Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца. Стефан Цвейг

Ungeduld des Herzens / Нетерпение сердца - Стефан Цвейг


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Zorn im Blick, ihren Arm befreit, schon läuft sie hinüber. Ich stehe mit gewürgter Kehle, Übelkeit im Mund, an der Schwelle des Salons, der wirbelt und schwirrt und schwatzt mit seinen (mir plötzlich unerträglichen) unbefangen plaudernden, lachenden Menschen, und denke: fünf Minuten noch, und alle wissen von meiner Tölpelei. Fünf Minuten, dann tappen und tasten höhnische, mißbilligende, ironische Blicke von allen Seiten mich an, und morgen läuft, von hundert Lippen zerschmatzt, der Schwatz über meine rohe Ungeschicklichkeit durch die ganze Stadt, frühmorgens schon mit der Milch abgelagert an den Haustüren, dann breitgeschwenkt in den Gesindestuben und weitergetragen in die Kaffeehäuser, die Ämter. Morgen weiß man’s in meinem Regiment.

      In diesem Augenblick sehe ich wie durch einen Nebel den Vater. Mit einem etwas bedrückten Gesicht – weiß er schon? – kommt er eben quer durch den Saal. Geht er am Ende auf mich zu? Nein – nur ihm jetzt nicht begegnen! Eine panische Angst packt mich plötzlich vor ihm und vor allen. Und ohne recht zu wissen, was ich tue, stolpere ich zur Tür, die hinausführt in die Hall, hinaus aus diesem höllischen Haus.

      »Wollen uns Herr Leutnant schon verlassen?« staunt mit respektvoll zweifelnder Geste der Diener.

      »Ja«, antworte ich und erschrecke bereits, wie das Wort mir vom Munde fährt. Will ich denn wirklich weg? Und im nächsten Augenblick, da er den Mantel vom Haken holt, ist mir schon klar bewußt, daß ich jetzt mit meinem feigen Davonlaufen eine neue und vielleicht noch unentschuldbarere Dummheit begehe. Jedoch es ist schon zu spät. Ich kann ihm den Mantel nicht jetzt mit einmal wieder zurückgeben, ich kann nicht wieder, indes er mir schon die Haustür mit knapper Verbeugung öffnet, zurück in den Saal. Und so stehe ich plötzlich vor dem fremden, dem verfluchten Haus, den Wind kalt im Gesicht, das Herz heiß von Scham und den Atem gekrampft wie ein Erstickender.

      * * *

      Das war die unselige Tölpelei, mit der die ganze Sache begann. Jetzt, da ich mir beschwichtigten Bluts und aus der Distanz vieler Jahre jene einfältige Episode neuerdings vergegenwärtige, mit der alles Verhängnis seinen Anfang nahm, muß ich mir zuerkennen, eigentlich ganz unschuldig in dieses Mißverständnis hineingestolpert zu sein; auch dem Klügsten, dem Erfahrensten hätte diese »gaffe« passieren können, ein lahmes Mädchen zum Tanz aufzufordern. Aber in der Unmittelbarkeit des ersten Entsetzens empfand ich mich damals nicht nur als heillosen Tölpel, sondern als Rohling, als Verbrecher. Mir war, als hätte ich ein unschuldiges Kind mit der Peitsche geschlagen. All dies hätte schließlich mit Geistesgegenwart noch gutgemacht werden können; unwiderruflich hatte ich erst damit die Situation verdorben – dies wurde mir sofort bewußt, kaum daß der erste Stoß kalter Luft mir vor dem Hause an die Stirne sprang –, daß ich eben wie ein Verbrecher, ohne den Versuch, mich zu entschuldigen, einfach weggelaufen war.

      Den Zustand, in dem ich vor dem Hause stand, vermag ich nicht zu schildern. Die Musik schwieg hinter den erleuchteten Fenstern; wahrscheinlich hatten die Spieler bloß eine Pause eingeschaltet. Aber in meinem überreizten Schuldgefühl fieberte ich mir sofort vor, um meinetwillen stocke der Tanz, alles dränge jetzt in das kleine Boudoir, um die Schluchzende zu trösten, alle Gäste, die Frauen, die Männer, die Mädchen ereiferten sich hinter jener verschlossenen Tür in einhelliger Entrüstung über den ruchlosen Mann, der ein verkrüppeltes Kind zum Tanz aufgefordert habe, um dann nach vollbrachtem Bosheitsstreich feige davonzulaufen. Und morgen – der Schweiß brach mir aus, ich fühlte ihn kalt unter der Kappe – wußte und schwätzte und behechelte schon die ganze Stadt meine Blamage. Ich sah sie schon vor mir in Gedanken, meine Kameraden, den Ferencz, den Mislywetz, und vor allem den Jozsi, den verfluchten Witzeschneider, wie sie schmatzend auf mich zukommen würden: »Na, Toni, schön führst du dich auf! Einmal wenn man dich von der Leine läßt, und du blamierst das ganze Regiment!« Monate wird dieses Hecheln und Höhnen noch weitergehen bei der Offiziersmesse; zehn, zwanzig Jahre wird ja bei uns am Kameradschaftstisch jede Dummheit nachgekaut, die irgend einer von uns einmal angestellt hat, jede Eselei verewigt sich, jeder Witz petrifiziert. Heute noch, nach sechzehn Jahren, erzählen sie die öde Geschichte vom Rittmeister Wolinski, wie er heimgekommen war aus Wien und geprotzt hatte, die Gräfin T. auf der Ringstraße kennengelernt und gleich die erste Nacht in ihrer Wohnung verbracht zu haben, und zwei Tage später stand dann in der Zeitung der Skandal von ihrem entlassenen Dienstmädel, das sich in Geschäften und bei Abenteuern hochstaplerisch selber als Gräfin T. ausgegeben hatte, und außerdem mußte der Casanova noch drei Wochen beim Regimentsarzt in die Kur gehen. Wer sich einmal vor den Kameraden lächerlich gemacht hat, bleibt lächerlich für immer, die kennen kein Vergessen, kein Verzeihen. Und je mehr ich mir’s ausmalte und ausdachte, umsomehr kam ich ins Fieber absurder Ideen. Hundertmal leichter schien es mir in diesem Augenblick, mit dem Zeigefinger einen kleinen raschen Druck am Revolver zu tun, als die Höllenqual der nächsten Tage durchzustehen, dieses ohnmächtige Warten, ob die Kameraden schon von meiner Blamage wüßten und etwa hinter meinem Rücken das Tuscheln und Schmunzeln lustig losgegangen sei. Ach, ich kannte mich gut; ich wußte, nie würde ich die Kraft haben, standzuhalten, sobald einmal das Spötteln und Höhnen und Herumerzählen angefangen hätte.

      Wie ich damals nach Hause gelangte, weiß ich heute nicht mehr. Ich erinnere mich nur, der erste Griff riß den Schrank auf, wo die Flasche Slibowitz für meine Besucher stand, und ich kippte zwei, drei halbe Wassergläser herunter, um die gräßliche Übelkeit in der Kehle loszuwerden. Dann warf ich mich hin auf das Bett, angezogen wie ich war, und versuchte nachzudenken. Aber wie Blumen in einem Treibhaus ein hitzigeres und tropischeres Wachstum bekommen, so Wahnvorstellungen im Dunkeln. Wirr und phantastisch schießen sie dort im schwülen Grunde auf zu grellen Lianen, die einem den Atem würgen, und mit der Geschwindigkeit von Träumen formen und jagen sich die absurdesten Angstbilder im überhitzten Gehirn. Blamiert auf Lebenszeit, dachte ich mir, ausgestoßen aus der Gesellschaft, bespöttelt von den Kameraden, beschwätzt von der ganzen Stadt! Nie mehr werde ich das Zimmer verlassen, nie mehr mich auf die Straße wagen können, aus Furcht, einem von denen zu begegnen, die um mein Verbrechen wußten (denn als Verbrechen empfand ich in jener Nacht der ersten Überreizung meine simple Dummheit und mich selbst als Gejagten und Gehetzten des allgemeinen Gelächters). Als ich dann schließlich einschlief, kann es nur ein dünner, undichter Schlaf gewesen sein, unter dem mein Angstzustand fiebernd weiterarbeitete. Denn gleich beim ersten Augenaufschlag steht wieder das zornige Kindergesicht vor mir, ich sehe die zuckenden Lippen, die krampfig an den Tisch gekrallten Hände, ich höre das Poltern jener fallenden Hölzer, von denen ich jetzt nachträglich begreife, daß es ihre Krücken gewesen sein mußten, und eine blöde Angst überkommt mich, es könne auf einmal die Tür aufgehen und – schwarzer Rock, weißer Vorstoß, goldene Brille – stapft mit seinem dürren, gepflegten Ziegenbärtchen der Vater heran bis an mein Bett. In der Angst springe ich auf. Und wie ich jetzt vor dem Spiegel in mein von Nacht- und Angstschweiß feuchtes Gesicht starre, habe ich Lust, dem Tölpel hinter dem blassen Glas mitten ins Gesicht zu schlagen.

      Aber glücklicherweise, es ist schon Tag, Schritte poltern im Gang, Karren unten auf dem Pflaster. Und bei hellen Fensterscheiben denkt man klarer als eingesackt in jene böse Dunkelheit, die gerne Gespenster schafft. Vielleicht, sage ich mir, ist doch nicht alles so fürchterlich. Vielleicht hat es gar niemand bemerkt. Sie freilich – sie wird es nie vergessen, nie verzeihen, die arme Blasse, die Kranke, die Lahme! Da blitzt ein hilfreicher Gedanke jählings in mir auf. Hastig kämme ich mein verrauftes Haar, fahre in die Uniform und laufe an meinem verdutzten Burschen vorbei, der mir in seinem armen ruthenischen Deutsch verzweifelt nachruft: »Herr Leutnant, Herr Leutnant, schon fertig ist Kaffee.«

      Ich sause die Kasernentreppe hinunter und flitze so rasch an den Ulanen, die halb angezogen im Hof herumstehen, vorbei, daß sie gar nicht recht Zeit haben, stramm zu machen. In einem Saus bin ich an ihnen vorüber und beim Kasernentor draußen; geradewegs hin zum Blumengeschäft auf dem Rathausplatz laufe ich, soweit Laufen für einen Leutnant statthaft ist. In meiner Ungeduld habe ich natürlich völlig vergessen, daß um halb sechs Uhr morgens Geschäfte noch nicht offen sind, aber glücklicherweise handelt die Frau Gurtner außer mit Kunstblumen auch mit Gemüsen. Ein Karren mit Kartoffeln steht halb abgeladen vor der Tür, und wie ich heftig an das Fenster klopfe, höre ich sie schon die Treppe heruntertrappen. In der Hast erfinde ich eine Geschichte: ich hätte gestern total vergessen, daß heute der Namenstag von lieben Freunden sei. In einer halben Stunde rückten wir aus, darum möchte ich gern,


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