Mobilfunk kommt, der Rechtsstaat geht. Rainer Bartelt

Mobilfunk kommt, der Rechtsstaat geht - Rainer Bartelt


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der Rechtsanwalt der Netzagentur dem Gericht also überhaupt die Wahrheit gesagt?

      Ein Jahr später – nach dem Prozess – stellte sich diese Frage nicht mehr. Denn da ging es noch um ganz andere Widersprüche zur Sache und zur Rechtslage. Allerdings diesmal in den Aussagen des Gerichts…

      Ein selbsternannter Experte

      „Dann bist du halt der Handwerker!“

      Auskunft beim Bier

      Wie zuvor schon der Widerspruch, zog sich auch das Gerichtsverfahren schier endlos in die Länge. Erst am 6. Juni 2019, volle zwei Jahre nach Erteilung der „streitgegenständlichen“ Standortbescheinigung, fand endlich die urteilstiftende Gerichtsverhandlung statt. Merkwürdigerweise ganz und gar ohne meinen Rechtsanwalt und mich:

      Am nämlichen Tag sitze ich abends mit Freunden und Bekannten beim gemeinsamen Bier am allmonatlichen Stammtisch, als mich plötzlich einer aus der Runde – nennen wir ihn hier einfach mal „Klaus“ – anspricht und sofort meine volle Aufmerksamkeit hat:

      „Sag mal, Rainer, weißt du eigentlich, dass heute die mündliche Verhandlung deiner Klage stattgefunden hat?“

      Fast fällt mir das halbvolle Bierglas aus der Hand. Ungläubig frage ich zurück – nein, ich frage nicht, laut prustet es aus mir heraus:

      „Wie bitte!?“

      „Ja, heute Nachmittag war deine Gerichtsverhandlung: Ich bin hingegangen, weil mich das Thema interessierte.“

      Vollkommen unbewegt bringt Klaus diese für mich geradezu markerschütternde Schreckensnachricht heraus. Mir stockt sofort der Atem, und ich antworte nur mit Mühe:

      „Heute? Machst du Witze?“

      „Nein: Außer Telefónica waren alle da und haben sich sehr gewundert, wo DU eigentlich abgeblieben bist. Dein Rechtsanwalt ist übrigens auch nicht zur Verhandlung erschienen!“

      Im Nu verschwindet alles um mich herum hinter einem undurchsichtigen weißen Nebel. Nur den Klaus, der mich fragend anschaut, nehme ich noch wahr:

      „Mensch Klaus, nun sag schon, wie wurde entschieden?“

      „Ich weiß es nicht genau, aber ich denke, sie werden deine Klage wohl abweisen...“

      Mein Hirn steht so unter Volldampf, dass ich fast hören kann, wie es in meinem Kopf rumort:

      „Das darf doch überhaupt nicht wahr sein! Was ist denn mit den Funkanlagen, gegen die ich geklagt habe, und unserem Gartenbaum? Was soll ich bloß machen, wenn dieser Baum größer und größer wird und irgendwann einmal beschnitten werden muss? Mit absoluter Sicherheit wird seine Krone später einmal da angekommen sein, wo nach den eigenen Berechnungen der Netzagentur Grenzwertüberschreitungen zu erwarten sind!“

      „Macht aber nichts, wenn private Bäume in die Sicherheitsabstände hineinragen: Handwerker dürfen da ja trotzdem rein!“

      „Das Geld für Handwerker wollten wir, meine Frau und ich, uns eigentlich sparen. Ich wollte unsere Bäume gern selber pflegen – so wie ich’s bisher immer gemacht habe!“

      „Ganz klar, ist trotzdem kein Problem!“

      „Warum das? Ich darf in den Sicherheitsbereich der drei Funkanlagen von nebenan hineinklettern, obwohl der für die Allgemeinheit per Rechtsverordnung eigentlich gesperrt sein soll?“

      „Ja, so ist es: Wenn du dir ‘ne Leiter nimmst und in den Baum hinaufsteigst, dann bist du halt selbst der Handwerker! Rein rechtlich gesehen...“

      Mir fiel erneut die Kinnlade runter: Okay, der Sicherheitsbereich war für die Allgemeinheit gesperrt, nur (geschulte!) Handwerker durften da hinein. Und wenn doch einer aus der Allgemeinheit da hineingeriet, dann war er mit einem Mal ein „geschulter“ Handwerker – rein rechtlich gesehen? Was war denn das für ein kompletter Unsinn!?

      Doch Klaus hatte keinesfalls zu viel gesagt, der Original-Ton des Gerichts war um kein Stück besser:

      Das Göttinger Verwaltungsgericht

      „Aber auch dann, wenn darauf abzustellen ist, ob sich künftig Personen – z. B. im Rahmen von Baumpflegemaßnahmen – innerhalb des Sicherheitsabstandes aufhalten könnten, gehörte der Luftraum hinter der Grenze zum Grundstück des Klägers zum kontrollierbaren Bereich.“

      Aus dem Urteil 4 A 345/17 des Göttinger Verwaltungsgerichts vom 6. Juni 2019

      Endlich, gut drei Wochen nach der mündlichen Verhandlung, erhielt ich die langersehnte Kopie des Gerichtsurteils von meinem Rechtsanwalt. Als erste von insgesamt zwei Antworten auf meine Gartenbaum-Frage präsentierte mir das Gericht neben vielen anderen Aussagen zur Sache den oben zitierten Entscheidungsgrund für sein ablehnendes Urteil.

      Dummerweise weiß niemand, der die sogenannte BEMFV, die für jede bundesdeutsche Standortbescheinigung kriegsentscheidende „Verordnung über das Nachweisverfahren zur Begrenzung elektromagnetischer Felder“, nicht kennt, was um Himmels willen eigentlich dieser „kontrollierbare Bereich“ sein soll? Daher nachfolgend ein kurzer Erklärungsversuch:

      Zum Zeitpunkt des Urteilsspruchs war der kontrollierbare Bereich laut § 2 der BEMFV „der Bereich, in dem der Betreiber über den Zutritt oder Aufenthalt von Personen bestimmen kann oder in dem aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse der Zutritt von Personen ausgeschlossen ist“. Darüber hinaus verfügt § 5 der Verordnung: „Die Anlage darf nur betrieben werden, wenn sich innerhalb des standortbezogenen Sicherheitsabstands keine Personen aufhalten, es sei denn aus betriebstechnischen Gründen.“

      Wie kann es also möglich sein, dass die benachbarten Funkanlagen laut Gericht auch dann betrieben werden dürfen, sofern ich selbst höchstpersönlich „innerhalb des standortbezogenen Sicherheitsabstands“ Baumpflegearbeiten verrichte, oder ganz allgemein gesprochen: Falls ebenso arg- wie ahnungslose Kinder oder Jugendliche im Baum herumklettern sollten?

      Um damit nur ein Beispiel zu nennen für eine heutzutage vielleicht nicht mehr ganz so übliche Gartenbaum-Nutzung, das aber nichtsdestotrotz viele Eltern beunruhigen könnte. Auch solche ohne eigenen Garten, denn Bäume, in die man als Kind oder Jugendlicher vielleicht klettern möchte, stehen fast überall herum. Wenn es sein muss, auch auf Spielplätzen und in öffentlichen Parks!

      Als Begründung für seine auch auf den zweiten Blick überraschende Aussage zitiert das Göttinger Verwaltungsgericht ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 16. März 2010 mit dem Aktenzeichen 6 A 10813/09:

      „Für den nur vorübergehenden Aufenthalt in solchen Bereichen bedürfen Personen nämlich nicht des durch die Grenzwerte der 26. BImSchV gewährleisteten, für ein regelmäßiges längeres Verweilen erforderlichen Schutzniveaus.“

      Als ich diese Zitat zum ersten Mal las, dachte ich sofort: „Wow, hätte ich bloß früher gewusst, dass die Grenzwert für kurze Zeitintervalle nicht gelten – wahrscheinlich hätte ich dann von vornherein auf eine Klage verzichtet!“, und ärgerte mich über mich selbst. Denn die relativ überschaubare Mühe, die vom OVG Rheinland-Pfalz zitierte 26. BImSchV vor dem Prozess zu studieren, hatte ich mir leichtfertigerweise erspart. Wohl im grenzenlosen Vertrauen auf die ebenso tiefgehenden wie lückenlosen Rechtskenntnisse meines ausgesprochen jung-dynamischen Rechtsanwalts. Mit einem Mal erschien mir diese Annahme möglicherweise eine ziemlich fatale Fehleinschätzung gewesen zu sein!

      Was ich damals allerdings noch nicht wusste, war, dass nicht nur ich, sondern ebenfalls auch das Göttinger Verwaltungsgericht den genauen Wortlaut dieser für den Ausgang unseres Verfahrens nicht ganz unwesentlichen Immissionsschutzverordnung überhaupt nicht kannte. So war meine Verwunderung nicht gering, als ich bemerkte, dass sich das im Urteil zitierte OVG kurz darauf selbst widersprach:


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