Grundrechte. Daniela Schroeder
So verfährt auch das Bundesverfassungsgericht . Obwohl Sie den Schutzbereich hierbei bereits vom Eingriff her bestimmen, ist ein solcher Ansatz gerade für die Fallbearbeitung praktikabel.
b) Relevante Fallkonstellationen
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Im zweiten Schritt gehen Sie der Frage nach, ob die so bestimmte Menschenwürde in Ihrer Fallbearbeitung relevant ist. Die Menschenwürde kann in vielen Konstellationen relevant werden. Hierzu gehören z.B. folgende aktuelle Fälle:[11]
• | Verletzung der körperlichen Identität oder Integrität |
Beispiele
Sog. Gefahrenabwendungsfolter: Um das Versteck einer entführten Geisel, die die Polizei noch am Leben glaubt, zu erfahren, soll der mutmaßliche Entführer unter Gewaltandrohung dazu veranlasst werden, das Versteck der Geisel preiszugeben.[12] – Sog. „wrongful birth“ bzw. „wrongful life“ bzw. „Kind als Schaden“: Die Zivilgerichte bejahen eine Schadensersatzhaftung von Ärzten, die eine fehlgeschlagene Sterilisation oder eine fehlerhafte genetische Beratung vor der Zeugung eines Kindes zu verantworten haben, gegenüber den betroffenen Eltern für entstehende Unterhaltspflichten. Zwischen den beiden Senaten des Bundesverfassungsgerichts ist umstritten, ob die Haftung des Arztes gegen die Menschwürde verstößt.[13] – Heimliche Vaterschaftstests.[14]
• | Verletzung der geistig-seelischen Integrität |
Beispiel
Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe.[15]
• | fehlende Grundsicherung individuellen oder sozialen Lebens |
Beispiele
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums;[16] menschenwürdige Ausgestaltung des Strafvollzugs.[17]
• | Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts, das nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts allein über Art. 1 Abs. 1 GG geschützt wird.[18] Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts wird „der sittliche, personale und soziale Geltungswert, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben hat“, durch das postmortale Persönlichkeitsrecht gegen Äußerungen, die darauf gerichtet sind, die betroffene Person herabzusetzen bzw. verächtlich zu machen, geschützt.[19] |
• | Beeinträchtigung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung |
Beispiele
Online-Durchsuchung[20]; Anordnung einer Betreuung.[21]
• | sonstige Fallkonstellationen |
Beispiele
Schockwerbung;[22] finaler Rettungsabschuss gemäß § 14 Abs. 3 LuftSiG, sofern es um unbeteiligte Personen (Besatzung oder Passagiere) geht;[23] Verständigungen im Strafverfahren.[24]
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Beachten Sie, dass der sachliche Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG nur dann eröffnet ist, wenn die Menschenwürde in erheblicher Weise durch eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt berührt wird. Die Menschenwürde ist dementsprechend nicht tangiert, wenn es z.B. um die Zahlung einer Geldbuße im Ordnungswidrigkeitenverfahren,[25] die Leichenöffnung im Ermittlungsverfahren[26] oder den Friedhofszwang für Urnen[27] geht.
2. Persönlicher Schutzbereich
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Nach seinem Wortlaut handelt es sich bei der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG um ein Jedermann-Grundrecht. Grundrechtsberechtigt ist daher jede natürliche Person. Unerheblich ist, ob sich der Träger seiner Würde bewusst ist oder sie selbst zu wahren weiß.[28] Geschützt sind auch der Nasciturus (werdendes Leben) und über das postmortale Persönlichkeitsrecht auch Verstorbene.
3. Teil Freiheitsrechte › A. Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) › III. Eingriff in den Schutzbereich
III. Eingriff in den Schutzbereich
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Ist der Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG eröffnet, prüfen Sie das Vorliegen eines Eingriffs in den Schutzbereich.
JURIQ-Klausurtipp
Hierzu werden Sie nicht viel sagen können und müssen, weil Sie dies bei der Anwendung eines Ansatzes, der die Objektformel (mit-)enthält, im Grunde bereits in dem Prüfungspunkt zuvor geprüft und bejaht haben.
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Gegenüber den sonstigen Abwehrrechten weist die Menschenwürde aber eine Besonderheit auf, die mit ihrer herausragenden Stellung als oberster Wert des Grundgesetzes zusammenhängt (vgl. oben Rn. 171). Diese Besonderheit besteht darin, dass die Menschenwürde nicht durch eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt beeinträchtigt werden darf. Die Menschenwürde gilt absolut. Daher sind Eingriffe in den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG stets unzulässig.[29]
JURIQ-Klausurtipp
Für die Fallbearbeitung bedeutet dies, dass Sie an dieser Stelle mit Ihrer Grundrechtsprüfung bereits am Ende angelangt sind. Bejahen Sie die Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 1 Abs. 1 GG, liegt zwangsläufig ein Eingriff in den Schutzbereich vor. Dieser ist stets unzulässig.
Denken Sie gleichwohl auch bei Art. 1 Abs. 1 GG stets daran, terminologisch zwischen einem Eingriff in den Schutzbereich der Menschenwürde und deren Verletzung zu unterscheiden (s.o. Rn. 118)!
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Die Absolutheit der Menschenwürde hat zwei Konsequenzen: Zum einen steht sie – jedenfalls nach Ansicht der Rechtsprechung[30] – nicht zur Disposition des Grundrechtsberechtigten.[31]
Beispiel
Beim sog. Zwergenweitwurf (oben Rn. 44) ist es daher unerheblich, dass der kleinwüchsige Artist damit einverstanden ist, wie ein Wurfgerät behandelt zu werden.
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Zum anderen besteht sie ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs.[32] Art. 1 Abs. 1 GG unterliegt nach seinem Wortlaut („unantastbar“) keinen Schranken. Dies gilt nicht nur für geschriebene Schranken, sondern auch für kollidierendes Verfassungsrecht.[33]
Anmerkungen
Vgl. BVerfGE 5, 85.
Vgl. BVerfGE 35, 202 – Lebach.