erwachsen in Rechtskraft, wenn sie nicht rechtzeitig angegriffen werden. Doch Rechtsmittel stehen bereit. Berufung und Revision führen den Streit in eine höhere Instanz (Devolutiveffekt) und halten das bereits ergangene Urteil in der Schwebe (Suspensiveffekt). Das Rechtsmittelgericht prüft sodann je nach Rechtsmittel, ob dem Untergericht Fehler bei der Rechtsanwendung oder bei der Ermittlung des Sachverhalts unterlaufen sind. Liegt eine endgültige Entscheidung vor, kommt es zur Vollstreckung. Der Straftäter empfängt seine Strafe, möglicherweise wandert er ins staatliche Gefängnis. Im Zivilprozess steht der Gerichtsvollzieher bereit, den durch Urteil bestätigten Anspruch mit staatlichem Zwang durchzusetzen.

      Der rechtshistorische Blick zeigt abermals die Voraussetzungen für verschiedene Prozessformen auf. Eine weitgehend schriftlose (orale) Gesellschaft ohne studierte Juristen gelangt hierbei zu ganz anderen Lösungen als eine von gelehrten Berufsrichtern geprägte Rechtsordnung. Die mittelalterliche Laiengerichtsbarkeit beruht weitgehend auf Öffentlichkeit und Mündlichkeit. Strafprozess und Zivilverfahren waren lange Zeit nicht getrennt. Ziel des Verfahrens war es auch nicht, abstrakt-generelle Rechtsnormen auf einen Sachverhalt anzuwenden. Die Subsumtion ist vielmehr das methodische Rüstzeug des studierten Juristen. Im ungelehrten Prozess ging es [<<17] demgegenüber darum, den gestörten Frieden wiederherzustellen. Deswegen erlangten Eide der Parteien eine besondere Bedeutung. Als Leumundseide zählten sie zu den sog. irrationalen Beweismitteln, die für die Entscheidungsfindung oftmals wichtiger wurden als die Sachverhaltsaufklärung. Der gelehrte Prozess bewirkte hier die entscheidenden Veränderungen, bezeichnenderweise zunächst im Strafrecht. Kleriker, denen bestimmte Amtsvergehen angelastet wurden, durften sich nicht mehr durch Reinigungseid selbst entlasten. Das Lehrbuch legt daher besonderen Wert auf den Wandel des Prozessrechts, der sich mit der Rezeption des gelehrten Rechts vollzog. Man meint damit traditionell die Verwissenschaftlichung und Professionalisierung des Rechts, auch die inhaltliche Anlehnung and römische und kanonische Vorbilder. Das Wort Rezeption und die früher teilweise damit verbundenen Vorstellungen sind inzwischen streitig geworden. Aber die Zunahme römisch-kanonischen Rechtsdenkens und das Universitätsstudium haben doch unübersehbar ihre Spuren hinterlassen. Das gilt in besonderer Weise für die Prozessrechtsgeschichte. Die Verschriftlichung des Verfahrens, feste Vorgaben für den Schlagabtausch zwischen den Parteien und ihren Anwälten, der Trend, hinter verschlossenen Türen zu entscheiden, die Möglichkeit, Urteile anzufechten – dies sind die entscheidenden Punkte, auf die es zu achten gilt. Untrennbar verbunden damit ist die Frage, ob und wie Gerichte ihre Entscheidungen gegenüber den Parteien, der Öffentlichkeit oder der Wissenschaft begründeten.

      1.2.4 Auswirkungen der Leitfragen

      Je stärker die Darstellung den Leitfragen folgt, auch wenn sie weitere Verfeinerungen vornimmt, desto deutlicher treten ganze Bereiche der Rechtsgeschichte in den Hintergrund. Die Rechtswissenschaft mit ihren Lehren spielt eine eher untergeordnete Rolle, ebenso über längere Phasen, vor allem in der älteren Zeit, die normativen Rechtsquellen. Das Lehrbuch wirft Schlaglichter auf die Geschichte der Rechtspraxis und bietet damit nur einen Ausschnitt aus einer allgemeinen Rechtsgeschichte. Vollständigkeit ist insoweit nicht angestrebt, auch nicht in quellenkundlicher Hinsicht. Die Zuspitzung soll es dagegen ermöglichen, die wesentlichen Linien der Prozessrechtsgeschichte zu erkennen, einzelne Stationen der Geschichte miteinander zu verknüpfen und auf diese Weise ein tieferes Verständnis für die Grundbedingungen der jeweiligen Rechts- und Gerichtsordnung zu schärfen. Damit erhalten Studierende zugleich eine Vorlage, um sich auch in fremde Zeiten und Gebiete der Rechtsgeschichte einzuarbeiten. Das Lehrbuch möchte insofern ausdrücklich zur weiteren Quellenlektüre und zum Selbststudium ermutigen. [<<18]

      1.3 Forschungsstand

      Ein Lehrbuch zur Geschichte der Gerichtsverfassung und des Prozessrechts gibt es bisher nicht, geschweige denn eine umfassende Gesamtdarstellung. Die älteren Werke zur Deutschen Rechtsgeschichte enthalten häufig Kapitel über „Gericht und Rechtsgang“, oftmals aus einer romantischen oder national-rechtsstaatlichen Perspektive. Die Quellenkenntnis von Autoren wie Heinrich Brunner, Richard Schröder oder Eberhard Freiherr von Künßberg beeindruckt noch heute. Das Gesamtbild, das ihre Bücher vermitteln, ist freilich seit Jahrzehnten überholt. Gerade die Sichtweise auf die frühen Phasen der Rechtsgeschichte, auf die sog. germanische und fränkische Zeit bis weit ins Mittelalter hinein, hat sich deutlich gewandelt. Aber selbst jüngere Lehrbücher wie das von Heinrich Mitteis 1949 begründete auflagenstarke Becksche Kurzlehrbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte haben bis zur letzten Neubearbeitung 1992 durch Heinz Lieberich unbeirrt am überkommenen germanistischen Blick auf die Vergangenheit festgehalten.

      1.3.1 Lehrbücher

      Eine echte Zäsur bedeutete deshalb das ganz eigenständige und neuartige Lehrbuch von Karl Kroeschell, 1972 begründet und nach und nach auf drei Bände erweitert. Den überlieferten Titel „Deutsche Rechtsgeschichte“ behielt dieses Werk bei, verzichtete aber bewusst auf große Linien und ein konstruiertes Gesamtbild. In kleinen Abschnitten kommen einzelne Episoden aus der Rechtsgeschichte, aber auch aus der Forschungsdiskussion daher und führen den Leser detailgenau in ausgewählte Bereiche ein. Zahlreiche abgedruckte Quellen regen zum Selbststudium an, sind freilich mit dem Text des Lehrbuchs kaum verknüpft. Die Prozessrechtsgeschichte nimmt bei Kroeschell einen breiten Raum ein. Gerade für die ältere Zeit hat er damit Maßstäbe gesetzt,


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