Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов
entziehen. Forsthoff sah es nunmehr als eine zentrale Aufgabe seiner Disziplin an, eine zeitgemäße Systematik und Dogmatik des Leistungsverwaltungsrechts zu entwickeln, wobei er später nicht davor zurückschreckte, auf provokative Weise die Kontinuität seines Denkens über den Systembruch von 1945 hinweg zu betonen, so beispielsweise im Vorwort seines 1950 erschienenen und überaus erfolgreichen Lehrbuchs des Verwaltungsrechts: „Der Plan des vorliegenden Bandes und die wesentlichen Grundgedanken, nach denen er ausgeführt werden sollte, lagen bereits vor Kriegsausbruch fest […]. Nahezu die Hälfte des Buches wurde während des Krieges niedergeschrieben. Nach der Kapitulation stellte sich bald heraus, dass an der Gesamtkonzeption nichts geändert zu werden brauchte. Die Notwendigkeit und die Fragestellungen, wie sie sich bei einer realistischen und nicht ideologischen Betrachtung ergeben, waren die gleichen geblieben.“[39]
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Bedeutungsverlust der Verwaltungsrechtswissenschaft
Dabei fanden solche wissenschaftlichen Debatten gleichsam im Elfenbeinturm statt, der auf die Rechtspraxis der Verwaltung im Nationalsozialismus kaum Einfluss gewann. Die angesprochenen Diskussionen besaßen hierfür nur wenig Relevanz. Das Regime benötigte die Staatsrechtslehre primär für Propagandazwecke und um den Universitätsbetrieb am Laufen zu halten, legte auf ihren ordnenden Zugriff hingegen keinen Wert. Als etwa Werner Weber 1942 gegen die unzureichende Publikation von Rechtsvorschriften protestierte,[40] trat die Vergeblichkeit solcher Interventionen offen zutage. Während sich die Tendenzen zur Regellosigkeit speziell nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verstärkten, erlebte die Verwaltungsrechtswissenschaft einen kontinuierlichen Bedeutungsverlust und Niedergang. Das Recht wurde nur noch gebraucht, soweit es eine stabilisierende Wirkung für die Volksgemeinschaft und eine lenkende Funktion für die Ziele des Nationalsozialismus entfalten konnte. Dem immer willkürlicher agierenden Polizeistaat hatte die Wissenschaft – im Einklang mit der Justiz – ohnehin nichts entgegenzusetzen.[41] Insofern war es folgerichtig dass die Verwaltungsrechtswissenschaft je länger der Krieg andauerte, zunehmend verstummte.[42]
E. Verwaltung im Vernichtungskrieg
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„Kämpfende Verwaltung“
Aufgrund der ungemeinen ideologischen Aufladung des Zweiten Weltkriegs und der Entscheidung der nationalsozialistischen Führung, in einem Rassen- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion Verbrechen in einem bis dahin unbekannten Ausmaß zu begehen, unterschied sich die Rolle der Verwaltung im Krieg grundlegend von früheren Kriegsverwaltungen. In den Worten des Leiters des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, sollte sie nun die Rolle einer „kämpfenden Verwaltung“ spielen, die bedingungslos den Zielen des Nationalsozialismus folgte und in seine Unterdrückungs- und Verfolgungsmaßnahmen eingebunden war.[43] Alles war dem Endsieg unterzuordnen. Von rechtlichen Regelungen und seit langer Zeit tradierten Verwaltungspraktiken sollte abgewichen werden, sofern das Handeln dem vom Regime definierten langfristigen Zielen nutzte. Die zersplitterte „Polykratie“ konkurrierender Institutionen verschärfte sich, wobei die Sondergewalten weitere Kompetenzen an sich ziehen konnten. In den annektierten und besetzten Gebieten spielte die traditionelle Verwaltung nur noch eine untergeordnete Rolle. Zudem nahmen Überwachung, Verfolgung und Terror durch die Sicherheitsapparate im Reich weiter zu. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde auf ein Minimum zurückgefahren, zumal es hier nicht mehr um individuellen Rechtsschutz, sondern primär um die Wahrung von Gemeinschaftsinteressen ging. Dem stand nicht entgegen, dass es 1941 noch zur Errichtung eines schon lange geplanten Reichsverwaltungsgerichts kam, was sich denn auch als „Pyrrhussieg“ entpuppte.[44] Die radikal ordnungszerstörende Seite des Nationalsozialismus trat nun allenthalben hervor. Dies war keine Auflösungserscheinung, sondern im Staat Adolf Hitlers von Anfang an angelegt, so dass der Nationalsozialismus im Krieg gleichsam zu sich selbst fand.[45]
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Verwaltungspraxis im Krieg
Wie veränderte sich vor diesem Hintergrund die Arbeit in den Amtsstuben vor Ort? Zunächst einmal wurde ihre Besetzung reduziert, da viele, vor allem Jüngere, zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Behördenleiter versuchten vor diesem Hintergrund, für ihren Bereich möglichst viele sogenannte Unabkömmlichstellungen (UK) zu sichern, um den Betrieb, so gut es ging, aufrechterhalten zu können. Zudem nahm die Zahl von Frauen und älteren Männern, die häufig im Rahmen der ersten Säuberungen 1933 aufgrund politischer Unzuverlässigkeit hatten ausscheiden müssen, wieder zu. Teilweise wurden sogar frühere Mitarbeiter aus dem Ruhestand zurückberufen. Die Verwaltung war generell zu vereinfachen, ganze Arbeitsbereiche sollten, soweit möglich, wegfallen und nur noch als kriegswichtig angesehene Arbeiten fortgeführt werden. Außerdem gab es Initiativen, den Geschäftsgang zu straffen und zu beschleunigen, etwa indem nur noch besonders wichtige Eingänge von der Registratur erfasst werden sollten und der einzelne Sachbearbeiter zur Schlusszeichnung eines Vorgangs berechtigt wurde. Teilweise gab das Reichsinnenministerium sogar seinen lange durchgehaltenen Widerstand gegen eine engere Zusammenführung von Partei- und Staatsämtern auf, um so wenigstens eine gewisse Effizienz zu erreichen. Die Bombenangriffe auf deutsche Städte erschwerten die Verwaltungsarbeit noch zusätzlich. Allenthalben wurde das Schreibpapier knapp. Wo Verwaltungsgebäude beschädigt oder zerstört waren, mussten ganze Verwaltungen aus den Innenstädten ausgelagert, später in andere Reichsteile evakuiert werden. Durch die große Zahl von Kriegszerstörungen sowie von Flüchtlingen und Obdachlosen standen Behörden im ganzen Reich zudem vor immensen Aufgaben, denen man sich aber buchstäblich bis zur letzten Minute stellte, als die alliierten Streitkräfte endlich einrückten und die Herrschaft übernahmen.[46]
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Fragen der Bewertung
Spätestens mit der Niederlage bei der Schlacht von Stalingrad Anfang Februar 1943 führte selbst für die größten Optimisten kein Weg mehr an der Einsicht vorbei, dass dieser Krieg von deutscher Seite nicht gewonnen werden konnte. Trotzdem funktionierte die deutsche Verwaltung im Altreich sowie in den besetzten und annektierten Gebieten bis zum letztmöglichen Zeitpunkt. Selbst das erbarmungslose Morden im Osten, an dem die Verwaltung teilweise direkt beteiligt war und von dem immer wieder Gerüchte nach Hause drangen, hielt sie nicht davon ab weiterzuarbeiten. Insofern treten hier die Abgründe einer gut funktionierenden modernen Bürokratie deutlich hervor.[47] In dieser Situation gab es keine unbelastete Normalität mehr. Selbst der einzelne Reichsbahnbeamte leistete seinen Beitrag zur Verlängerung der Terrorherrschaft, indem er half, das Zugnetz am Laufen zu halten. Dazu musste er gar nicht direkt daran beteiligt sein, Transporte nach Auschwitz zu leiten. Dennoch sollte man vorsichtig sein, individuelles Verhalten vorschnell über einen Kamm zu scheren. Spielräume, die das Recht und die tradierte Praxis boten, wurden nicht immer auf eine radikalisierende Weise genutzt. So konnten beispielsweise sogenannte Treuhänder der Arbeit bei Arbeitsvertragsbrüchen, die seit 1938 unter Strafe standen, einfache Verweise, aber eben auch Einweisungen in Arbeitserziehungslager aussprechen, so dass der eine Treuhänder eher zu der einen Option, der andere eher zur anderen tendierte. Bei genauerer Betrachtung finden sich zudem erstaunliche Bespiele für non-konformes, deviates und sogar widerständiges Verhalten, etwa wenn ein Leiter einer Nebenstelle des Arbeitsamts im Krakauer Ghetto den Juden fiktive Arbeitszuteilungen ausstellte und ihnen falsche, rüstungsrelevante Berufe bescheinigte, um sie vor der Deportation zu bewahren. Erst auf der Grundlage einer genauen Analyse von Handlungszwängen einer Institution und sich daraus ergebender individueller Handlungsspielräume lässt sich das konkrete Verhalten eines Staatsbediensteten somit angemessen bewerten.[48]
F. Personelle Kontinuitäten nach 1945
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Frühere Nationalsozialisten in der bundesdeutschen Verwaltung
Obwohl das Gros der Staatsdiener in der Zeit des Nationalsozialismus die politische Führung unterstützt und durch die eigene Arbeit die zwölfjährige Diktatur ermöglicht und stabilisiert hatte, konnte die breite Mehrheit in der Bundesrepublik – ganz im Gegensatz zur DDR – ihre Verwaltungskarriere fortsetzen.[49] So waren drei Viertel des Leitungspersonals, das Mitte der 1950er-Jahre im Bundesinnenministerium arbeitete, bereits vor 1945 in der Verwaltung tätig gewesen. Während es bei der Staatsgründung