Handbuch des Strafrechts. Bernd Heinrich
nichts Unmögliches verlangen kann („impossibilium nulla obligatio est“). Anderenfalls würde die Rechtsordnung mit ihrer fehlenden Handlungsvorgabe den Handlungspflichtigen belasten und ihn dem Risiko einer Notwehrhandlung aussetzen.[1044] Der Verpflichtete muss deshalb eine Wahlmöglichkeit haben mit der Folge, dass seine Entscheidung, wie immer sie auch ausfällt, vom Recht akzeptiert wird.[1045] Anderenfalls würde jegliche Rettung blockiert sein, da der Erfüllung der einen Pflicht immer zugleich die Anweisung im Wege stünde, auch der anderen nachzukommen und umgekehrt.[1046] Verbrechenssystematisch (nicht allerdings für das Ergebnis) dürfte es allerdings folgerichtiger sein, die Rechtfertigungslösung überhaupt aufzugeben und die Kollision mehrerer Handlungspflichten als ein bereits dem Tatbestand zuzuordnendes Problem der Pflichtbegrenzung anzusehen.[1047]
174
Kollidieren Handlungspflichten, die vom betroffenen Rechtsgutsobjekt her als gleichwertig anzusehen sind[1048] (also Garantenpflichten gegenüber mehreren Patienten), so bestimmt sich deren ggf. im Einzelfall dann doch unterschiedliche Wertigkeit nach dem Grad der konkreten Schutzwürdigkeit der Rechtsgüter, auf deren Erhaltung sie sich richten. Hierbei kommt es – wie im Falle des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB)[1049] – nicht allein auf den abstrakten Stellenwert der Rechtsgüter an. Vielmehr können im Einzelfall noch weitere Umstände von Bedeutung sein, wie etwa die unterschiedliche Nähe der drohenden Gefahren (z.B. entfernte Lebensgefahr für einen Patienten, hingegen akute Gefahr eines schweren Gesundheitsschadens für einen anderen, der dann auch von Rechts wegen zuerst zu versorgen ist). Auch das Ausmaß der drohenden Verletzung bei gleichwertigen Rechtsgütern ist relevant mit der Konsequenz, dass die Pflicht, die auf die Beseitigung der größeren Gefahr gerichtet ist, Vorrang beansprucht.[1050] Keine Bedeutung hat dagegen das Verschulden eines der Betroffenen: Die nach den soeben genannten Kriterien legitimierte Behandlung eines von zwei zur Notfallversorgung eingelieferten Unfallbeteiligten ist nicht schon deshalb rechtswidrig, weil der Arzt dem zeitgleich eingelieferten Patienten hilft, der den Unfall verschuldet hat.[1051] Unerheblich[1052] sind auch (utilitaristische) Kriterien wie etwa die größere Erfolgsaussicht einer Maßnahme (sofern nicht wegen Aussichtslosigkeit die Behandlungspflicht ohnehin entfällt[1053]) und – angesichts der Gleichwertigkeit aller Lebenden, aus der ein Eigenschaftsbewertungsverbot resultiert[1054] – die Überlebensdauer, das Alter[1055] oder der soziale Status[1056] des Betroffenen, was auch bei Knappheit medizinischer Ressourcen gelten muss.[1057] Noch weitgehend ungeklärt ist allerdings, ob bei gleich schutzwürdigen Gütern die bereits begonnene Erfüllung der einen Pflicht deren Wert erhöht mit der Folge, dass sie den Vorrang hat. Hier spricht nicht zuletzt die Sicherung des Rechtsfriedens sowie die ohnehin nicht zu eskamotierende Schwierigkeit, den Grad der Schutzwürdigkeit der Rechtsgüter zu bestimmen, dafür, mit Rönnau[1058] darauf abzuheben, dass „wer (die Rettungschance) hat, der hat“: Wenn eine Auswahlentscheidung dringend zu treffen, hierbei aber keine materielle Verteilungsgerechtigkeit erreichbar ist, kommt dem Prioritätsprinzip als Instrument formaler Chancengleichheit zur Verwirklichung unparteiischer Verfahrensgerechtigkeit entscheidende Bedeutung zu.[1059] Somit wäre das – als bloßes Unterlassen der Fortsetzung einer Rettung zu bewertende – Beenden der Behandlung des einen Patienten, um einen zwischenzeitlich ebenfalls zur Versorgung anstehenden anderen Patienten mit höherer Lebensgefährdung zu behandeln, nicht gerechtfertigt,[1060] es sei denn, die Lebenserhaltung wäre bei dem in Behandlung befindlichen Patienten nur noch für einen sehr geringen Zeitraum möglich (sog. quantitative Sinnlosigkeit der Lebenserhaltung[1061]).[1062]
cc) Kollision ungleichartiger Pflichten
175
In dieser Konstellation ist hingegen auch die Art der Pflicht zu berücksichtigen.[1063] Von Bedeutung ist dies, wenn eine Garantenpflicht des Arztes mit einer schlichten Handlungspflicht konkurriert: Da der Garant speziell für die Unversehrtheit des einen Rechtsguts in besonderem Maß verantwortlich ist, muss dieses auch das bessere Recht auf Schutz haben, es sei denn, bei der anderen (Jedermanns-)Pflicht stünden ungleich wichtigere Interessen auf dem Spiel.[1064] Soweit mithin eine Garantenpflicht mit einer Hilfeleistungspflicht nach § 323c StGB zusammentrifft (bspw. könnte der zu seinem Patienten gerufene Arzt unterwegs bei einem Unfall einem Unfallbeteiligten die erforderliche Hilfe leisten), so ist zu beachten, dass die Pflicht des § 323c StGB von vornherein nicht entsteht,[1065] wenn der Täter „andere wichtige (nicht: wichtigere!) Pflichten“ zu erfüllen hat, weshalb es in diesem Fall gar nicht erst zu einer Pflichtenkollision kommt.[1066] Es kann hier auch dann keine Wahlmöglichkeit geben,[1067] wenn es um mehrere Menschenleben geht: In dem genannten Fall muss der Arzt, dieselbe Dringlichkeit vorausgesetzt, mangels einer Hilfspflicht i.S.d. § 323c StGB seinem Patienten helfen. Tut er dies nicht und versorgt stattdessen ein oder mehrere Unfallopfer, so kommt bezüglich der Nichterfüllung des Garantengebots allenfalls[1068] ein übergesetzlicher entschuldigender Notstand[1069] in Betracht.
dd) Zusammentreffen von Handlungspflicht und Unterlassungspflicht
176
Da das Institut der rechtfertigenden Pflichtenkollision auf ein Zusammentreffen zweier Handlungspflichten zu beschränken ist,[1070] fällt ein Zusammentreffen einer ärztlichen Handlungspflicht (bspw. zur Durchführung einer vital indizierten Operation) sowie einer Unterlassungspflicht (Unzulässigkeit[1071] einer Heilbehandlung infolge eines vom Patienten aktuell bzw. vorab in seiner Patientenverfügung erklärten Behandlungsvetos) von vornherein nicht in ihren Anwendungsbereich. Diese scheinbare Kollision miteinander unvereinbarer Gebote der Rechtsordnung unterliegt i.Ü. auch nicht den Regeln des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB),[1072] da es von vornherein an einer Kollisionslage (nicht anders abwendbare Gefahr) fehlt: Da eine gegen den Willen des Patienten vorgenommene Heilbehandlung gegen dessen grundrechtlich geschützten Freiheitsrechte (zumindest[1073] Art. 2 Abs. 2 GG sowie Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG sind einschlägig[1074]) verstößt, entfällt angesichts dieses Behandlungsverbots die ärztliche Behandlungspflicht. Dass in dieser Situation ein Verbot mit einem Gebot kollidiert, führt zu keinen weitergehenden Eingriffsrechten.[1075]
2. Schuldvorwurf
177
Ein Schuldvorwurf kann wie auch sonst bei Fahrlässigkeitsdelikten gegen den Arzt nur dann erhoben werden, wenn er nach seinen persönlichen Fähigkeiten in der für den Schuldvorwurf maßgeblichen Situation in der Lage war, die ihm obliegende Sorgfaltspflicht zu erkennen und zu erfüllen, sowie einen zur Tatbestandserfüllung gehörenden Erfolg vorauszusehen.[1076] Des Weiteren muss ihm ein normgerechtes Verhalten zumutbar gewesen sein.
a) Subjektive Pflichtwidrigkeit[1077]
178
Zur Wahrung des verfassungsrechtlich vorgegebenen Schuldprinzips[1078] ist – anders als im Zivilrecht mit seinem auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichteten rein objektivem Fahrlässigkeitsmaßstab[1079] – zur Beantwortung der Frage, ob der Täter die ihm obliegende Sorgfaltspflicht in vorwerfbarer Weise nicht beachtet hat, ein subjektiver Maßstab anzulegen. Dies bedeutet, dass der Täter nach seinen individuellen Fähigkeiten, Kräften, Erfahrungen und Kenntnissen in der kritischen Situation die sorgfaltswidrige Handlung und den Erfolg hätte vermeiden können. Als Umstände, die den Täter entlasten können, sind etwa intellektuelle oder körperliche Mängel, Altersabbau sowie mangelndes Erfahrungswissen anzusehen. Diese Subjektivierung des Maßstabes darf nicht dadurch unterlaufen werden, dass bei der Beurteilung der persönlichen Fähigkeiten von allgemeinen Erfahrungssätzen und damit im Regelfall vom Vorliegen einer Fahrlässigkeitsschuld ausgegangen wird, sofern gegenteilige Anhaltspunkte nicht ersichtlich sind.[1080] Würde man sich nämlich eine dem Beschuldigten an Lebensalter, Intelligenz und Kenntnissen vergleichbare Person vorstellen und sich fragen, ob dieser andere „nach unseren Erfahrungen fähig gewesen wäre, den Anforderungen an die … Sorgfalt zu