Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich
Typisches Charakteristikum schwerer Betäubungsmittelkriminalität ist das gebietsübergreifende Operieren von Rauschgiftverteilerringen, welche rechtliche Lücken und tatsächliche Defizite der jeweiligen Orte zu Profitzwecken planend einsetzen und sich zu eigen machen. Das Zerschlagen derartiger Vereinigungen und Banden erfordert die volle Bandbreite an strafprozessualem Instrumentarium, welches das Verfahrensrecht zur Verfügung stellt; von längerfristigen Observationen über TKÜ-Maßnahmen bis hin zum Einsatz verdeckter Ermittler. Zahlreiche, für sonstige Kriminalitätsfelder paradigmatische Entscheidungen zum Strafprozessrecht (etwa diejenige zur rechtsstaatswidrigen Tatprovokation[353] oder zu den Anforderungen an den Tatverdacht bei Hausdurchsuchungen[354]) ergingen im Kontext der Verwirklichung betäubungsmittelstrafrechtlicher Tatbestände. Und schließlich ergeben sich aus der Struktur der Betäubungsmitteldelikte Besonderheiten im Hinblick auf den prozessual zu ermittelnden Stoff (frühe Tatbestandsvollendung, zahlreiche Tathandlungen, mehrere Beteiligte ohne Haupttäter etc.); freilich würde aber eine umfassende Darstellung strafprozessualer Spezifika in „Giftsachen“ den vorliegenden Rahmen sprengen[355] und wäre auch im Übrigen wenig ergiebig, da die Phänomenologie eines Kriminalitätsgebiets die prozessualen Maßstäbe – etwa die Anforderungen, die an einen Tatverdacht bei Bagatelldelikten wie dem Erwerb von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum zu stellen sind – gänzlich unberührt lässt. Insofern wird im Folgenden auf eine lose Zusammenfassung strafprozessualer Leitlinien, die im Kontext des Betäubungsmittelrechts entstanden sind, verzichtet und stattdessen ausschließlich die, allein den Tatbeständen des Betäubungsmittelstrafrechts vorbehaltene, strafprozessuale Einstellungsvorschrift des § 31a BtMG skizziert.
II. Die besondere Einstellungsvorschrift des § 31a BtMG
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§ 31a Abs. 1 BtMG ergänzt die Einstellungsvorschriften der §§ 153 ff. StPO bzw. verdrängt diese sogar in bestimmten Fällen als lex specialis. Die Vorschrift lässt sich spätestens seit dem Cannabis-Beschluss des BVerfG (Rn. 107) als verfassungsrechtliche Krücke des Betäubungsmittelstrafrechts bezeichnen, da das BVerfG die Aufrechterhaltung des generellen Verbots des Umgangs mit kleineren Mengen zum „Eigenbedarf“ gerade mit der Möglichkeit begründet hat, das Verfahren bei Bagatellen einzustellen. Doch konnte die Vorschrift diese Funktion bis heute kaum zufriedenstellend erfüllen, was auf ihre Ausgestaltung als Opportunitätsvorschrift zurückgeht; so wird auf die Einstellung wegen geringer Mengen in der Praxis (in einigen Ländern fast) nur im Falle des Erwerbs und Besitzes von Cannabis zurückgegriffen, obwohl der Wortlaut sich keinesfalls auf diese Droge (oder „weiche“ Drogen) beschränkt, vielmehr auf eine Betäubungsmittel und einen großen Tathandlungskatalog (u.a. auch auf die Einfuhr und den Anbau) Bezug nimmt.
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Die Opportunität verhindert (anders als bei § 29 Abs. 5 BtMG)[356] auch eine Konkretisierung der einzelnen Merkmale im Wege der Rechtsfortbildung. Dies und der Umstand, dass es eine Frage der drogenpolitischen Einstellung im jeweiligen Bundesland einerseits, sowie justizieller Ressourcen andererseits ist, wie mit der Opportunität umgegangen wird,[357] mag zu dem bereits vom BVerfG monierten „Nord-Süd-Gefälle“ geführt haben, das sich bis heute noch in unterschiedlichen Einstellungspraktiken manifestiert. Hieran ändert eine Vereinheitlichung auf dem Papier, nämlich durch eine Angleichung der Gewichtsgrenzen nichts (6 g bei Cannabis in den meisten, aber nicht allen Bundesländern). Abweichungen können sich schließlich nicht nur in der Behandlung von Cannabiskonsum bzw. anderen Drogen (bzw. auch in unterschiedlichen Festlegungsmodellen; während in einigen Ländern das sog. Obergrenzenmodell präferiert wird, haben sich andere Länder für das Untergrenzenmodell[358] entschieden) ergeben, sondern manifestieren sich vor allem auch in der vollkommen divergierenden Behandlung von „Wiederholungstätern“.[359]
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Überwiegend gilt das Obergrenzenmodell,[360] wonach bis zur festgesetzten Menge von einer geringen Menge ausgegangen werden kann.
Land | Menge (Obergrenze) |
---|---|
Baden-Württemberg | 3 Konsumeinheiten, entspricht 0,045 g Wirkstoffmenge[361] |
Brandenburg | 3 Konsumeinheiten |
Bayern | 6 g Gewichtsmenge (!) |
Nordrhein-Westfalen | 10 g Gewichtsmenge |
Rheinland-Pfalz | 10 g Gewichtsmenge |
Schleswig-Holstein | 30 g Gewichtsmenge |
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Neben dem Umgang mit einer geringen Menge setzt § 31a BtMG im Übrigen eine geringe Schuld des Beschuldigten voraus (der Wortlaut ist unpräzise, entlarvend ist es für das Betäubungsmittelrecht jedenfalls, wenn § 31a BtMG vom „Täter“ spricht): angenommen wird dies insbesondere bei einer festgestellten Drogenabhängigkeit des Beschuldigten, wobei auch Mehrfachtäter nicht per se vom Anwendungsbereich des § 31a Abs. 1 S. 1 BtMG ausgeschlossen sind (ansonsten drohte eine Diskrepanz zu § 31a Abs. 1 S. 2 BtMG, der sich auf Abhängige bezieht, die in Drogenkonsumräumen illegale Drogen besitzen und keine Strafverfolgung in diesem Rahmen befürchten sollen[362]). Zudem darf kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bestehen, was regelmäßig durch das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des § 31a BtMG indiziert wird. Eigenständige Bedeutung hat dieser Passus nur, wenn die Handlung trotz geringen Schuldgehalts einen Öffentlichkeitsbezug aufweist (mittelbare Fremdgefährdung[363] durch Konsum an jedermann zugänglichen Örtlichkeiten, z.B. im Kindergarten, Krankenhaus oder in der Schule).[364] Zuletzt muss der Beschuldigte eine Eigenverbrauchsabsicht aufweisen, die nicht gegeben ist, wenn man sich das Betäubungsmittel mit Dritten teilen will; denkbar bleibt hingegen eine Einstellung, wenn die Drogen gemeinsam angekauft wurden, um einen günstigeren Preis zu erzielen.[365]
F. Internationales
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Die supranationalen Rechtsquellen des Betäubungsmittelrechts kamen bereits im Rahmen der Ausführungen zur Geschichte der Drogengesetzgebung zur Ansprache. In diesem Zusammenhang wurde darauf aufmerksam gemacht, dass dem europäischen Recht (trotz Existenz zahlreicher Maßnahmepakete) wenig bis gar keine Bedeutung zukommt: Die Staaten gehen drogenpolitisch ihre eigenen Wege, was das Beispiel des Umgangs mit neuen psychoaktiven Substanzen deutlich gemacht hat. Obwohl der kriminalpolitische Ursprung der Problematik im Europarecht lag (Arzneimittelbegriff, Rn. 43 ff.) und man auf europäischer Ebene umgehend dazu überging, an einer Richtlinie hinsichtlich des Umgangs mit neuen psychoaktiven Substanzen zu arbeiten (die Kommission legte unlängst einen Richtlinienentwurf vor, der insbesondere die Aufnahme bestimmter Stoffe, abhängig von Verbreitungsgrad und Toxizität, in einer Durchführungsverordnung vorsieht[366]), verabschiedete der deutsche Gesetzgeber sein eigenes Regelwerk, freilich mit der Bereitschaft, dieses Gesetz entsprechend anzupassen, wenn die Richtlinie erst einmal ihre Wirkung entfaltet.
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Man darf auch nicht aus den Augen verlieren, dass die supranationalen und europarechtlichen Maßnahmen (wie bspw. eine Richtlinie gemäß Art. 83 Abs. 1 AEUV) vornehmlich Mindestvorgaben hinsichtlich einer Regulierung beinhalten, während im Hinblick auf sonstige Maßnahmen allenfalls Empfehlungen gemacht werden können. So ähneln sich zahlreiche Drogengesetze auf der ganzen Welt und Europa in