Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов
die europäische Ebene im Sinne einer Auffangverantwortung den Vollzug (z. B. durch eine Agentur) übernehmen können.[120] Aufbauend auf den geschilderten Leitprinzipien der Subsidiarität und der Solidarität würde in diesen Fällen die europäische Ebene, konkret die Kommission oder eine europäische Verwaltungsbehörde in Form einer Agentur, die Vollzugsaufgabe übernehmen. Mit Blick auf die Eingriffstiefe in die mitgliedstaatliche Souveränität kann ein solches Vorgehen freilich nur unter eng umgrenzten Voraussetzungen möglich sein:
- | Es muss um eine konkrete Gefahr für die Verwirklichung eines europäischen öffentlichen Guts gehen, das zu den Prioritäten der EU zählt bzw. dessen Erfüllung von zentraler Bedeutung für die Funktionsfähigkeit einer Politik ist. |
- | Es kann nur als ultima ratio, wenn also der Mitgliedstaat die europäische Unterstützung nicht annimmt oder diese nicht fruchtet, in Betracht kommen. |
- | Es muss zeitlich auf die Beseitigung der Gefahr für die Verwirklichung des europäischen öffentlichen Guts begrenzt sein. |
- | Es ist nur nach Zustimmung des Rates der EU, der insoweit allerdings nicht einstimmig, sondern mit qualifizierter Mehrheit entscheidet, möglich. |
b) Das wegweisende Beispiel der Europäischen Agentur für die Grenz-
und Küstenwache
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Modell gemeinsamer Verantwortung
Ein wegweisendes Modell schafft in diesem Zusammenhang die Verordnung über eine Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache.[121] Die Migrationskrise im Jahr 2015 hatte die Defizite des Vorgängers Frontex aufgezeigt. Die neue Agentur, die freilich noch immer als Frontex bezeichnet wird, schafft ein Modell gemeinsamer Verantwortung für integriertes Grenzmanagement[122], im Rahmen dessen die Mitgliedstaaten ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips die primäre Verantwortung für ihren Teil der europäischen Außengrenze behalten. Ein funktionierendes und damit wirksames Grenzmanagement liegt aber nicht nur im Interesse des Mitgliedstaats an der Außengrenze, sondern im Interesse aller Mitgliedstaaten, die im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gemäß Art. 67 AEUV, dem sog. Schengen-Raum, die Kontrollen an ihren Binnengrenzen abgeschafft haben. Dies bedeutet dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend, dass immer dann, wenn ein Mitgliedstaat nicht fähig oder nicht willens ist, seine nationalen Außengrenzen zu Drittstaaten effektiv zu schützen und damit zugleich das „europäische Interesse“ an einem wirksamen Außengrenzschutz beeinträchtigt, der EU eine im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips graduell abgestufte Auffangverantwortung zukommt.[123]
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Auffangverantwortung
In Anwendung des auf das europäische Interesse bezogenen Solidaritätsprinzips kann die Agentur Empfehlungen aussprechen und finanzielle, personelle oder technische Unterstützung leisten. Wenn aber die nationalen Behörden nicht kooperieren, dann kann sie – legitimiert durch einen Ratsbeschluss mit qualifizierter Mehrheit – als ultima ratio auch ohne vorherige Anfrage seitens des betroffenen Mitgliedstaats, und damit gegen dessen Willen, im Sinne einer Auffangverantwortung selbst einschreiten. Voraussetzung ist konkret, dass aufgrund von Mängeln beim Vorgehen gegen einen das Funktionieren des Schengen-Raums potenziell gefährdenden Migrationsdruck dringender Handlungsbedarf besteht und den ausgesprochenen Empfehlungen der europäischen Ebene seitens der nationalen Behörden nicht nachgekommen wurde (Art. 42 VO (EU) 2019/1896). Die derzeitige Verordnung sieht als Reaktion zwar noch kein Selbsteintrittsrecht dergestalt vor, dass die Agentur den Schutz der Außengrenze im Zuge einer Auffangverantwortung, ermächtigt durch den Rat der EU, selbstständig übernimmt. Jedoch erlaubt sie dem Rat bereits jetzt ein Verschieben der Außengrenzen des Schengen-Raums an die Binnengrenzen des nicht kooperierenden Mitgliedstaats mit qualifizierter Mehrheit zu beschließen. De facto würde der nicht kooperierende Mitgliedstaat damit aus dem Schengen-Raum ausgeschlossen.[124]
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Grenzen
Basierend auf der bereits erwähnten Meroni-Rechtsprechung,[125] die der EuGH mit dem ESMA-Urteil[126] ein wenig öffnete, setzt das Unionsrecht der Delegation von Befugnissen an Agenturen jedoch bestimmte Grenzen. Demnach ist eine Delegation im Rahmen des vertraglich geschaffenen institutionellen Gleichgewichts möglich. Konkret bedeutet dies: Innerhalb der Kompetenzordnung der Verträge (vgl. Art. 5 EUV) können nur klar umrissene Ausführungsbefugnisse übertragen werden, deren Kontrolle dem EuGH unterliegt. Nach dem ESMA-Urteil können einer Agentur auf Basis von Art. 114 AEUV aber auch direkte Überprüfungs- und Durchsetzungszuständigkeiten, einschließlich der Befugnis, Bußgelder zu verhängen, übertragen werden. Es dürfen jedoch weiterhin keine eigenständigen Zuständigkeiten der Agentur begründet werden; ihr Handlungsspielraum muss durch den zugrunde liegenden Rechtsakt klar begrenzt sein.[127] Wenn eine Rückbindung von Entscheidungen der Agentur an die europäischen Institutionen, vor allem an den Rat, erfolgt, können einer Agentur darüber hinausgehende Befugnisse übertragen werden, die in die Souveränität von Mitgliedstaaten eingreifen.
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Auffangverantwortung
Das vorstehende Beispiel verdeutlicht, dass vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips die Einrichtung europäischer Agenturen mit Vollzugszuständigkeiten vor allem dann in Betracht kommen kann, wenn das Handeln (oder Nichthandeln) eines primär für den Vollzug zuständigen Mitgliedstaats (negative) Auswirkungen auf andere Mitgliedstaaten oder die Union als Ganze haben kann. In Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wiederum sind die Zuständigkeiten der Union in diesen Fällen eng umgrenzt und beschränken sich beispielsweise auf ein Einschreiten im Sinne einer Auffangverantwortung, verstanden als ultima ratio.
3. Arzneimittelzulassung in der EU
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Verfahren der gegenseitigen Anerkennung
Die Wirkweise der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Vollzugszuständigkeiten europäischer Stellen kann schließlich anhand des Zulassungsprozesses für Arzneimittel in der EU verdeutlicht werden.[128] Das Zulassungsverfahren folgt hier – mit Ausnahme bestimmter Produkte – grundsätzlich einem dezentralisierten Mechanismus.[129] Danach prüfen die zuständigen nationalen Behörden, ob der eingereichte Antrag den europäischen Zulassungsvorschriften entspricht. Ist dies der Fall, so erteilen sie eine Genehmigung für das Inverkehrbringen des Medikaments.[130] Bei parallelen Anträgen in zwei oder mehr Mitgliedstaaten wird ein Verfahren der gegenseitigen Anerkennung angewendet: Der Antragsteller ersucht dabei einen Mitgliedstaat, als Referenzmitgliedstaat zu fungieren.[131] Der Referenzmitgliedstaat erstellt daraufhin einen Entwurf eines Beurteilungsberichts. Stimmen alle betroffenen Mitgliedstaaten diesem Bericht zu, so trifft jeder Mitgliedstaat, in dem ein Antrag gestellt wurde, eine Autorisierungsentscheidung für sein Hoheitsgebiet.[132] Widerspricht jedoch ein Mitgliedstaat dem Beurteilungsbericht wegen einer potenziellen schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Gesundheit, wird die Angelegenheit an die Europäische Arzneimittel-Agentur weitergeleitet und die Kommission entscheidet endgültig.[133] Der Widerspruch eines einzelnen Mitgliedstaats reicht folglich aus, um den direkten Vollzug des europäischen Arzneimittelzulassungsrechts durch die europäische Verwaltung auszulösen.
C. Ausblick
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Differenzierte Kompentenzausübung
Die Kompetenzausübung im europäischen Verwaltungsverbund stößt auf eine komplexe Wirklichkeit, die sich nicht durch eine undifferenzierte Bezugnahme auf die Prinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit steuern lässt.[134] Beide die Kompetenzausübung steuernden Prinzipien sind kein Selbstzweck. Defizite in den mitgliedstaatlichen Verwaltungskapazitäten einerseits und die Funktionsfähigkeit