Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht. Peter Behrens
Binnenmarktes gelöst und die Inanspruchnahme dieser Kompetenz auch für andere Unionsziele ermöglicht. Die Union hat aber auch hier die weiter oben erörterte wirtschaftsverfassungsrechtliche Grundentscheidung der Unionsverträge zugunsten offener Märkte mit freiem Wettbewerb zu beachten. Sie verfügt zwar über ein gesetzgeberisches Ermessen, darf aber diese Grundentscheidung nicht durch Sekundärgesetzgebung unterlaufen, wobei auch die Korrektur von Marktversagen als marktkonform zu betrachten ist (siehe dazu Rn. 55 ff.).
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Die legislatorischen Instrumente, die der AEUV für die Sekundärgesetzgebung der Union zum Zweck der Rechtsangleichung bzw. Rechtvereinheitlichung bereit hält, sind die Richtlinie und die Verordnung (Art. 288 Abs. 2 und 3 AEUV). Richtlinien eignen sich vor allem für die Rechtsangleichung, dh für die Anpassung mitgliedstaatlicher Rechts- und Verwaltungsvorschriften an einen gemeinsamen Standard. Sie haben den Vorteil, dass sie durch innerstaatliche Gesetze in die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten transformiert werden können und müssen (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Dadurch lässt sich gewährleisten, dass die in einer Angleichungsrichtlinie geregelte Materie jeweils in den systematischen Zusammenhang einer mitgliedstaatlichen Kodifikation integriert werden kann und nicht davon isoliert bleibt. So lässt sich beispielsweise eine Richtlinienregelung betreffend die Vertretungsmacht der geschäftsführenden Organe von Kapitalgesellschaften mühelos in die mitgliedstaatlichen GmbH- bzw. Aktiengesetze einfügen.[92] Der Preis der Rechtsangleichung durch Richtlinie ist die aus der Verbindlichkeit nur ihres Regelungsziels und nicht ihres Wortlauts folgende Unterschiedlichkeit mitgliedstaatlicher Formulierungen in den jeweiligen nationalen Transformationsnormen. Verordnungen haben andererseits den Vorteil, dass sie in allen Mitgliedstaaten unmittelbar gelten (Art. 288 Abs. 2 AEUV). Ihre Bestimmungen haben also einen für die gesamte Union verbindlichen Wortlaut. Sie schaffen Einheitsrecht und nicht bloß angeglichenes mitgliedstaatliches Recht. Verordnungen stehen aber zwangsläufig außerhalb der mitgliedstaatlichen Regelungszusammenhänge, in die sie naturgemäß nicht integriert werden können. Das Ergebnis ist ein Pluralismus an Rechtsquellen, wobei allerdings Verordnungen die mitgliedstaatlichen Regelungen im Konfliktsfall verdrängen.
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Mit der Wahrnehmung der Rechtsangleichungskompetenz durch die Union verlieren die Mitgliedstaaten in gleichem Umfang die Kompetenz zur autonomen Rechtsetzung. Damit übernimmt die Union auch die Verantwortung für eine inhaltlich angemessene Regelung der anzugleichenden bzw. angeglichenen Rechtsmaterien. Es geht somit nicht um die bloß formale Beseitigung von Rechtsunterschieden, sondern zugleich um eine Optimierung rechtlicher Problemlösungen. Aus dem Funktionszusammenhang des Binnenmarkts folgt, dass davon insbesondere diejenigen Rechtsmaterien betroffen sind, die dem Schutz „zwingender Allgemeininteressen“ dienen, wie etwa Umweltschutz, Verbraucherschutz oder Gesundheitsschutz. Der Schutz dieser Rechtsgüter gehört zu den zentralen Aufgaben staatlicher Regulierung. Wenn diese Aufgabe in Zuge der Rechtsangleichung auf die Unionsebene verlagert wird, so muss die Union auch darum bemüht sein, eine dieser Aufgabe gerecht werdende Gesetzgebungspolitik zu entwickeln. Die Rechtsangleichung ist daher unvermeidlich ein Instrument der Union zur positiven Gestaltung der Rechtsetzung im Sinne der Unionsziele. Und Art. 114 Abs. 3 AEUV hebt ausdrücklich hervor, dass die Kommission bei ihren Regelungsvorschlägen in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz „von einem hohen Schutzniveau“ ausgehen und dabei insbesondere „alle auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützten neuen Entwicklungen“ berücksichtigen soll.
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Zur Überwindung der beschriebenen Unvollkommenheiten des Binnenmarkts bzw. von Wettbewerbsverzerrungen aufgrund nationaler Regelungsunterschiede ist nun nicht in allen Fällen erforderlich, dass alle Mitgliedstaaten gleichlautende rechtliche Vorschriften einführen oder die Union Einheitsrecht setzt. Es kann häufig genügen, dass die Mitgliedstaaten die Einhaltung ihrer jeweils unterschiedlichen Vorschriften im Sinne des jeweiligen Regelungszwecks als gleichwertig anerkennen (Anerkennungsprinzip). Ein Beispiel ist die gegenseitige Anerkennung von Befähigungsnachweisen, die für den Zugang zu bestimmten beruflichen Tätigkeiten erforderlich sind (Art. 53 AEUV).[93] Es ist ferner üblich geworden, dass die Union in bestimmten Bereichen nur Mindestvorschriften einführt, die es den Mitgliedstaaten erlauben, im Sinne des jeweiligen Regelungsziels weitergehende Regelungen zu treffen.[94] Ein Beispiel hierfür ist die Regelung des Mindestkapitals von Aktiengesellschaften in Höhe von 25.000 Euro.[95]
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Bezogen auf den Funktionszusammenhang der Rechtsangleichung bzw. -vereinheitlichung mit dem Binnenmarkt hat die Union inzwischen einen umfangreichen Katalog sekundärrechtlicher Rechtsakte (Richtlinien und Verordnungen) aufzuweisen:
– | Im Bereich der Warenverkehrsfreiheit steht vor allem die Abschaffung von Einfuhrbeschränkungen im Vordergrund (instruktiv insoweit immer noch die Richtlinie 70/50/EWG über die Beseitigung von Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen).[96] Dabei geht es nicht mehr nur um die Aufhebung hinderlicher Grenzkontrollen, sondern um die Angleichung von technischen Spezifikationen (bezüglich Form, Größe, Gewicht, Zusammensetzung, Aufmachung, Etikettierung und Verpackung) oder von Produktstandards, die dem Gesundheitsschutz, Umweltschutz, Verbraucherschutz oder der technischen Sicherheit dienen. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Schutzstandards des Herkunftslands, dessen Anwendung allerdings eine entsprechende Gleichwertigkeitsprüfung voraussetzt. Zur Lösung der damit verbundenen komplexen Probleme hat die Union Verordnungen erlassen, die für effektive Verfahren zur Feststellung der gegenseitigen Anerkennungsfähigkeit von Produkten durch die nationalen Behörden sorgen.[97] Sie werden flankiert durch ein von der Kommission kontrolliertes System gegenseitiger Notifizierung neuer potentiell handelsbeschränkender Produktstandards, die insbesondere durch die Aktivitäten nationaler Normungsorganisationen (wie beispielsweise in Deutschland des DIN)[98] entstehen, sowie einen komplexen Mechanismus der Standardisierung auf europäischer Ebene im Rahmen des CEN (Comité Européen de Normalisation) bzw. des CENELEC (Comité Européen de Normalisation Electrotechnique). Dem Zweck der Marktöffnung dient schließlich auch die Angleichung bzw. Vereinheitlichung des öffentlichen Vergabewesens sowie die Harmonisierung und Koordinierung im Bereich der gewerblichen Schutzrechte. |
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Im Bereich der Dienstleistungsfreiheit geht es um die Harmonisierung wesentlicher Schutzstandards einschließlich der gegenseitigen Anerkennung aufsichtsrechtlicher Kontrollen etwa im Bereich der Finanz- und Versicherungsdienstleistungen (Verwirklichung des Herkunftslandprinzips) sowie um die Beseitigung administrativer Hindernisse für die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung (etwa in Gestalt von Genehmigungserfordernissen und Zulassungsvoraussetzungen). Im Hinblick auf mitgliedstaatliche Bestimmungen über die Aufnahme und die Ausübung von Dienstleistungstätigkeiten von besonderer Bedeutung ist die Dienstleistungsrichtlinie 2006/123/EG.[99] Sie schränkt die möglichen Rechtfertigungsgründe für die Anwendung von Regelungen des Bestimmungslandes über die Aufnahme oder Ausübung von Dienstleistungstätigkeiten auf Dienstleistungserbringer aus anderen Mitgliedstaaten drastisch ein (Art. 16 Abs. 1). Geltend gemacht werden können nicht mehr generell „zwingende Gründe des Allgemeinwohls“, sondern nur noch Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit sowie des Umweltschutzes. Ferner müssen die nationalen Regelungen den Grundsätzen der Nicht-Diskriminierung und der Verhältnismäßigkeit genügen. Bestimmte Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit sind gem. Art. 16 Abs. 2 überhaupt unzulässig, dh sie lassen sich auch durch die genannten Gründe nicht rechtfertigen. Ausnahmsweise sind jedoch im Einzelfall Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit von Dienstleistungen zulässig (Art. 18). Zahlreiche Dienstleistungsbereiche sind allerdings von der Richtlinienregelung ausgenommen (insoweit bleibt |