Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich
Da der Kassenarzt gemäß § 76 Abs. 4 SGB V bei seiner Krankenbehandlung zur Einhaltung der Sorgfalt nach den Vorschriften des bürgerlichen Vertragsrechts verpflichtet ist, zusätzlich auch gemäß § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V die Qualität kassenärztlicher Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Kenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen hat, und nicht zuletzt gemäß § 70 Abs. 1 S. 1 SGB V die Leistungserbringer (Ärzte) eine dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten haben, besteht gar kein – ggf. zu Lasten des Arztes zu lösendes – Spannungsverhältnis zwischen dem Sozial- und dem Haftungsrecht:[311] Der aus dem medizinischen Standard abgeleitete Sorgfaltsmaßstab der Fahrlässigkeit bildet die Grenze des Wirtschaftlichkeitsgebotes, nicht umgekehrt.[312] Da der an die medizinische Wissenschaft und Praxis anknüpfende, aber eben juristisch zu fixierende Sorgfaltsmaßstab dem Rechtsgüterschutz des Patienten verpflichtet ist, verbietet sich ein Unterschreiten des jeweils anzuwendenden („Behandlungskorridor“) medizinischen Behandlungsstandards aus Kostengründen.[313] Ob der Rechtsanwender zukünftig dem ärztlichen Standard die Gefolgschaft zu versagen hätte, sofern Behandlungseinschränkungen aus Kostengründen in die ärztliche Selbstdefinition dieses Standards Eingang fänden (etwa in Form sog. kostensensibler Leitlinien[314]), erscheint nur für den Fall vorgezeichnet,[315] dass bestimmte Behandlungen ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen – ggf. noch unter Heranziehung verfassungsrechtlich höchst zweifelhafter Kriterien wie etwa dem des Lebensalters[316] – abgelehnt werden sollten. Da aber die Ärzte „der Gesundheit des einzelnen Menschen und der Bevölkerung (dienen)“ – so der in die, die Ausübung des Arztberufs regelnden, Berufsordnungen der Länder übernommene § 1 Abs. 1 der ärztlichen Muster-Berufsordnung 2006[317] – wird weiter zu ergründen sein, ob – ähnlich der nur eingeschränkt überprüfbaren ärztlichen Indikation – entsprechende, von der medizinischen Profession entwickelte Vorgaben einer Berücksichtigung wirtschaftlicher Belange jedenfalls dann vom Recht zu akzeptieren sind, wenn sie die Behandlungsentscheidung letztlich einer primär am Wohle des Patienten ausgerichteten ärztlichen Gesamtabwägung überlassen.[318]
g) Fehlende Finanzierung bei SGB-Ausschluss einer Maßnahme
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Werden hingegen bestimmte Behandlungsformen von der sozialversicherungsrechtlichen Erstattung ausgenommen, so wird dies für den Haftungsmaßstab bedeutsam. Da nämlich gemäß § 92 Abs. 1 SGB V entsprechende Richtlinien[319] bzw. ein fehlendes Positiv-Attest gemäß § 135 Abs. 1 S. 1 SGB V[320] des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen den sozialgesetzlichen Leistungskatalog verbindlich konkretisieren und damit das der Behandlung zugrunde liegende vertragliche[321] Arzt-Patienten-Verhältnis gestalten,[322] besteht keine entsprechende Behandlungspflicht des Arztes.[323] Zwar werden weder der zivil- noch der strafrechtliche Haftungsstandard durch den sozialversicherungsrechtlichen Leistungskatalog abgesenkt.[324] Dies verbietet der hohe Rang der beim Patienten auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter (Leben, Körper und Gesundheit).[325] Da es nicht Aufgabe des Arztes sein kann, die finanziellen Ungleichheiten einer (insoweit!) Zwei-Klassen-Medizin auszugleichen, kann vom behandelnden Arzt eine unentgeltliche Durchführung von Behandlungsmaßnahmen, die rechtswirksam aus dem sozialgesetzlichen Leistungskatalog ausgegrenzt worden sind, nicht verlangt werden kann.[326] Die Fahrlässigkeitsverantwortung des Strafrechts kann schwerlich eine Privatperson zur kostenfreien Vornahme einer „Sozialleistung“ verpflichten, welche die Gesellschaft als solche sich nicht (mehr) leisten will.[327] Dies gilt wohl auch für Behandlungsmaßnahmen außerhalb des medizinischen Standards bei austherapierten Schwer-Erkrankten, da § 2 Abs. 1a SGB V[328] für derartige Fälle lediglich einen gegen die GKV gerichteten Anspruch des Patienten auf Kostenübernahme, aber keine kassenärztliche Verpflichtung zur Anwendung einer (jedenfalls noch[329]) nicht dem medizinischen Standard entsprechenden Behandlung statuiert.[330] Somit verbleibt nur[331] der nachfolgend skizzierte Ausweg, der im Anschluss an Dannecker/Streng[332] sowie Bohmeier/Schmitz-Luhn/Streng[333] zwischen einer Behandlungsverweigerung und einer standardunterschreitenden Behandlung differenziert.[334]
aa) Keine Behandlungsübernahme
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Sofern durch die bereits erwähnten Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses bestimmte Therapieformen ausgeschlossen sind, so hat dies – jedenfalls vor Übernahme der Behandlung[335] – durchaus Auswirkung auf eine entsprechende Behandlungspflicht des niedergelassenen Arztes.[336] Da von ihm eine unentgeltliche Durchführung von Behandlungsmaßnahmen, die rechtswirksam aus dem sozialgesetzlichen Leistungskatalog ausgegrenzt worden sind, nicht verlangt werden kann, besteht für ihn keine entsprechende Behandlungspflicht.[337] Für die strafrechtliche Garantenstellung kommt es ja grundsätzlich weder auf die Niederlassung als sozialrechtlich behandlungspflichtiger Vertragsarzt[338] noch auf den – eventuell vor der Behandlungsübernahme liegenden[339] – Zeitpunkt des Abschlusses eines zivilrechtlichen Behandlungsvertrags an; auch eine diskriminierende Behandlungsablehung unter Verstoß gegen § 19 Abs. 2 AGG führt – von Notfällen (dann § 323c StGB) abgesehen – angesichts der für ihn zivilrechtlich bestehenden Vertragsabschlussfreiheit nicht zu einer Strafbarkeit des Arztes.[340] Entscheidend für die ärztliche Einstandspflicht als Garant[341] kraft faktischer Übernahme[342] ist vielmehr die tatsächliche Übernahme[343] der Behandlung (etwa durch den Untersuchungsbeginn[344]).[345] Dieses Zurückbleiben des Strafrechts hinter den Vorgaben des Sozialversicherungsrechts sowie des Zivilrechts ist angesichts des ultima-ratio-Gebots für den Einsatz des strafrechtlichen Instrumentariums auch legitim.[346]
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Bei einem im Krankenhaus tätigen Arzt ist zu berücksichtigen, dass seine Garantenstellung bereits aus seiner Einbindung in die Krankenhaus-Organisation als Einrichtung der Daseinsvorsorge[347] folgt: Da diese Einrichtung gegenüber den von ihr aufgenommenen Patienten die – zu delegierende – Verpflichtung zur Heilbehandlung übernommen hat, wächst dem dort tätigen Arzt infolge der internen Verantwortungsverteilung eine Garantenstellung für alle in seinem Zuständigkeitsbereich aufgenommenen Patienten zu.[348] Dies gilt zumindest dann, wenn er nach der Krankenhausorganisation zum Dienst eingeteilt ist.[349] Einer Übernahme der Behandlung durch ihn selbst bedarf es zur Pflichtenbegründung dann nicht. – Entsprechendes gilt für den Notarzt als Teil[350] des öffentlich-rechtlich organisierten Rettungsdienstes.
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Bei einem Bereitschaftsarzt ist hingegen mit Roxin[351] zu differenzieren: Nur bei Patienten, die bereits bei einem anderen Arzt in Behandlung sind, übernimmt er in deren Vertretung ihre Schutzfunktion, während in den übrigen Fällen für ihn keine Garantenstellung besteht, so dass nur Strafbarkeit nach § 323c StGB in Betracht kommt.
bb) Behandlungsbeendigung
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Hat ein Arzt hingegen mit der Behandlung des Patienten bereits begonnen, so besteht für ihn nur die Möglichkeit, diese Behandlung zu beenden. Seine zur weiteren Behandlung verpflichtende Garantenstellung erlischt nämlich, sofern er gegenüber dem Patienten erkennbar die weitere Behandlung verweigert: Da die ärztliche Garantenstellung auf dem Vertrauen des Patienten beruht, ab Behandlungsübernahme fachkundige ärztliche Hilfe zu erhalten (so dass er auf andere ärztliche Hilfe verzichten kann), ist dieses garantenpflichtbegründende Vertrauen von diesem Zeitpunkt an nicht mehr schutzwürdig.[352] Allerdings ist dem Arzt zum Schutze des ihm ursprünglich vertrauenden Patienten die Beendigung seiner Garantenstellung zur Unzeit verwehrt,[353] also insbesondere dann, wenn ein Notfall eintritt und der Patient gar keine Zeit mehr hätte, sich zur Abwendung von Lebensgefahren oder Gefahren erheblicher körperlicher Beeinträchtigungen (zu denen auch starke Schmerzzustände zu zählen wären), an einen anderen Arzt zu wenden.[354]
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Außerdem hat der Arzt seinen Patienten durch entsprechende