Praxisleitfaden Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG). Holger Hembach
Menschenrechtsschutz, S. 6; Schabbas, The European Convention on Human Rights, S. 1. 35 BT-Drucksache 19/286649, S. 34. 36 Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, S. 232. 37 Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, S. 232. 38 Schabas, Nowak’s CCPR Commentary, S. 838. 39 Schabas, Nowak’s CCPR Commentary, S. 838. 40 Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, S. 369. 41 ILO, Handbook of procedures, S. 3. 42 Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, S. 36. 43 Bantekas/Oette, International Human Rights Law and Practice, S. 400.
IV) Die Debatte über Wirtschaft und Menschenrechte
Nach herrschender Auffassung sind Unternehmen keine direkten Träger menschenrechtlicher Pflichten. Menschenrechte wurden historisch gegen die Ausübung staatlicher Gewalt erkämpft; daraus resultiert ein Fokus auf eine Verpflichtung des Staates aus den Menschenrechten.44 Im internationalen öffentlichen Recht (Völkerrecht) gelten Unternehmen nicht als Rechtssubjekte. Sie sind daher weder aus internationalen Verträgen direkt verpflichtet, noch gilt für sie das völkerrechtliche zwingende Recht45, zu dem Teilbereiche der internationalen Menschenrechte wie das Folterverbot, das Verbot von Diskriminierung aufgrund der Rasse oder das Verbot der Sklaverei zählen.46 Menschenrechtliche Verträge sind traditionell von Staaten als Katalog staatlicher Pflichten verfasst und das entsprechende Kontrollsystem auf die hergebrachten Regeln staatlicher Verantwortung abgestimmt.47
Allerdings sind viele transnationale Unternehmen einflussreiche „global players“. Der Jahresumsatz einiger dieser Unternehmen geht oft über das Bruttoinlandsprodukt der meisten Staaten hinaus und ihre Wirtschaftskraft versetzt sie in die Lage, innerstaatliche politische Entscheidungen zu beeinflussen.48 Große Unternehmen beeinflussen in erheblichem Umfang internationale Regeln über den Handel, Investitionen oder Telekommunikation.49 Hieraus wird teilweise hergeleitet, dass mit dem großen Einfluss auch die entsprechende Verantwortung korrespondieren müsse.50 Es komme nicht in erster Linie darauf an, wer aus den Menschenrechten verpflichtet sei, sondern darauf, dass die Menschenrechte für alle Menschen jederzeit gewährleistet werden müssten.51 Darüber hinaus sei es widersprüchlich, dass Unternehmen beispielsweise nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zwar Träger von Menschenrechten – und damit Opfer von Menschenrechtsverletzungen – sein könnten,52 aber umgekehrt nicht aus den Menschenrechten verpflichtet sein sollten.53 Auch gebe es Fälle, in denen nicht-staatliche Akteure aus Normen des internationalen Rechts verpflichtet seien. Dies gelte beispielsweise bei Piraterie oder, wie der Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien im Fall Karadzic entschieden habe, bei bestimmten Verstößen gegen die Genfer Konventionen.54
Trotz dieser Argumente geht die herrschende Meinung weiterhin davon aus, dass Unternehmen nicht direkt aus den international anerkannten Menschenrechten verpflichtet werden. Die Frage der direkten Verpflichtung ist aber zu unterscheiden von indirekten Pflichten. Dabei geht es um Pflichten, die Staaten Unternehmen oder anderen nichtstaatlichen Akteuren auferlegen, um ihren eigenen Verpflichtungen nach internationalem Recht gerecht zu werden. Es ist anerkannt, dass dies möglich ist.55 Einige Autoren vertreten sogar die Auffassung, dass Staaten aufgrund ihrer Bindung an menschenrechtliche Verträge verpflichtet sein können, entsprechende Gesetze zu erlassen.56
Die Diskussion über derartige gesetzliche Vorschriften zur Regulierung menschenrechtlicher Pflichten von Unternehmen im weiteren Sinne reicht bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück.57
In einigen westlichen Demokratien gab es Befürchtungen, der Einfluss transnationaler Unternehmen auf die Wirtschaft könne überhandnehmen.58 Die International Confederation of Free Trade Unions bemühte sich, die ILO zu bewegen, den sozialen Folgen der Aktivitäten transnationaler Unternehmen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.59 Der Versuch der US-amerikanischen International Telephone and Telegraph Company (ITT), mithilfe der CIA die Wahl Salvador Allendes zu verhindern bzw. einen Staatstreich in Chile zu initiieren60 rief öffentliche Empörung hervor und war ein Schlaglicht auf die politische Dimension transnationaler Unternehmen.
Der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (UN Economic and Social Council) verabschiedete 1972 eine Resolution, in der er den Generalsekretär der Vereinten Nationen aufforderte, eine Gruppe anerkannter Personen („eminent persons“) zu ernennen, um die Rolle multinationaler Konzerne im internationalen Recht und ihren Einfluss auf den Entwicklungsprozess von den Ländern zu analysieren.61 Die Gruppe veröffentlichte einen Bericht, in dem sie die Schaffung einer Kommission empfahl, die sich mit den Aktivitäten transnationaler Unternehmen befassen sollte. Aufgrund dieser Empfehlung wurden das „Center on Transnational Corporations“ (UNCTC) und die „Commission on Transnational Corporations“ gegründet. Dieses hatte unter anderem die Aufgabe, ein Regelwerk für das Verhalten transnationaler Unternehmen zu entwickeln.62 Das UNCTC verfasste in den Jahren 198363, 1988 und 1993 drei Entwürfe für einen „Code of Conduct“; alle sahen vor, dass die Pflichten, die sich aus dem internationalen Recht der Menschenrechte ergeben, auf Unternehmen anwendbar sein sollten.64 Diese Entwürfe stießen auf großen Widerstand aus Wirtschaftskreisen.65 Gleichzeitig bewirkte die Hinwendung zum Glauben an die freien Kräfte des Marktes, insbesondere in den USA unter Reagan, dass die politische Unterstützung für das Projekt bindender menschenrechtlicher Pflichten für Unternehmen schwand. Auch einige der sich entwickelnden Länder legten ihr Augenmerk in der Schuldenkrise der 80er Jahre eher darauf, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen als Unternehmen zusätzliche Pflichten aufzubürden.66 1992 wurde das UNTCT abgeschafft.
Trotz des schlussendlichen Scheiterns des verbindlichen Code of Conduct hatten die Entwürfe, die das UNTCT verfasste, und die Analysen der Konsequenzen des Verhaltens transnationaler Unternehmen großen Einfluss auf die Diskussion über Ausgestaltung menschenrechtlicher Pflichten (oder Verhaltensrichtlinien) von Unternehmen.
Auch andere Richtlinien und Empfehlungen wurden in den 70er Jahren aufgrund eines gestiegenen Bewusstseins für die sozialen Folgen wirtschaftlichen Handelns verabschiedet. Die International Chamber of Commerce veröffentlichte 1972 erstmals die ICC Guidelines for international Investment; die OECD publizierte 1976 ihre „Guidelines on Multi-national Enterprises“ und die ILO verabschiedete 1977.die „Declaration of Principles Concerning Multi-national Enterprises and Social Policy“.
Trotz des Scheiterns des verbindlichen „Code of Conduct“ bekamen Bestrebungen, die sozialen Folgen wirtschaftlichen Handelns – vor allem großer Unternehmen – zu regulieren, in den 90er Jahren erneut Aufwind. Ein Schlüsselereignis war dabei die Hinrichtung des nigerianischen Journalisten Ken Saro Wiwa und acht weiterer Personen aus seinem Umfeld und die Rolle, die Royal Dutch Shell nach Meinung vieler Beobachter dabei spielte. Saro Wiwa stammte aus dem Volk der Ogoni, das im Nigerdelta ansässig ist. Shell und andere internationale Unternehmen fördern seit den 50er Jahren Öl im Nigerdelta; dies hat dort zu erheblichen Umweltschäden geführt und beeinträchtigt die Lebensgrundlagen der Anwohner. Saro Wiwa war der Kopf einer Bewegung, die sich dafür einsetzte, die Unternehmen für die Schäden verantwortlich zu machen und die Bewohner des Nigerdeltas an den Einnahmen aus der Ölförderung zu beteiligen, des „Movement for the Survival of the Ogoni People (MOSOP)“. Die nigerianischen Behörden versuchten, MOSOP zu unterdrücken. Es kam zu gewaltsamen Konflikten; Saro Wiwa wurde verhaftet, in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und trotz internationaler Proteste hingerichtet. Zahlreiche Kritiker, darunter große internationale Menschenrechtsorganisationen warfen Royal Dutch Shell vor,