Bobbie oder die Liebe eines Knaben. Hugo Bettauer
in der Hand, gedankenvoll auf dem Bettrande sitzen und sprach in sich hinein:
»Ich habe jetzt am gedeckten Tisch gesessen und hätte essen können, was ich wollte. Und nun bin ich in meinem Zimmer und werde mich in ein weiches, weißes Bett legen, um morgen früh zu einem guten Frühstück aufzustehen. Gertie ist aber irgendwo tot oder krank, oder böse Menschen tun ihr etwas, schlagen und mißhandeln sie. Vielleicht liegt sie jetzt in einem Gefängnis auf dem harten Steinboden, hat nur Wasser und schimmliges Brot – und Mäuse, vor denen sich Gertie immer so fürchtet, huschen ihr über die Beine. Und vielleicht weint und schreit sie nach ihrer Mama und nach mir. Sicher tut sie das, denn Gertie ist ja eigentlich meine Braut, weil sie doch weiß, daß ich sie, wenn ich erst groß bin, unbedingt heiraten werde, und weil sie mich so lieb hat, wie ich sie.«
Einer plötzlichen Eingebung folgend, sprang Bob auf. Er ging an das offene Fenster und sah in den Abend hinaus. Es war schon ganz dunkel draußen, aber der Himmel stand voller Sterne, es war herrlich warm und vom Park her dufteten die Tuberosen und Hyazinthen. Und Bob tat nun etwas, was er unter anderen Umständen als braver, kleiner Junge nie getan hätte. Schlich leise die Treppe hinab, nahm aus dem Garderoberaum unten in der Halle den Hausschlüssel und verließ ungesehen und verstohlen die Villa. Leer, durch wenige Laternen schlecht erhellt, lag der Park vor ihm. Aber Bob richtete sich stramm auf, um kein Angstgefühl aufkommen zu lassen, und ging hinein. Niemand war zu sehen. Nur auf den Bänken saßen fast immer zwei Leute, Mann und Frau, die sich umschlungen hielten, und Bob dachte:
»Sicher sind das arme Ehepaare, die häßliche kleine Wohnungen haben und sich nun hier erholen. Es ist sehr nett von den Leuten, daß sie sich gerne haben. Wenn ich groß bin, will ich mit Gertie auch so sitzen, aber nicht im Park, wo fremde Leute einen sehen, sondern zu Hause auf dem Sofa.«
Auf und ab wandelte Bob durch alle die vielen sichkreuzenden Wege und Alleen; über den Spielplatz ging er und pfiff von Zeit zu Zeit die drei Töne vor sich hin, die für Gertie das Signal zu sein pflegten, mit dem er sie an das Fenster lockte.
Nichts, kein Echo, keine Antwort, keine Gertie! Bob begann das Unsinnige dieses nächtlichen Ausfluges einzusehen, ging wieder heim und gelangte abermals unbemerkt in sein Zimmer, wo er sich nun rasch entkleidete und todmüde ins Bett schlüpfte.
Eine schreckliche Nacht kam für den kleinen Jungen, so entsetzlich und schmerzvoll, wie er nie gedacht hatte, daß eine Nacht sein könnte. Wüste Träume verfolgten seinen ersten Schlummer. Er sah Gertie vor sich, wie sie blutüberströmt vor ihm herlief. Er hinter ihr her, ein Messer schwingend. Endlich erreichte er sie, stieß ihr das Messer in den Rücken, worauf Gertie ihn groß ansah und lispelte: »Bobbie, daß du es bist, der mir so weh tut!« Da schrie Bob in Verzweiflung gellend auf, so daß er von diesem Schrei erwachte. Und es dauerte Sekunden, bevor es ihm klar war, daß dies nur ein Traum gewesen. Schweißgebadet lag er in seinem Bett und erinnerte sich, daß er sein Nachtgebet zu sprechen vergessen hatte. Bob kroch aus dem Bette, kniete, was er sonst nie tat, nieder und rief schluchzend seinen Herrgott an, er möge nicht dulden, daß Gertie ein Leid geschehe. »Lieber Gott,« sagte er, »allen Menschen will ich nunmehr Freude machen, bescheiden und gut will ich sein, nie jemanden kränken und ärgern, wenn du machst, daß Gertie wiederkommt.«
Plötzlich kam es ihm zum Bewußtsein, daß er auch gegen Gertie nicht immer ganz nett gewesen sei. Einmal hatte er sie angeschrien, weil sie an seinem Flaubertgewehr etwas in Unordnung gebracht hatte, sehr oft hatte er sie verspottet, wenn sie von der Gleichberechtigung der Frauen sprach und glühend behauptete, daß Mädchen ebenso klug seien wie Jungens. Und dann vor wenigen Tagen erst hatte er Gertie seine Mineraliensammlung gezeigt, in der sich ein schöner, großer Opal befand. Gertie hatte diesen lange in ihren Händen gehalten und dann seufzend gesagt: »Der ist schön, da ließe sich ein feiner Anhänger daraus machen.« Wohl hatte es in ihm gezuckt und er wollte ihr den Stein schenken, aber der kleine Teufel, diesmal der Geizteufel, der, wie der Herr Pfarrer immer zu sagen pflegte, in jedem Menschen irgendwo sein Spiel treibe, verhinderte ihn und ruhig hatte er den Opal wieder in den Kasten getan.
»O Gertie,« schluchzte nun Bob, »wie leid mir das tut! Die ganzen Tage über hat es mir schon leid getan, daß ich so häßlich und geizig war! Gertie, komm‘ nur zurück, dann bekommst du alles, was ich habe, und auch den Hund kaufe ich nicht für mich, sondern für dich!«
Bob konnte dann stundenlang nicht einschlafen.
Unaufhörlich kreisten seine Gedanken um die Ereignisse des heutigen Tages, der so schön begonnen und so grauenhaft geendet hatte. Er bemühte sich, ruhig und folgerichtig alles zu überdenken, und kam zu dieser Erwägung: Ein Unfall konnte Gertie nicht widerfahren sein, weil das Menschen gesehen und gemeldet hätten. Das Verschwinden Gerties mußte sich ja innerhalb einer Strecke von kaum mehr als einer viertel Meile abgespielt haben. Also war Gertie einfach geraubt worden. Aber wer raubt kleine Mädchen?
Hier stießen Bobs Gedanken an eine unüberbrückbare Mauer. Sein unschuldvolles Gemüt ahnte nichts von den verbrecherischen Instinkten verderbter Menschen, von den bestialischen Trieben kranker Wüstlinge. Aber er hatte Geschichten von Zigeunern gelesen, die Kinder entführen, um sie für ihre Wandertruppen abzurichten. Bobs Klugheit sträubte sich gegen solche Vermutungen. Gertie war schließlich kein Baby mehr, das sich willenlos wegschleppen ließ. Und dann hätte man ja solche Zigeuner in dieser stillen, ruhigen Gegend auch bemerken müssen. Dann erinnerte er sich daran, daß vor kurzer Zeit die Zeitungen berichtet hatten, wie die Tochter eines amerikanischen Bankiers von Männern geraubt worden war, die für ihre Freigabe ein riesiges Lösegeld erpreßten. Bob mußte lachen. Solche Leute würden vorher wohl genau die Vermögensverhältnisse der Eltern erforschen und nicht das Kind einer armen Offizierswitwe rauben, die ein Lösegeld gar nicht zahlen konnte. Nein, wären es Erpresser, Mitglieder einer Verbrecherbande gewesen, dann hätten sie wohl ihn, den einzigen Sohn des reichen Fabriksbesitzers, geraubt, aber nicht die arme, kleine Gertie.
Der Morgen dämmerte heran und die ersten Sonnenstrahlen fielen schräge auf die dunklen Locken Bobs, als er endlich eingeschlafen war. Diesmal verfolgte ihn aber im Traum das holde Bild Gerties, neben der ein furchtbar häßlicher Kerl mit Pockennarben im grinsenden Gesicht auftauchte.
VIII. Kapitel. Der Fall Gertie Sehring
Sämtliche Morgenblätter beschäftigten sich schon mit dem Fall Gertie Sehring. Die meisten begnügten sich allerdings mit der polizeilichen Darstellung, die kurz und bündig das Verschwinden des kleines Mädchens sowie eine genaue Personsbeschreibung enthielt und jedem, der zur Aufklärung der Sache beitragen würde, eine hohe Belohnung zusicherte. Nur die »Morgenpost« machte das Verschwinden Gertie Sehrings zu einer Sensationsangelegenheit. In einem sehr lebhaft geschriebenen Artikel wies sie auf die vorhergegangenen zwei fast gleichen Fälle hin und schrieb:
»Es ist also ganz klar, daß in unserer Mitte ein menschliches Ungeheuer sein Unwesen treibt, das systematisch darauf ausgeht, Kinder zu rauben. Da es sich aber immer wieder um auffällig hübsche Kinder weiblichen Geschlechtes handelt, so dürfte der Zweck solchen Menschenraubes klar sein. Um so furchtbarer muß jeder Mutter in dieser Stadt der Gedanke sein, daß auch ihr Kind ein ähnliches Schicksal finden könnte. Der Fall der kleinen Sehring ist geeignet, die größte Beunruhigung unter den Müttern wie unter den Kindern hervorzurufen. Nur unsere verehrliche Polizei scheint sich nicht zu beunruhigen. Sie hat die Räuber der seit Monaten verschwundenen Mädchen nicht entdeckt, sie wird auch das Scheusal nicht finden, das Gertie Sehring verschleppt hat. Wir lenken hiermit die Aufmerksamkeit des Ministers des Innern auf die ersichtliche Unfähigkeit unserer Sicherheitspolizei, Verbrechen zu verhüten und Verbrecher zu entdecken.«
Ein zweiter Artikel behandelte den Fall Sehring vom Standpunkte des kriminalistischen Fachmannes. Alle möglichen Fälle gleicher Art, die sich hier und anderwärts zugetragen hatten, wurden darin aufgezählt und alle möglichen Motive zum Menschenraub erörtert. Der Verfasser kam zum gleichen Schlusse wie Bob.
»Hier kann es sich nicht um die Tat einer Erpresserbande handeln, da aus Frau Sehring, einer in dürftigen Verhältnissen lebenden Witwe, nichts herauszuholen ist. Nein, aller kriminalistischen Erfahrung nach ist das unglückliche Kind das Opfer eines Menschen geworden, dem der Besitz des Mädchens gewissermaßen Selbstzweck und nicht Mittel zum Zweck ist. Der Spielgefährte