Handbuch des Strafrechts. Manuel Ladiges
in einer Reihe aufeinander abgestimmter, schrittweise folgender Teilgesetze zu verwirklichen“[37]. Eine umfassende Reform des Strafverfahrensrechts wurde „als dringendes rechtspolitisches Anliegen“[38] empfunden und das Reformbedürfnis im Wesentlichen wie folgt begründet:
„– | Trotz mannigfacher Änderungen, die die Strafprozeßordnung seit ihrer Schaffung im Jahre 1877 erfahren hat, ist ihre Grundkonzeption in wesentlichen Teilen eine solche des vorigen Jahrhunderts. Ein Gesetz dieses Alters bedarf selbst dann, wenn es sich in der Praxis bewährt hat, einer umfassenden Überprüfung, um es von überflüssig gewordenem Ballast zu befreien und seine Regelungen den veränderten Umständen und Bedingungen anzupassen. |
– | Der soziale Rechtsstaat des Grundgesetzes hat einem neuen Verständnis von der Stellung des Einzelnen und der Gemeinschaft zum Durchbruch verholfen. Über die verfassungskonforme Auslegung und die Einzelanpassung hinaus muß ein Gesetz, das in so starkem Maße wie die Strafprozeßordnung angewandtes Verfassungsrecht ist, einer Totalrevision unterzogen werden, welche die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen berücksichtigt. |
– | Die in wesentlichen Teilen abgeschlossene Strafrechtsreform hat in vieler Hinsicht die Aufgabe des materiellen Strafrechts und den Zweck der Strafe neu bestimmt. Aus dieser neuen Strafrechtsauffassung, die den Menschen und die Bemühung um seine Wiedereingliederung in den Mittelpunkt stellt, gewinnt auch das Strafverfahrensrecht Impulse für eine Neugestaltung. |
– | In den fast einhundert Jahren seit dem Bestehen der Strafprozeßordnung haben sich Ursachen und Erscheinungsformen der Kriminalität gewandelt. Neue Typen von Straftaten haben sich gebildet; solche, die bei der Schaffung der Strafprozeßordnung im Vordergrund standen, haben erheblich an Bedeutung verloren. Hieraus ergeben sich neuartige Anforderungen an das Instrumentarium, das die Strafprozeßordnung zur Bekämpfung der Kriminalität zur Verfügung stellen muß.“[39] |
Außerdem gebe es neue Erkenntnisse über die Aussagekraft der Beweismittel und über Fehlerquellen sowie neue technische Möglichkeiten, die nur bei einer umfassenden Reform berücksichtigt werden könnten. Auch hätten Rechtsprechung und Prozessrechtswissenschaft die dogmatischen Grundlagen der StPO verfeinert und seien zu neuen Erkenntnissen gelangt, die der Gesetzgeber berücksichtigen müsse.
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Zur Vorbereitung der Reform wurde 1970 eine Arbeitsgruppe „Strafverfahrensreform“ aus Vertretern des Bundesministeriums der Justiz und aller Landesjustizverwaltungen gebildet, mehrere Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg eingeholt und rechtstatsächliche Untersuchungen eingeleitet. Von den folgenden fünf umfangreichen Novellen – 1. StVRG, 1. StVRGErgG, StVÄG 1979, OpferschutzG und StVÄG 1987 – fußt allerdings nur die erste (und der Entwurf eines 2. StVRG) maßgeblich auf dem Gedanken der Gesamtreform. Rieß stuft sie daher im Rückblick zu Recht nicht als Beginn einer Gesamtreform, sondern als bedeutsame „Einzelnovelle“[40] ein.
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Daneben sind einige ebenfalls umfangreiche amtliche Entwürfe vorgelegt worden, die nicht Gesetz geworden, teilweise nicht einmal in das Gesetzgebungsverfahren gelangt sind wie der Referentenentwurf eines 1. Justizreformgesetzes (Gesetz zur Neugliederung der ordentlichen Gerichtsbarkeit) von 1971, der einen dreistufigen Gerichtsaufbau vorsah;[41] der Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen (DE-Rechtsmittelgesetz) von 1975,[42] der die Urteilsrüge als einheitliches Rechtsmittel vorsah; sowie ein Referentenentwurf zur Neuordnung des Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Zwangsmaßnahmen von 1981[43].
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Mit drei zum 1. Januar 1975 in Kraft getretenen Gesetzen, dem EGStGB 1974, dem 1. StVRG und dem 1. StVRGErgG wurden StPO und GVG in bisher nicht gekanntem Ausmaß geändert.[44] Das EGStGB vom 2. März 1974[45] schloss nicht nur die Reform des materiellen Strafrechts, namentlich des Allgemeinen Teils, vorerst ab, sondern enthielt auch eine Reihe strafprozessualer Änderungen, deren bedeutsamste wohl die Einführung der Einstellung gegen Auflagen und Weisungen in § 153a StPO als neue Sanktionsform ist. Eingeführt wurde ferner das vorläufige Berufsverbot in § 132a StPO, neu geregelt wurden die Sicherungsbeschlagnahme in §§ 111b ff. StPO und das Sicherungsverfahren der §§ 413 ff. StPO. Gestrichen wurden das alte Abwesenheitsverfahren (§§ 277 bis 284 StPO a.F.), das alte Strafverfügungsverfahren (§ 413 a.F. StPO) und die Möglichkeit, Freiheitsstrafen durch Strafbefehl zu verhängen. Im neu geordneten Strafvollstreckungsrecht wurden die Strafvollstreckungskammern eingeführt (§§ 74a, 74b GVG).
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Das 1. StVRG vom 9. Dezember 1974[46] hatte hauptsächlich die Straffung und Beschleunigung des Strafverfahrens zum Ziel und sollte daneben die Verfahrensrechte des Beschuldigten stärken. Dafür wurden im Ermittlungsverfahren die Zuständigkeiten von Staatsanwaltschaft und Gericht neu abgegrenzt dergestalt, dass die Staatsanwaltschaft zur alleinigen Ermittlungsbehörde bestimmt wird und die richterliche Mitwirkung auf das verfassungsrechtlich nötige Maß und eine mehr kontrollierende Tätigkeit beschränkt wird. Abgeschafft wurde daher auch die in der Praxis ohnehin nur selten genutzte gerichtliche Voruntersuchung (§§ 178 bis 197 StPO a.F.), die als Relikt des Inquisitionsprozesses und Anzeichen des Misstrauens gegenüber dem damals neuen Amt des Staatsanwalts angesehen wurde. Weitere Ermittlungszuständigkeiten wurden auf den Staatsanwalt übertragen (§§ 87, 100, 110, 159 StPO) und dessen Tätigkeit durch die Erscheinens- und Aussagepflichten der §§ 161a, 163a StPO gestärkt; endgültig gestrichen wurde die durch das StPÄG 1964 eingeführte Schlussanhörung und das Schlussgehör. Die bisher nur periodisch tätigen neunköpfigen Schwurgerichte wurden beseitigt, an ihre Stelle traten unter Beibehaltung des irreführenden Namens ständige große Strafkammern. Das Recht der Wiederaufnahme wurde geändert (§§ 23, 364a, 364b, 367, 369, 464a StPO, § 140a GVG), um die Erfolgsaussichten zu verbessern.[47]
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Während die meisten der vorgenannten Änderungen unter dem Stichwort der Beschleunigung firmieren, sind andere als „Maßnahmen zur Verbesserung der Verbrechensbekämpfung“ ausgeflaggt, so die Regelungen über die Ausübung des Zeugnis- und Untersuchungsverweigerungsrechts bei verstandesunreifen Personen (§§ 52 Abs. 2, 81c Abs. 3 StPO), die Erweiterung des Katalogs des § 100a StPO und der verrufenen Örtlichkeiten in § 104 Abs. 2 StPO sowie der Sicherungshaftbefehl nach § 453c StPO bei drohendem Widerruf der Strafaussetzung.
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Von den zahlreichen weiteren Regelungen seien erwähnt die Lockerung des Vereidigungszwangs (§ 61 Nr. 5 StPO a.F.), die Protokollerfordernisse und Anwesenheitsrechte bei richterlichen Handlungen im Ermittlungsverfahren (§§ 168 ff. StPO), die auf 30 Tage erweiterte Unterbrechungsmöglichkeit der Hauptverhandlung (§§ 229, 268 StPO) in Großverfahren, erweiterte Verlesbarkeit von Sachverständigengutachten (§ 256 StPO), Wiederherstellung der durch das StPÄG 1964 aufgehobenen Beschränkung des Inhaltsprotokolls auf amtsgerichtliche Verfahren (§ 273 Abs. 2 StPO), Einführung der durch einen absoluten Revisionsgrund sanktionierten Frist für die Absetzung des schriftlichen Urteils (§§ 275, 338 Nr. 7 StPO), Erweiterung der Möglichkeit, die Berufung bei unentschuldigtem Ausbleiben des Verurteilten zu verwerfen (§§ 329, 330 StPO) sowie die Neuregelung der Nebenklage (§§ 377, 395 ff. StPO).
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Das Gesetz zur Ergänzung des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRGErgG) vom 20. Dezember 1974[48] beruht auf dem Entwurf zu einem 2. StVRG, der durch die als dringender angesehenen Bedürfnisse der Terrorismusbekämpfung überlagert wurde. In Reaktion auf Entscheidungen des BVerfG wurde bei Verweigerung des Eides aus Glaubens- oder Gewissensgründen die dem Eid gleichgestellte Bekräftigung der Wahrheit geschaffen (§§ 57, 65 StPO, § 155 StGB)[49] und der Ausschließung des Verteidigers eine gesetzliche Grundlage gegeben (§§ 138a bis 138d StPO)[50]. Die Mehrfachverteidigung