Briefe an einen jungen Dichter. Райнер Мария Рильке
nicht gerade krank, aber von einer influenz-artigen Mattigkeit bedrückt, die mich unfähig machte zu allem. Und schließlich, als es gar nicht anders werden wollte, fuhr ich an dieses südliche Meer, dessen Wohltun mir schon einmal geholfen hat. Aber ich bin noch nicht gesund, das Schreiben fällt mir schwer, und so müssen Sie diese wenigen Zeilen nehmen für mehr. Natürlich müssen Sie wissen, daß Sie mich mit jedem Briefe immer erfreuen werden, und nur nachsichtig sein gegen die Antwort, die Sie vielleicht oft mit leeren Händen lassen wird, denn im Grunde, und gerade in den tiefsten und wichtigsten Dingen, sind wir namenlos allein, und damit einer dem anderen raten oder gar helfen kann, muß viel geschehen, viel muß gelingen, eine ganze Konstellation von Dingen muß eintreffen, damit es einmal glückt.
Ich wollte Ihnen heute nur noch zwei Dinge sagen: Ironie:
Lassen Sie sich nicht von ihr beherrschen, besonders nicht in unschöpferischen Momenten. In schöpferischen versuchen Sie es, sich ihrer zu bedienen, als eines Mittels mehr, das Leben zu fassen. Rein gebraucht, ist sie auch rein, und man muß sich ihrer nicht schämen; und fühlen Sie sich ihr zu vertraut, fürchten Sie die wachsende Vertraulichkeit mit ihr, dann wenden Sie sich an große und ernste Gegenstände, vor denen sie klein und hilflos wird. Suchen Sie die Tiefe der Dinge: dort steigt Ironie nie hinab, – und wenn Sie 50 an den Rand des Großen führen, erproben Sie gleichzeitig, ob diese Auffassungsart einer Notwendigkeit Ihres Wesens entspringt. Denn unter dem Einfluß ernster Dinge wird sie entweder von Ihnen abfallen (wenn sie etwas Zufälliges ist), oder aber sie wird (so sie wirklich eingeboren Ihnen zugehört) erstarken zu einem ernsten Werkzeug und sich einordnen in die Reihe der Mittel, mit denen Sie Ihre Kunst werden bilden müssen.
Und das zweite, was ich Ihnen heute erzählen wollte, ist dieses:
Von allen meinen Büchern sind mir nur wenige unentbehrlich, und zwei sind sogar immer unter meinen Dingen, wo ich auch bin Sie sind auch hier um mich: die Bibel, und die Bücher des großen dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen. Es fällt mir ein, ob Sie seine Werke kennen. Sie können sich dieselben leicht verschaffen, denn ein Teil derselben ist in Reclams Universal-Bibliothek in sehr guter Übertragung erschienen. Verschaffen Sie sich das Bändchen »Sechs Novellen« von J. P. Jacobsen und seinen Roman »Niels Lyhne« und beginnen Sie des ersten Bändchens erste Novelle, welche »Mogens« heißt. Eine Welt wird über Sie kommen, das Glück, der Reichtum, die unbegreifliche Größe einer Welt. Leben Sie eine Weile in diesen Büchern, lernen Sie davon, was Ihnen lernenswert scheint, aber vor allem lieben Sie sie. Diese Liebe wird Ihnen tausend- und tausendmal vergolten werden, und wie Ihr Leben auch werden mag, – sie wird, ich bin dessen gewiß, durch das Gewebe Ihres Werdens gehen als einer von den wichtigsten Fäden unter allen Fäden Ihrer Erfahrungen, Enttäuschungen und Freuden.
Wenn ich sagen soll, von wem ich etwas über das Wesen des Schaffens, über seine Tiefe und Ewigkeit erfuhr, so sind es nur zwei Namen, die ich nennen kann: den Jacobsens des großen, großen Dichters, und den Auguste Rodins, des Bildhauers, der seinesgleichen nicht hat unter allen Künstlern, die heute leben.
Und alles Gelingen über Ihre Wege!
Ihr:
Viareggio bei Pisa (Italien), am 23. April 1903
Sie haben mir, lieber und geehrter Herr mit Ihrem österlichen Briefe viel Freude gemacht; denn er sagte viel Gutes von Ihnen, und die Art, wie Sie über Jacobsens große und liebe Kunst sprachen, zeigte mir, daß ich nicht geirrt habe, als ich Ihr Leben und seine vielen Fragen an diese Fülle führte.
Nun wird sich Ihnen »Niels Lyne« auftun, ein Buch der Herrlichkeiten und der Tiefen; je öfter man es liest: es scheint alles darin zu sein von des Lebens allerleisestem Dufte bis zu dem vollen, großen Geschmack seiner schwersten Früchte. Da ist nichts, was nicht verstanden, erfaßt, erfahren und in des Erinnerns zitterndem Nachklingen erkannt worden wäre; kein Erleben ist zu gering gewesen, und das kleinste Geschehen entfaltet sich wie ein Schicksal, und das Schicksal selbst ist wie ein wunderbares, weites Gewebe, darin jeder Faden von einer unendlich zärtlichen fand geführt und neben einen anderen gelegt und von hundert anderen gehalten und getragen wird. Sie werden das große Glück erfahren, dieses Buch zum ersten Male zu lesen, und werden durch seine unzähligen Überraschungen gehen wie in einem neuen Traum. Aber ich kann Ihnen sagen, daß man auch später immer wieder als derselbe Staunende durch diese Bücher geht und daß sie nichts von der wunderbaren Macht verlieren und nichts von der Märchenhaftigkeit aufgeben, mit der sie den Lesenden das erste Mal überschütten.
Man wird nur immer genießender an ihnen, immer dankbarer, und irgendwie besser und einfacher im Schauen, tiefer im Glauben an das Leben und im Leben seliger und größer.
Und später müssen Sie das wunderbare Buch vom Schicksal und Sehnen der Marie Grubbe lesen und Jacobsens Briefe und Tagebuchblätter und Fragmente und endlich seine Verse, die (wenn sie auch nur mäßig übertragen sind) in unendlichem Klingen leben. (dazu würde ich Ihnen raten, gelegentlich die schöne Gesamtausgabe von Jacobsens Werken – die alles das enthält – zu kaufen. Sie erschien in drei Bänden und gut übertragen bei Eugen Diederichs in Leipzig und kostet, soviel ich glaube, nur fünf oder sechs Mark pro Band.)
Mit Ihrer Meinung über »Hier sollten Rosen stehen…«(dieses Werk von so unvergleichlicher Feinheit und Form) haben Sie natürlich gegen den, der die Einleitung geschrieben hat, ganz, ganz unantastbar recht. Und es sei hier gleich die Bitte gesagt: Lesen Sie möglichst wenig ästhetisch-kritische Dinge, – es sind entweder Parteiansichten, versteinert und sinnlos geworden in ihrem leblosen Verhärtetsein, oder es sind geschickte Wortspiele, bei denen heute diese Ansicht gewinnt und morgen die entgegengesetzte. Kunst-Werke sind von einer unendlichen Einsamkeit und mit nichts so wenig erreichbar als mit Kritik. Nur Liebe kann sie erfassen und halten und kann gerecht sein gegen sie. Geben Sie jedesmal sich und Ihrem Gefühl recht, jeder solchen Auseinandersetzung, Besprechung oder Einführung gegenüber; sollten Sie doch unrecht haben, so wird das natürliche Wachstum Ihres inneren Lebens Sie langsam und mit der Zeit zu anderen Erkenntnissen führen. Lassen Sie ihren Urteilen die eigene stille, ungestörte Entwicklung, die, wie jeder Fortschritt, tief aus innen kommen muß und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann. Alles ist austragen und dann gebären. Jeden Eindruck und jeden Keim eines Gefühls ganz in sich, im Dunkel, im Unsagbaren, Unbewußten, dem eigenen Verstande Unerreichbaren sich vollenden lassen und mit tiefer Demut und Geduld die Stunde der Niederkunft einer neuen Klarheit abwarten: das allein heißt künstlerisch leben: im Verstehen wie im Schaffen.
Da gibt es kein Messen mit der Zeit, da gilt kein Jahr, und zehn Jahre sind nichts, Künstler sein heißt: nicht rechnen und zählen; reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht ohne die Angst, daß dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch. Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit. Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles!
Richard Dehmel: Mir geht es mit seinen Büchern (und nebenbei gesagt auch mit dem Menschen, den ich flüchtig kenne) so, daß, wenn ich eine seiner schönen Seiten gefunden habe, ich mich immer vor der nächsten fürchte, die alles wieder zerstören und das Liebenswerte in Unwürdiges verkehren kann. Sie haben ihn ganz gut charakterisiert mit dem Wort: »brünstig leben und dichten«. Und tatsächlich liegt ja künstlerisches Erleben so unglaublich nahe am geschlechtlichen, an seinem Weh und seiner Lust, daß die beiden Erscheinungen eigentlich nur verschiedene Formen einer und derselben Sehnsucht und Seligkeit sind. Und wenn man statt Brunst – Geschlecht sagen dürfte, Geschlecht im großen, weiten, reinen, durch keinen Kirchenirrtum verdächtigten Sinne, so wäre seine Kunst sehr groß und unendlich wichtig. Seine dichterische Kraft ist groß und wie ein Urtrieb stark, sie hat eigene rücksichtslose Rhythmen in sich und bricht wie aus Bergen aus ihm aus.
Aber es scheint, daß diese Kraft nicht immer ganz aufrichtig und ohne Pose ist. (Aber das ist ja auch eine der schwersten Prüfungen an dem Schaffenden: er muß immer der Unbewußte, der Ahnungslose seiner besten Tugenden bleiben, wenn er diesen nicht ihre Unbefangenheit und Unberührtheit nehmen will!) Und dann, wo sie, durch sein Wesen rauschend, zum Geschlechtlichen kommt, da findet sie keinen ganz so reinen Menschen, wie sie ihn brauchte. Da ist keine ganz reife und reine Geschlechtswelt, eine, die nicht menschlich