Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems


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für jede wahre Kunstübung. Goethe selbst hatte dies mit seiner „Italienischen Reise“ (1816–1829) noch einmal eindrucksvoll bezeugt und damit sein Teil dazu beigetragen, daß das Institut der „Grand Tour“, der Bildungsreise nach Italien, im 19. Jahrhundert eine letzte Blüte erlebte. Wer es sich leisten konnte, legte sich wie der „Dichterfürst“ Paul Heyse gleich eine Villa auf Capri zu. Auch Michael Georg Conrad hatte, bevor er nach Paris ging, sechs [<<86] Jahre in Neapel gelebt; das Italienerlebnis trat bei ihm allerdings bald völlig hinter den Pariser Eindrücken zurück. Der unglückliche Verlauf des „Römischen Aufenthalts“ von Gerhart Hauptmann läßt besonders deutlich erkennen, daß am Ende des 19. Jahrhunderts ganz andere Erfahrungen not taten als die einer traditionellen Italienreise, Erfahrungen, wie man sie nicht in dem gesellschaftlich und ökonomisch rückständigen Italien, wie man sie nur an einem Brennpunkt des modernen Lebens machen konnte.

      Ein solcher Brennpunkt war die große Stadt Paris, und sie war es mehr als jeder andere Ort in Europa. Zwar waren die moderne Demokratie, die technisch-industrielle Produktionsweise und der moderne Kapitalismus von England ausgegangen, und London war und blieb die größere Großstadt – Paris hatte 1881 2,3 Millionen, London 3,8 Millionen Einwohner – doch hatten sich die Kämpfe zwischen den Kräften des Fortschritts und den Mächten der Beharrung in Frankreich mit seinen vielen Revolutionen und seinem wiederholten Wechsel des politischen Systems auf dramatischere Weise gestaltet als in jedem anderen Land, und das heißt: in Formen, durch die Kunst und Literatur stärker in diese Kämpfe mit einbezogen und intensiver von den Problemen der Modernisierung erfaßt und durchdrungen wurden. So wurde Paris, die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin), schließlich auch zum Schauplatz der Revolutionen, aus denen die moderne Kunst hervorging.

      Das gilt für alle Künste, nicht nur für die Literatur, ganz besonders aber für die Bildende Kunst. Paris war der Ort, an dem 1874 mit einer spektakulären Ausstellung von Künstlern wie Edouard Manet (1832–1883), Paul Cézanne (1839–1906) und Claude Monet (1840–1926) der Siegeszug des Impressionismus begann, einer Schule der Malerei, die zur entscheidenden Station auf dem Weg der Kunst in die Moderne wurde. An ihrem Erfolg hatte übrigens auch Emile Zola, ein Schulfreund von Cézanne, seinen Anteil, hat er doch für die neue Malerei nicht weniger energisch gestritten als für die naturalistische Literatur. Und auch vieles von dem, was sich aus dem Impressionismus entwickelte, auch die Kunst des Fauvismus, Kubismus, Futurismus und Surrealismus verdankte sich wesentlich Entwicklungen in der Pariser Szene.

      Einzig in der Musik war Paris nur ein Schauplatz neben anderen; hier war Wien als Standort der „Zweiten Wiener Schule“, der Schule [<<87] von Arnold Schönberg (1874–1951), letztlich von größerer Bedeutung. Immerhin sah Paris mit der Uraufführung des „Sacre du Printemps“ (1913) von Igor Strawinsky (1882–1971) das Ereignis, das als der Durchbruch der Neuen Musik gilt. So mag Gertrude Stein Recht haben, wenn sie Paris zum „natürlichen Hintergrund der Kunst und Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts“ erklärt: „Paris was where the twentieth century was“.40

      Faktoren der literarischen Entwicklung

      Der Blick auf die französischen Wurzeln von Naturalismus und Symbolismus macht uns sogleich auf einige Momente aufmerksam, die für das Verständnis der Entwicklung von besonderer Bedeutung sind und die wir uns nicht entgehen lassen wollen. 1. Die moderne Literatur ist ein Kind der modernen Großstadt, ist eine Pflanze, die nur in dem Biotop der modernen großstädtischen Lebenswelt hat aufkommen und gedeihen können. 2. Sowohl ihre ersten Anfänge als auch viele weitere Entwicklungsschritte sind mit der Bildung kleiner und kleinster Zirkel von Gleichgesinnten verknüpft, die sich als Avantgarden, als Vorhut und Motor der Entwicklung verstehen und deren Mitglieder als Gruppe auftreten und in engstem Austausch zu Werke gehen. So überschaubar diese Gruppen auch sein und so elitär und esoterisch sie sich geben mögen – sie sind 3. von Anfang an über die Grenzen der Kulturräume hinweg vernetzt und verstehen sich 4. auf die Kunst, auf die Öffentlichkeit einzuwirken und ein breites Publikum zu beeindrucken und zu beschäftigen.

      Und 5. zeigt der Blick nach Paris, daß der Aufbruch in die Moderne nicht das Werk einer einzigen, mehr oder weniger homogenen literarischen Bewegung ist, daß hier gleich zwei Gruppierungen am Start sind, zwei Schulen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und die sich in einem von Kontroversen geprägten Neben- und Gegeneinander entfalten. Der Schritt in die Moderne ist ein Schritt in den Pluralismus, in eine Diversität der Interessen und Formensprachen, die es nicht mehr erlaubt, von einem einheitlichen Epochenstil zu sprechen. Dem allem sei nun im einzelnen nachgegangen. [<<88]

      3.1 Literatur und Großstadt

      Zentren der Moderne im deutschen Sprachraum

      Wir sind aus Riesenstädten, in der City, nur in ihr, schwärmen und klagen die Musen. (GBP 465)

      Die moderne Kunst ist die Kunst der modernen Großstadt. Wie sich ihre ersten Anfänge der urbanen Kultur der großen Stadt Paris verdanken, so hat sie sich von Metropole zu Metropole fortgepflanzt. Im deutschen Sprachraum sind es zunächst die großstädtischen Zentren Berlin, München und Wien, in denen sie Fuß faßt, später auch nicht ganz so große Großstädte wie Dresden, Düsseldorf und Köln, Frankfurt und Zürich. Die Zeit, in der Provinzstädte, kleine Residenzen und Universitätsstädte wie Weimar, Jena und Heidelberg den Ton in Sachen Literatur angeben konnten wie noch in der Goethezeit, scheint ein für allemal vorbei.

      Es gibt allerdings eine Ausnahme: das Bauhaus,41 jenes Zwischending zwischen Kunstgewerbeschule und Kunstakademie, das so ungemein bedeutsam für die Bildende Kunst, insbesondere für die Architektur und das Design der Moderne geworden ist; es ist zunächst in Weimar, später in Dessau angesiedelt. Und natürlich werden kleine Landstädte wie Céret in Südfrankreich und Murnau in Bayern immer einmal wieder zum Schauplatz der Sommerfrische von Künstlern, und damit zeitweilig zu Zentren des künstlerischen Lebens, doch ist ihre Bedeutung nur selten über die einer Dependance bestimmter großstädtischer Avantgardezirkel hinausgewachsen.

      Zur Geschichte des Verhältnisses von Literatur und Großstadt

      Nun sind Kunst und Literatur eigentlich immer schon in den großen Städten zuhause gewesen, schon in der Antike. Hier kommt am ehesten die kritische Masse von Wissen und Können zusammen, finden sich am ehesten die Talentschmieden, die Netzwerke, die Märkte und das Publikum, deren es bedarf, um eine Kunst von Rang entstehen zu lassen. So war die größte Stadt des antiken Griechenland, Athen, zugleich der wichtigste Standort seiner Kunst und Literatur. Ähnliches gilt von Alexandria und der Literatur des Hellenismus, von Rom und der Kunst der alten Römer und von dem „neuen Rom“ [<<89] Konstantinopel und der byzantinischen Kunst. Überall hier war die größte Stadt zugleich der wichtigste Schauplatz des künstlerisch-literarischen Lebens.

      Das änderte sich allerdings im Übergang von der Antike zum Mittelalter. Denn im gesamten Mittelalter und bis weit in die Frühe Neuzeit hinein gab es im europäischen Kulturraum keine Stadt vom Format des antiken Rom mehr – Rom selbst war von einer Millionenstadt auf weniger als 50.000 Seelen geschrumpft – und so mußten nun die großen Fürstenhöfe, später auch die eine oder andere Universitätsstadt und mittelgroße Stadtrepublik der Kunst die Metropole als Standort und Lebensraum ersetzen. Als aber die Modernisierung die europäischen Städte wieder in die Dimension von „Riesenstädten“ hineinwachsen ließ, kehrten Kunst und Literatur mit aller Selbstverständlichkeit in sie zurück – eine Entwicklung, die nicht vor dem 18. Jahrhundert begann und die zunächst auch nur London und Paris betraf, die beiden Städte, die bis 1800 immerhin schon die Größe von 960.000 bzw. 650.000 Einwohnern erreichten.

      Diese Rückkehr in die Großstadt ist freilich zunächst nur eine äußerliche, eine Rückkehr nur mit dem Körper des künstlerisch-literarischen Lebens, nicht auch mit dessen Seele. Denn mit der Seele suchten Kunst und Literatur im 18. Jahrhundert die Natur; nur da meinten sie noch des Wahren-Guten-Schönen habhaft werden zu können, wie es nach wie vor ihr oberstes Ziel war. In der großen Stadt erblickten sie einen Raum der Naturferne, ja den Ort, an dem sich der Mensch weiter von der Natur entfernt hätte als irgendwo sonst, einen Raum mehr oder weniger vollkommener Unnatur, und das hieß für sie: einen Ort, an


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