Juristische Methodenlehre. Mike Wienbracke
– als ungerecht empfunden werden (z.B. §§ 218 ff. StGB).[23] Solange derartige Gesetze vom hierfür zuständigen Organ jedoch nicht geändert bzw. aufgehoben werden, bleiben sie grundsätzlich rechtsverbindlich;[24] schließlich kann im Ausgangspunkt „[j]eder beliebige Inhalt […] Recht sein.“[25] Eine hiervon abweichende Entscheidung aufgrund von Überlegungen der „Billigkeit“ wäre mit der Bindung der Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht zu vereinbaren.[26] Abweichendes gilt nur ganz ausnahmsweise dann, wenn „der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht hat, dass das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“[27] Diese sog. Radbruch'sche Formel wurde vom BVerfG in Bezug auf bestimmte Vorschriften des NS- und des DDR-Rechts angewandt.[28]
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Gesetze i.S.v. Art. 20 Abs. 3 GG sind
• | zum einen solche im formellen Sinn, d.h. Hoheitsakte, die von einem Parlament (z.B. Bundestag) in dem hierfür durch die jeweilige Verfassung vorgesehenen Verfahren (auf Bundesebene: Art. 76 ff. GG) als Gesetz erlassen wurden;[29] |
• | zum anderen solche im materiellen Sinn, d.h. Regelungen, die ein Träger hoheitlicher Gewalt für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen (abstrakt) und Personen (generell) erlassen hat und die Rechte oder Pflichten für den Bürger oder sonstige Rechtspersonen[30] begründen, ändern oder aufheben.[31] |
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Hinweis
Die maßgeblich an den jeweiligen Urheber (Parlament oder Exekutivorgan) anknüpfende Unterscheidung zwischen Gesetzen einerseits im formellen und andererseits im materiellen Sinn ist nicht zu verwechseln mit der Differenzierung zwischen dem Prozessrecht (geregelt z.B. in der StPO, VwGO, ZPO) und dem sachlichen Recht, innerhalb dessen sich weiter zwischen dem sog. formellen Recht (= Vorschriften über die Zuständigkeit, das Verfahren und die Form von Rechtsakten wie z.B. Gesetzen, siehe z.B. Art. 70 ff., 76 ff., 82 GG) und dem sog. materiellen Recht (= Vorschriften, welche die Entstehung, die Veränderung und den Untergang von Rechten und Pflichten regeln) unterscheiden lässt.[32]
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Die meisten Gesetze im formellen Sinn (z.B. BGB, StGB, VwVfG) sind zugleich auch solche im materiellen Sinn (vgl. z.B. § 433 Abs. 1 BGB, § 242 Abs. 1 StGB, § 28 Abs. 1 VwVfG).[33] Demgegenüber handelt es sich etwa bei Haushaltsgesetzen, durch welche der jeweilige Haushaltsplan festgestellt wird (siehe z.B. Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG), lediglich im formellen Sinn um Gesetze, nicht aber auch im materiellen Sinn.[34] Denn durch den Haushaltsplan wird gem. § 3 BHO allein die Verwaltung vom Gesetzgeber ermächtigt, Ausgaben zu leisten und Verpflichtungen einzugehen; Ansprüche oder Verbindlichkeiten werden hierdurch hingegen weder begründet noch aufgehoben. Umgekehrt sind Rechtsverordnungen[35] (vgl. Art. 80 GG, z.B. Straßenverkehrsordnung, StVO; Rn. 40 f.) und Satzungen (z.B. Bebauungsplan, siehe § 10 Abs. 1 BauGB; Rn. 42 f.), die jeweils nicht von einem Parlament, sondern von der Exekutive erlassen werden, Gesetze nur im materiellen Sinn.[36]
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Zusätzlich zu den vorgenannten Gesetzen auf nationaler Ebene existieren noch folgende weitere Rechtsquellen:[37]
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• | Völkerrecht Quellen des Völkerrechts (ius gentium), das die Rechtsbeziehungen zwischen souveränen Staaten und sonstigen Völkerrechtssubjekten regelt,[38] sind nach Art. 38 Abs. 1 lit. a) – c) des Statuts des Internationalen Gerichtshofs (IGH) „internationale Übereinkünfte“, das „internationale Gewohnheitsrecht“ sowie „die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“. Als „Hilfsmittel“ zur Feststellung dieser Völkerrechtsnormen, d.h. als bloße „Rechtserkenntnisquellen“[39], dienen nach Art. 38 Abs. 1 lit. d) des IGH-Statuts „richterliche Entscheidungen und die Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen“. Unmittelbare Geltung innerhalb der deutschen Rechtsordnung entfalten nach Art. 25 GG allerdings nur die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“, d.h. das Völkergewohnheitsrecht (z.B. Staatenimmunität, vgl. § 20 GVG) und die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts (z.B. Prinzip von Treu und Glauben), nicht dagegen völkerrechtliche Verträge (z.B. Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, sog. DBA).[40] Zur Wirksamkeit im Verhältnis Staat-Bürger bedürfen Letztere vielmehr eines innerstaatlichen Umsetzungsaktes (sog. Transformationsgesetz), vgl. Art. 59 Abs. 2 GG;[41] |
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• | EU-Recht Rechtsquellen des europäischen Unionsrechts sind zum einen das sog. EU-Primärrecht, d.h. der EUV und der AEUV (gem. Art. 48 f. EUV einschließlich nachfolgender Änderungen und Beitrittsverträge sowie inkl. Protokolle und Anhänge, siehe Art. 51 EUV), die EU-Grundrechtecharta (vgl. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV) und die (ungeschriebenen) „allgemeinen Rechtsgrundsätze[…], die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“, Art. 340 Abs. 2 AEUV. Zum anderen sind nach Art. 288 Abs. 2 bis 4 AEUV die von den EU-Organen erlassenen Verordnungen[42] (engl.: regulations), Richtlinien (engl.: directives) und Beschlüsse (vormals: Entscheidungen), das sog. EU-Sekundärrecht[43], jeweils rechtlich verbindlich (nicht dagegen: Empfehlungen und Stellungnahmen, siehe Art. 288 Abs. 5 AEUV) – ebenso wie ferner noch die von der EU abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge, vgl. Art. 216 Abs. 2 AEUV. Allerdings sind nicht alle dieser europarechtlichen Vorschriften auch im Einzelfall unmittelbar anwendbar (so z.B. müssen Richtlinien – im Gegensatz etwa zu den nach Art. 288 Abs. 2 S. 2 AEUV unmittelbar verbindlichen Verordnungen – erst noch von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden, vgl. Art. 288 Abs. 3 AEUV[44]); |
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Neben dem positivierten Recht zählt auch das ungeschriebene – und damit stets nur im materiellen Sinn als „Gesetz“ zu qualifizierende – abstrakt-generelle[45] Gewohnheitsrecht zu den anerkannten Rechtsquellen (z.B. die Regeln betreffend das Schweigen auf ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben, vgl. § 346 HGB und allgemein § 293 ZPO).[46]
„Gewohnheitsrecht entsteht durch längere[47] tatsächliche Übung, die eine dauernde und ständige, gleichmäßige und allgemeine ist [sog. longa consuetudo] und von den Beteiligten als verbindliche Rechtsnorm anerkannt wird [sog. opinio iuris].“[48]
Beispiel[49]
A ist Eigentümer von drei nebeneinander an einer öffentlichen Straße liegender und mit drei aneinandergrenzenden Häusern bebauter Grundstücke in NRW. In deren rückwärtigem Teil befinden sich Garagen. B ist Eigentümerin von Grundstücken, auf denen ein Weg verläuft, über den A die Garagen erreicht. Während diese Wegenutzung seit Jahrzehnten durch frühere Eigentümer und zunächst auch durch B geduldet wurde, hat dieser nunmehr gegenüber A die „Kündigung des Leihvertrages über das zu dessen Gunsten vor über 30 Jahren bestellte, schuldrechtliche Wegerecht“ erklärt. Zudem kündigte B an, den Weg alsbald zu sperren. Unter Berufung auf ein zu seinen Gunsten bestehendes, gewohnheitsrechtliches Wegerecht verlangt A von B, die Sperrung des Weges zu unterlassen. Mit Erfolg?
Nein. Im Verhältnis zwischen einzelnen Grundstücksnachbarn kann ein gewohnheitsrechtliches Wegerecht