Neue Theorien des Rechts. Группа авторов
Neue Theorien des Rechts
Sonja Buckel / Ralph Christensen / Andreas Fischer-Lescano
Mohr Siebeck GmbH & Co. KG
|V|Vorwort
Als Herausgeber*innen freuen wir uns über das große Interesse, das der Band gefunden hat. Wir haben alle Beiträge im Lichte der zahlreichen und erfreulichen Reaktionen auf die Erstauflage des Bandes einer gründlichen Revision unterzogen und die Literaturhinweise aktualisiert. Für die dritte Auflage haben wir den Band konzeptionell überarbeitet, die Texte neu arrangiert und eine Reihe neuer Ansätze (Post-Juridismus, Ästhetik des Rechts, Medientheorie, Rechtsempirismus, Recht im Kontext imperialer Lebensweise, Postkolonialismus) aufgenommen, die bislang nicht vorgestellt worden sind. Andere Ansätze, deren Bedeutung und Innovationskraft abgenommen haben (Agambens Dezisionismus, deliberative Theorien), wurden nicht erneut aufgenommen. Trotz der zum Teil umfangreichen Überarbeitung bleibt die Zielsetzung des Bandes gleich, sie ist eine doppelte: Der Band sucht einerseits Grundlage einer vertieften Auseinandersetzung für diejenigen zu sein, die bereits auf Vorkenntnisse zurückgreifen können, andererseits sollen gerade auch diejenigen, die sich einen ersten Überblick über neue Theoriebildungen im Recht verschaffen wollen, konzise und verständlich in die jeweilige Logik des theoretischen Arguments eingeführt werden.
Allen an diesem Buch Beteiligten, insbesondere den Autorinnen und Autoren, sei für ihre Mitarbeit gedankt. Dank geht auch an Apollinaire Akpene Apetor-Koffi, Pia Borsing, Julia Gelhaar, Anika Grotjohann, Florian Nustede und Britta Plote in Bremen, die die Register erstellt, alle technischen Fragen souverän erledigt und aus heterogenen Worddokumenten die Einheit eines Buchmanuskripts hervorgebracht haben.
Kassel, Bremen und Mannheim, im Januar 2020 S.B., A.F.L., R.C.
|1|Einleitung: Neue Theoriepraxis des Rechts
Sonja Buckel, Ralph Christensen und Andreas Fischer-Lescano
Theorie im Recht thront nicht über der Rechtspraxis, sondern steckt mitten drin. Sie liefert nicht Versatzstücke für Sonntagsreden bei Gerichtsjubiläen, sondern ist auf Praxis ausgerichtet. Wenn Theorie es ernst meint, beleuchtet sie die blinden Flecke der Dogmatik und verweist auf konzeptionelle Kontingenzen. Die hier vorgestellten Theoriemodelle meinen es ernst. Alle reagieren sie auf die gesellschaftlichen Herausforderungen, die üblicherweise in die Formeln »Ausdifferenzierung« und »Globalisierung« gebracht werden.
Die Diskussion wichtiger Sachthemen wird im Moment blockiert durch zwei dominante Diskursformen: Auf der einen Seite der neoliberale Diskurs, der Wahrheit, Objektivität und vor allem Alternativlosigkeit proklamiert. Dieser Diskurs hat durch die Finanzkrise an Macht und Einfluss verloren. Die Subalternen glauben nicht mehr ohne Weiteres, dass sie an ihrer hoffnungslosen Lage selbst schuld sind. Dies wird von einem neu-rechten Populismus ausgenutzt, welcher auf diskursive Hegemonie zielt und regelbrechende Diskursinterventionen verwendet, um Tabuformen öffentlicher Herrschaft wieder salonfähig zu machen. Er entwendet dafür überraschende, innovative, disruptive Diskurspraktiken, welche seit Dadaismus, Surrealismus und Guerillakommunikation der Emanzipation dienten[1]. Damit macht er Fake News zur Wahrheit. In dem Spalt zwischen diesen beiden Diskursen verschwinden die wirklichen Probleme. Fakten und Realitäten sind aber immer Ergebnisse von Kontroversen. Sie sind Streitsachen[2]. Auf dieser Grundlage einer Formulierung von wirklichen Problemen unter Verzicht auf den Anspruch, das Auge Gottes zu repräsentieren, könnten die neuen Ansätze in der Rechtstheorie sich treffen.
Die zusammenführende Darstellung dieser Ansätze im vorliegenden Sammelband sucht, in die heterogenen Antworten der aktuellen Theorien des Rechts auf die »neue Unübersichtlichkeit«[3] einzuführen, den Vergleich einzelner Theorieangebote zu ermöglichen, Querverbindungen nachzuspüren und insgesamt zum kritischen Nach- und Gegendenken der wichtigsten Richtungen und Referenztexte anzuregen.
Das vorliegende Buch versteht sich in seinem Fokus auf neue Theorien des Rechts als komplementär zu traditionell konzipierten Grundlageneinführungen, |2|in denen die hier vorgestellten Theoriemodelle zumeist nur am Rande und in summarischer Form behandelt werden. Während klassische Einführungen in Rechtsphilosophie und -theorie[4] den Schwerpunkt in der Regel auf eine ideengeschichtliche Abhandlung legen, werden im folgenden zeitgenössische Theoriekonzeptionen vor dem Hintergrund der aktuellen Problemlagen vorgestellt. Das umfasst ein breites Spektrum Disziplingrenzen transzendierender, nicht immer personalisierbarer Ansätze – seien sie rechtsphilosophisch (Brandom, Davidson, Derrida, Habermas, Lyotard, Maus), rechtspolitisch (critical legal studies, deliberative Theorien, feministische Rechtstheorien, Foucault, Postmaterialismus, Wiethölter), rechtssoziologisch (Bourdieu, Jessup, Koh, Ladeur, Luhmann, Teubner, Weber), rechtsgeschichtlich (Postkolonialismus, Fögen), rechtsökonomisch (Calabresi, Coase, Posner) oder rechtspsychologisch (Freud, Lacan, Legendre) geprägt.
Die sogenannten postmodernen Theorien mit ihrer Radikalisierung der mit Ferdinand de Saussure und Ludwig Wittgenstein verbundenen linguistischen Wende bilden einen wichtigen Teil dieser neuen Rechtstheorien[5]. Das Buch beschränkt sich allerdings nicht exklusiv auf die Theorien der Postmoderne, sondern wählt einen breiteren Zugang, indem daneben auch solche Theoriebildungen vorgestellt werden, die sich zum Teil unter expliziter Wendung gegen die Konzepte der Postmoderne den aktuellen Herausforderungen stellen.
Den an Theoriefragen Interessierten soll im Folgenden in erster Linie ein konziser und pointierter Einstieg in die heterogene Literatur aktueller Arbeiten über Grundfragen des Rechts geboten werden. Wer einen Überblick über diese Theoriearbeiten gewinnen will, ist bislang darauf angewiesen, die rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Zeitschriften zu durchsuchen. Vielfach finden Diskussion und Kritik außerhalb der juristischen Literaturlandschaft in philosophischen, soziologischen und psychologischen Zeitschriften statt. Einige der postmodernen Theorien sind dabei fast ausschließlich über französisch- bzw. englischsprachige Zeitschriften zugänglich; mit anderen Worten; ein Teil der maßgeblichen Wissenschaftsdiskurse wird außerhalb des deutschen Sprachraums geführt. Ziel der Beiträge dieses Bandes ist darum, mit dem Stand dieser Diskussionen vertraut zu machen, einen Zugang zu Primär- und Sekundärquellen der jeweiligen Arbeiten zu eröffnen, für die aktuellen Fragestellungen der (post)modernen Theorien zu interessieren und zum kritischen Umgang mit ihren Rechtskonzeptionen einzuladen.
|3|A. Theorie im Recht
Die Auswahl der Beiträge für diesen Band folgt nicht der traditionellen Einteilung in Rechtsphilosophie, Rechtsmethodik und Rechtstheorie. Die Konzepte der vorgestellten Theorieströmungen und Referenzautor*innen passen nicht in die üblichen Schemata. Ihre Analysen haben ein Recht zum Ausgangspunkt, das in gesellschaftliche Verhältnisse verwoben ist und dessen Strukturen sich in ständiger Wechselbeziehung zu seinen sozialen Umwelten entwickeln, stabilisieren und rekonfigurieren.
Die Produktion von Theorie im Recht ist der rechtlichen Dynamik nachgeordnet, aber doch unverzichtbar. Denn um seine Selbstreproduktion gewährleisten zu können, braucht Recht Kontakt zu seinem gesellschaftlichen Außen und muss darüber hinaus seine eigenen Umweltbeziehungen, Funktionsbedingungen, Leistungsmöglichkeiten und Grenzen reflektieren. Das verkürzte Wissenschaftsverständnis, das in den letzten Jahrzehnten in der Rechtsdogmatik vorherrschte, hat sich hingegen beharrlich an den Konjunkturen des Tagesgeschäfts und der Rechtsprechung orientiert. Eine solche Reduktion ersetzt Theorie durch »Praxisrelevanz« – ein Zustand, der zunehmend als unbefriedigend empfunden wird. Die Forderung, dass der Zugriff des Rechts auf die gesellschaftliche »Wirklichkeit« nicht länger theoretisch ungefiltert sein dürfe, sondern rechtlich reflektiert werden müsse, wird lauter[6].
Während in den herkömmlichen Schemata die Rechtsphilosophie vor allem den Kontakt zur allgemeinen Philosophie als Erfinderin aller Einzelwissenschaften hält, liegt bei