Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
die Staatsgewalt nicht mit einem Nachteil belastet zu werden, der nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung begründet ist“ (sogenannte Freiheit von ungesetzlichem Zwang).[519] Eine praktische Folge dieser Rechtsprechung liegt darin, dass zumindest eine staatliche Regelung, die den Einzelnen zu einem Tun oder Unterlassen verpflichtet, im Rahmen einer individuellen Anfechtungsklage auf ihre formelle und materielle Vereinbarkeit mit dem gesamten öffentlichen Recht zu überprüfen ist. Ansätze zu einer Verringerung des Schutzumfangs auf die Normen, die speziell dem Schutz der Freiheitssphäre des Adressaten zu dienen bestimmt sind,[520] haben sich bisher nicht durchzusetzen vermocht. Auf der Ebene der Klagebefugnis wirkt sich das dahingehend aus, dass die Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechts des Adressaten eines belastenden staatlichen Handelns immer möglich, die Klage also insoweit zulässig ist (sogenannte Adressatentheorie).[521]
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Auch der Rechtsschutz des Dritten, der ein eingreifendes staatliches Handeln begehrt oder sich gegen die Begünstigung eines anderen zur Wehr setzt, wird vielfach grundrechtlich determiniert. So ist etwa die partielle subjektiv-rechtliche „Aufladung“ von Normen des Bauplanungsrechts mit Hilfe des Topos des sogenannten Rücksichtnahmegebots[522] in der Sache nichts anderes als eine verfassungskonforme Auslegung des einfachen Rechts (norminterne Wirkung der Grundrechte). Bevor das BVerwG zu dem (vordergründig) einfachrechtlichen Drittschutzmodell des Rücksichtnahmegebots überging, leitete es den Rechtsschutz des Nachbarn des Bauherrn unmittelbar aus dem Grundrecht der Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 GG) her (normexterne Wirkung der Grundrechte). Hiervon hat es mittlerweile – mangels praktischen Bedürfnisses – weitgehend Abstand genommen; auch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG spielt in der baurechtlichen Drittschutzjudikatur keine große Rolle mehr.[523]
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Jenseits solcher bereichsspezifischen Dogmatiken zeigt sich die „Versubjektivierung“ des deutschen Öffentlichen Rechts daran, dass unter dem Grundgesetz jedermann, dessen Rechte, Rechtsgüter oder rechtlich geschützte Interessen konkret gefährdet oder gestört sind, ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Polizei- oder Ordnungsbehörden über ein Einschreiten (formelles subjektives öffentliches Recht), gegebenenfalls (Ermessensreduzierung auf Null, insbesondere im Lichte der Grundrechte) sogar auf behördliches Handeln (materielles subjektives öffentliches Recht) zusteht. Dieses subjektive Recht schließt auch ein Einschreiten der Behörde gegen einen anderen Grundrechtsträger ein.[524]
3. Kontrolldichte
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Auch auf den Prüfungsmaßstab der deutschen Verwaltungsgerichte hat Art. 19 Abs. 4 GG unmittelbare Wirkungen. Die Verfassung garantiert nicht nur, dass sich ein Gericht überhaupt mit dem Rechtsschutzbegehren befasst. Geboten ist vielmehr eine effektive Kontrolle, die sowohl die Ermittlung des normrelevanten Sachverhalts als auch die richtige Auslegung und Anwendung des sachverhaltsrelevanten Rechts umfasst.[525] Für das deutsche Recht ist daher eine hohe Kontrolldichte der Verwaltungsgerichte charakteristisch,[526] während in anderen Staaten, etwa Frankreich, die gerichtliche Kontrolle des Verwaltungshandelns auf bestimmte Rechtswidrigkeitsgründe beschränkt ist.[527]
a) Der Grundsatz der Identität von Handlungs- und Kontrollnorm und seine Ausnahmen
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Dass die gerichtliche Kontrolle die richtige Auslegung und Anwendung des sachverhaltsrelevanten Rechts umfasst, lässt sich auf die Formel der Identität von Handlungs- und Kontrollnorm bringen.[528] Wo das Gesetz ausnahmsweise von der Grundregel der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrollzuständigkeit abweicht und der Verwaltung selbst die Zuständigkeit für die „letztverbindliche“ Auslegung und Anwendung überträgt, spricht man von einer Beurteilungsermächtigung (Lehre der normativen Ermächtigung).[529]
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Vor dem Hintergrund von Art. 19 Abs. 4 GG muss es einen sachlichen Grund für die Ausnahme von der gerichtlichen Kontrollzuständigkeit geben, der etwa darin liegen kann, dass den Gerichten eine Kontrolle aus tatsächlichen Gründen nicht möglich ist (Funktionsgrenzen der Gerichtsbarkeit). Ausdrücklich enthält kaum ein Gesetz eine Beurteilungsermächtigung (vgl. aber exemplarisch § 10 Abs. 2 Satz 2 TKG). Behördliche Entscheidungsspielräume ergeben sich daher zumeist erst konkludent im Wege der Auslegung der einschlägigen Vorschrift (Einzelnormanalyse), in engen Grenzen auch aus funktionell-rechtlichen Erwägungen[530].
b) Unbestimmte Rechtsbegriffe
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Das geltende Verwaltungsrecht enthält zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe (z.B. Zuverlässigkeit, Gemeinwohl, wichtiger Grund, öffentliches Interesse usw.), deren Auslegung, Anwendung und damit auch Kontrolle mit grundsätzlichen Schwierigkeiten behaftet ist. Teils wird hieraus gefolgert, dass aus der Unbestimmtheit eine Einschätzungsprärogative der Verwaltung folge und die Ausfüllung des Rechtsbegriffs daher nur eingeschränkter gerichtlicher Kontrolle unterliege.[531] Ausgangspunkt dieser Auffassung ist, dass der Gesetzgeber die Verwaltung zu eigenverantwortlicher Entscheidung ermächtige, ihr also einen Beurteilungsspielraum übertrage, der unterschiedlich ausgefüllt werden könne, schon weil es aufgrund der Wertungsabhängigkeit und Unwiederholbarkeit der Entscheidungssituation aus normlogischen Gründen nicht nur eine richtige Lösung geben könne.
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Richtigerweise folgt jedoch allein aus der tatbestandlichen Unbestimmtheit einer Norm noch kein Beurteilungsspielraum und damit im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG auch keine Freistellung von gerichtlicher Kontrolle.[532] Die Rechtsprechung geht daher zutreffend davon aus, dass im Grundsatz eine Vollkontrolle erfolgt, hat aber ausnahmsweise im Wege der Kasuistik Beurteilungsspielräume anerkannt,[533] und zwar bei Prüfungsentscheidungen, beamtenrechtlichen Beurteilungen, Entscheidungen weisungsfreier sowie sachverständig besetzter Kollegialorgane, komplexen Prognoseentscheidungen und lediglich final programmierten verwaltungspolitischen Entscheidungen.[534]
c) Ermessen
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Bei Ermessensentscheidungen wird der Verwaltung auf der Rechtsfolgenseite die Möglichkeit eröffnet, zwischen verschiedenen Rechtsfolgen auszuwählen. Semantisch wird die Einräumung von Ermessen in der Regel durch die Andeutung verschiedener Handlungsoptionen verbalisiert („kann“, „darf“) und gegenüber gebundenen Entscheidungen („ist zu“, „muss“) abgesetzt. Sonderfälle bilden die Sollvorschriften sowie das intendierte Ermessen, bei dem das Gesetz zwar die grundsätzliche Handlungsrichtung vorgibt, hiervon aber Ermessensabweichungen für atypische Ausnahmefälle zulässt.[535] Im Einzelfall kann das Ermessen „auf Null“ reduziert sein und sich zu einer Handlungsverpflichtung verdichten, wenn entweder nur eine Entscheidung sachlich vertretbar ist oder grundrechtliche Einflüsse die verhältnismäßigen Entscheidungsoptionen einengen.
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Ermessen bedeutet nicht Entscheiden nach freiem Belieben. Vielmehr hat die Behörde ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 40 VwVfG). Hieraus haben Rechtsprechung und Lehre eine allgemeine Ermessensfehlerlehre entwickelt, die gleichermaßen die Grenzen des Ermessens und die Möglichkeiten gerichtlicher Kontrolle markiert (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).[536] Eine Ermessensüberschreitung liegt vor, wenn die Verwaltung eine gesetzlich nicht vorgesehene Rechtsfolge wählt. Eine Ermessensunterschreitung ist gegeben, wenn die Behörde vom eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch macht, etwa weil sie sich rechtsirrig zum (Nicht-)Handeln verpflichtet fühlt.[537] Ein Ermessensmissbrauch liegt – insoweit in Abweichung vom wesentlich verwaltungsfreundlicheren Unionsrecht[538] – bereits dann vor, wenn sich die Behörde nicht ausschließlich vom Zweck der Ermessensvorschrift