Wege zur Rechtsgeschichte: Das BGB. Hans-Peter Haferkamp

Wege zur Rechtsgeschichte: Das BGB - Hans-Peter Haferkamp


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Leitentscheidungen, die Jurastudenten heute so lernen, als seien sie gestern plötzlich alle gleichzeitig da gewesen, Geschichte. Vieles, was wir heute dem BGB zuschreiben, hatte da nie drinstehen sollen, war nie geplant gewesen. Der Wandel des BGB und seiner Interpretation reagierte meist nicht einfach auf die ewige Welt juristischer Dogmatik, sondern auf einen Wandel des Kontexts: Neue ökonomische, soziale, technische Probleme, neue politische Ziele, wissenschaftstheoretische Neuausrichtungen, aber auch schlicht andere Juristen veränderten das BGB-Recht. Juristische Dogmatik ist in diesem Sinne immer geschichtlich. Und diese Geschichte zu verstehen ist notwendig, wenn wir die Probleme verstehen wollen, die irgendeine juristische Aussage lösen will. Das kann bedeuten, dass wir Dinge mitschleppen, die eigentlich gar kein Problem mehr finden, das sie lösen sollen. Das kann bedeuten, dass juristische Aussagen scheinbar konstant sind, in Wahrheit aber durch den Wandel der Probleme, die sie lösen, auch ihren Inhalt verändert haben. Das Buch lebt also vom Glauben daran, dass man ein besserer Jurist ist, wenn man Gesetze, Dogmatik und richterliche Urteile auch als Ergebnis historischer Situationen versteht.

      Für das BGB stellt sich daher hier nicht nur die Frage, was es wollte, sondern auch, was daraus geworden ist. Wer hat das BGB wie und warum verändert? Das BGB galt im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, während des Nationalsozialismus, in der DDR bis 1976, und es gilt bis heute in der Bundesrepublik. Geht man davon aus, dass ein Gesetzbuch eine Gesellschaft steuert: Wie kann man ein solches Phänomen erklären? Das gleiche Gesetz regelt eine Monarchie, zwei Republiken, eine Diktatur „des Proletariats“ und eine Diktatur Adolf Hitlers? Das BGB wurde geändert, es wurde uminterpretiert, es wurde durch Spezialgesetze an den Rand gedrängt. Und doch ist es nie ganz abgeschafft worden. Was blieb von den Konzepten der Verfasser? Was lernen wir über das Verhältnis des Juristen zu seinem Text? Was können Gesetze und was können sie nicht? Der nachfolgende Text stellt also „große“ Fragen, ohne immer den Anspruch zu erheben, auch sichere Antworten zu liefern. Das Nachdenken darüber anregen will er aber schon.

      Die beschränkte Perspektive bitte ich mitzudenken. Das Buch ist, besonders in seinem Abschnitt zum 20. Jahrhundert, keine Privatrechtsgeschichte, sondern nur ein Teilausschnitt, der immer wieder nur danach fragt, welche Rolle das BGB in dieser Geschichte spielte. Neben dieser Leitfrage werden im Kapitel 3 drei präzisierende Perspektiven entwickelt. Es geht um „frei“ und „sozial“, „Wirklichkeit“ und „Wert“, Richterrecht und Gesetzesanwendung und zugleich um die drei hier akzentuierten Akteure: den Gesetzgeber, die Rechtswissenschaft und die Justiz. Das ist der gedankliche Rahmen, der meine Stoffauswahl bestimmt hat.

      Das Buch ist für Studierende und Nachwuchsforscher geschrieben und will daran gemessen werden. Das umfasst Zuspitzungen, Verkürzungen und klare Schwerpunktsetzungen. Es ist undenkbar, den gesamten inhaltlichen, dogmatischen und methodischen Wandel, den das BGB erlebt hat, abzubilden. Jedem Spezialisten wird etwas fehlen, viele hätten andere Schwerpunkte gesetzt, einige werden kleine Mängel aus ihren Spezialgebieten aufspießen und sich ärgern, dass sie nicht zitiert werden. Auch eine zu starke Betonung der Entwicklung dogmatischer Einzelfragen hätte die Linienführung zerstört. Meine Schwerpunkte folgen dem, was mich interessiert, was ich für didaktisch wertvoll halte und was ich fachlich beherrsche. Solch ein Buch ist ein persönliches Buch und kann als solches nie den Anspruch haben, allen zu gefallen. Es wurde seit 2003 in Vorlesungen, die ich an der Universität zu Köln halte, vorbereitet: Die Vorlesung „Historische und methodische Grundlagen des BGB“ für das Hauptstudium war der Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Daneben halte ich eine Schwerpunktbereichsvorlesung zur „Privatrechtsgeschichte im 20. Jahrhundert“. Für beide Vorlesungen habe ich nie ein taugliches Lehrbuch gefunden. Daher habe ich dieses geschrieben.

      Didaktisch werde ich es folgendermaßen nutzen: Im Buch steht die große Linie, die Vorlesung vertieft, greift heraus, problematisiert. Sie wird daher ein Stück weit von der Stoffvermittlung entlastet und kann das sein, was eine Vorlesung im Idealfall ist: ein Ort zum gemeinsamen Denken und Verstehen. Für die besonders Interessierten kann es so auch ein im juristischen Studium leider sehr seltenes Tor zur Wissenschaft sein. Literaturangaben laden daher zum Vertiefen ein. Hier wird bewusst kaum Ausbildungsliteratur verwendet, sondern anspruchsvolle Forschungsliteratur. Es soll auch ein Buch sein, das bis zu einer Promotion begleiten kann.

      Ein Hinweis zur Literaturverwendung: Lehrbücher können und sollten nicht komplett auf eigener Forschung beruhen. Durchweg habe ich mich bemüht, den aktuellen Forschungsstand zu einem Gesamtbild zu verweben. Sehr viele hier vorgestellte Deutungen beruhen daher auf fremden Forschungen. Es entspricht eigentlich wissenschaftlicher Redlichkeit, diese Übernahmen fremder Ergebnisse immer konkret auszuweisen. Dies in einem Lehrbuch zu tun, hätte es mit einem umfangreichen Fußnotenapparat belastet, der die Lesbarkeit für Studierende zu stark beeinträchtigt und das Buch nochmals deutlich dicker gemacht hätte. Ich habe mich daher dazu entschieden, die von mir verwendete Literatur im Anschluss an den Text jeweils en bloc anzuhängen. In Fußnoten nachgewiesen werden nur Zitate oder unverzichtbare Fundstellen. Kein von mir verwendeter Text bleibt jedenfalls unerwähnt.

      Literatur zum Einstieg: Wer sich mit der Geschichte des BGB beschäftigen will, sollte mit Überblicksartikeln beginnen. Ich empfehle, auch wegen der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung: Werner Schubert, Das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896, in: Herbert Hofmeister (Hg.), Kodifikation als Mittel der Politik, Wien u. a. 1986, S. 11 ff.; Tilman Repgen, Art. Bürgerliches Gesetzbuch, in: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte I, 2. Aufl. Berlin 2008, S. 752 ff.; Hans-Peter Haferkamp, Art. Bürgerliches Gesetzbuch, in: Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts I, Tübingen 2009, S. 229 ff. Für die Geschichte einzelner Paragraphen und dogmatischer Konzepte helfen der Historisch-kritische Kommentar zum BGB (HKK), momentan sechs Bände (AT, SchR-AT, SchR-BT, FamR), Tübingen 2003–2019 sowie Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, 2 Bde., München 1985, 1989. Daneben existiert eine Synopse, die es ermöglicht, die Veränderung des Textes des BGB im Untersuchungszeitraum auf einen Blick nachzuvollziehen: Tilman Repgen, Hans Schulte-Nölke u. Hans-Wolfgang Strätz (Hgg.), Staudinger. Kommentar zum BGB, BGB-Synopse 1896–2005, Berlin 2006. Eine moderne Privatrechtsgeschichte existiert momentan nicht. Für das Öffentliche Recht gibt es eine prägnante Zusammenfassung seines vierbändigen Hauptwerkes: Michael Stolleis, Öffentliches Recht in Deutschland. Eine Einführung in seine Geschichte 16.–21. Jahrhundert, München 2014. Viele Einzelfragen, insbesondere allgemeinhistorischer Art, klären sich über Lexika: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 2. Aufl. momentan 3 Bde., Berlin 2008 ff.; Enzyklopädie der Neuzeit, 16 Bde., Stuttgart 2005 ff. Ein Gebiet, das generell in diesem Buch mitschwingt, ist die juristische Methode. Hierzu empfehle ich als Arbeitsbuch: Joachim Rückert u. Ralf Seinecke, Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 3. Aufl. Baden-Baden 2017; unverzichtbar daneben Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933), 2 Bde., München 2021; eine gute Darstellung der historischen Perspektive für den heutigen Rechtsanwender gibt Oliver Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, in: Juristenzeitung 2019, S. 793 ff.

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