Claus Störtebecker. Georg Engel

Claus Störtebecker - Georg  Engel


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dem alten Claus Beckera ging eine Veränderung vor, seit der wirblige Gesell in seiner Nähe weilte. Bisher war der Riese verfallen, still, selbstverständlich und unablässig wie der Wartturm einer zerstörten Feste, aus dessen Gemäuer Tag für Tag gewichtige Feldsteine herabbröckeln. Was nützte es, laute Klage über die erbärmliche Schwäche zu führen? Viel besser war es, die Fäuste zu ballen, die Zähne zusammenzubeißen und selbst dem Bruder Franziskus, der ab und zu den schmerzenden Rücken des Kranken mit dem weißen Saft des Bilsenkrautes einzureiben suchte, eine täuschende Behaglichkeit vorzuspiegeln. Der Mörtel aber sprang weiter auseinander, und der Turm neigte sich tiefer zum Fall. Nun aber wurde es anders. Gott mochte wissen, wieso Heino Wichmann einen Blick in die Heilkunde seiner Zeit geworfen hatte. Fragte man ihn danach, so schlenkerte er mit den feinen Händen und murmelte etwas von den Meistern »der Physik und der Erztney«, was niemand um ihn herum begriff. Was man jedoch nicht leugnen konnte, das war die Wirksamkeit jener Mittel, die er mit seiner sprunghaft lachenden Überredung bei dem Kranken anwandte. Sprachlos standen die Häusler hinter dem ewig Zappligen, sobald er den überwundenen Riesen halb entkleidet in den sonnenwiderstrahlenden Dünensand bettete, wo er den mächtigen Körper dann mit seinen zarten Kinderhänden kreiselnd und wärmend bestrich. Und siehe da, auf ein paar Stunden wichen die schweren Erstickungsanfälle von dem Alten, und der Leidende vermochte sich aufzurichten, um gierig die kühle Seeluft einzusaugen. Als aber der Herbst seine dunklen Hagelschwärme gegen die Hütte warf und der Hustenkrampf die Lungen des Riesen zu zerpressen anfing, da versuchte der Strohblonde sein Meisterstück. Eines Mittags brachte er nämlich aus dem Wald zwei schwarze, schneckengleiche Würmer mit. Die hielt er zwischen zusammengeballten Fäusten, und sie mußten so dem sich kräftig sträubenden Hausherrn ihre Saugrüssel auf die nackte Brust setzen. Langsam füllten sich die schreckhaften Leiber mit dem fieberheißen Blut, und vor den Augen der erstaunten Angehörigen dehnten sich die verkrampften Glieder des Vaters, und ein befreiter Seufzer der Entspannung tönte durch die Hütte. Fast eine Woche lang war der gefürchtete Anfall beschworen.

      So wechselten Weiß und Grün unter den Rändern des hohen Küstenwaldes, die Tage strichen dahin gleich einer Rebhühnerhusche, einer hinter dem andern, und Heino Wichmann fing sich jeden einzelnen ein, um ihm vor den Augen der Häusler sein besonderes Kennzeichen aufzudrücken. Immer geschah etwas. Die Zeit bildete für die einsamen Strandsassen keine gestaltlose Masse mehr, sondern die Unruhe des neuen Ruderknechtes trennte sogar die einzelnen Stunden scharf voneinander ab.

      In jenen Monaten war es, daß in den jungen Nikolaus ein unbegreifliches Wachstum geriet. Der schlanke Leib des Burschen schoß sprunghaft in die Höhe, bald überragte sein braunes Lockenhaupt um eine Spanne das sich duckende des Vaters, seine Haltung erhielt etwas Gestrafftes, ja Königliches, sein Gang etwas Anmutiges und zugleich Herausforderndes, und seine Augen konnten plötzlich neben dem wilden Umherflackern einen schwärmerischen Glanz bergen, der über die Dinge dieser Welt hinauszuschweifen schien und etwas von dem unbewegten Flug eines träumenden Adlers an sich hatte. Und der arme, von unruhigen Geistern geplagte Sassensohn badete sich wirklich in den Breiten eines neuen Lichtes.

      Heino Wichmann!

      Heino Wichmann war für den wilden, durstigen Jungen ein Zauberer, der die schmale Kinderhand nur emporzuwerfen brauchte, damit Sterne und Mond stillstanden und auf den Winden von allen Weltteilen her das Wissen Salomos herbeigeflogen kam. Wenn sich die beiden Unzertrennlichen in dem plumpen Kahn unter dem roten Segel wiegten oder wenn sie im Abendrot hoch oben auf den Hängen der Dünen lagen, dann schwand wie von selbst die lächerliche Maskierung des angeblichen Ruderknechtes, die bäuerliche Sprache tauchte unter, und aus den braunen Lumpen trat ein anderer hervor. Derselbe, der einst die goldene Kette und den welschen Hieber getragen, derselbe, der mit seiner hauchenden Mädchenstimme spöttische Gelehrsamkeit von sich schleuderte und für den es weder Unergründetes noch scheue Ehrfurcht vor etwas Geschaffenem gab. In solchen Stunden der Mitteilung konnte man deutlich merken, wie auch für das kleine Kerlchen jenes unbändige Ausgeschöpftwerden ein nicht zu entbehrendes Lebensbedürfnis bildete, ja, daß er sich trotz seines wegwerfenden Lächelns voll Eitelkeit und Stolz in sich selber spiegelte, sobald sein Zögling sich über ihn beugte gleich über einen tiefen Brunnen, in den man ungestüm Eimer auf Eimer hinabläßt. Da kam dann quellend und perlend Trank um Trank hervor, klar und schlammig, unverdaulich und heilsam, als ob in diesen Brunnen alle Quellen der Erde mündeten. Von dem nächsten fing es an. Claus erfuhr, in welchem Volk er lebte, wie sich die Stände und Ämter teilten, wo Unrecht und Bedrückung anhob und worin sich sein Stamm von den anderen großen Menschengemeinschaften unterschied. Von da gelangten sie ganz von selbst auf Ausdruck und Redeweise der Länder, die Musik der welschen Sprachen, die Heino Wichmann vollkommen beherrschte, klang vor dem entzückten Knaben auf, und er lernte auch latina lingua verehren, die Urmutter dieser Laute, und in verhaltener Begeisterung schaute er in das Sein und Treiben jener untergegangenen Geschlechter hinab, die mit diesen Lauten der alten Welt ihre Gesetze vorgeschrieben. Helden und Weise zogen vorüber, Religionsstifter und Abtrünnige, und ohne daß der Wissensdurstige es ahnte, wurden von dem ätzend scharfen Erzähler Menschen und Dinge alle zu dem einen Ziele gelenkt, wie sie nämlich der Befreiung und Entbürdung der nach Licht und Brot ringenden Armen und Elenden gedient hätten. Denn dieses kleine strohblonde Zwerglein sah, ohne jemals erregt zu werden, und obwohl es selbst sich keinen erlangbaren Genuß entgehen ließ, überall seufzende Scharen der Sklaverei um sich her, viele Millionen gefesselter und gestriemter Unfreier, von denen er verkündete, daß sie nie sterben würden. Und wahrhaft schneidend und fürchterlich klang sein feines Gelächter, sooft er im Gegensatz zu allem Herkommen die gepriesenen Bringer des Heils und der Ordnung, den Kaiser, der doch den Landfrieden befohlen, die Priester, die doch den Verängstigten die Vergebung der Sünden reichten, vor allen Dingen jedoch die Richter, die doch an Gottes Statt die ewige Gerechtigkeit unter den Völkern aufrichten sollten, für die schlimmsten Vergewaltiger und Bedrücker der in Dummheit blökenden Erde erklärte. Entrückt, von aller Gegenwart fortgeschwungen, krallte sich dann Claus in den mütterlichen Sandboden, sein Atem schoß, als ob er Mauern niederbrechen müßte, in seinen starren Augen züngelte der niedergehaltene Glast von Blut, Einäscherung und Gewalttat, und doch bebten alle seine Glieder im Frost der Angst, und das kalte Fieber des Zweifels und der Unentschlossenheit stieß den Unreifen doch immer zurück in die Schranken des Brauches und des Herkommens. In solchen Augenblicken der Qual und des glühenden Wunsches packte er seinen Verführer oft an der Brust und schüttelte den Kleinen, als ob er ihm das Herz aus dem Leibe schleudern wollte, dazu schreiend:

      »Was bleibt uns? Heino, um aller Heiligen willen, sag an, was muß uns allen werden? Was?« Denn der suchende Verstand des Jungen wollte den Weg finden zwischen Gestern und Morgen, eine Brücke, die über das Gewitter fortleitete.

      Heino Wichmann aber ließ sich, unberührt von diesem Ausbruch, in das weiche Dünenlager zurückgleiten, lächelte mit seinen bartlosen Lippen gegen das in den Himmel flüchtende Abendrot und lispelte kaltblütig und grausam:

      »Wer kennt die Medizin für alle? Aber für mich und dich, Büblein, ist am besten ein seidener Pfühl, und saufen und prassen bis in den achten Tag.«

      Da heftete Nikolaus einen verlöschenden Blick auf den sich genießerisch dehnenden Kleinen, warf das Haupt gegen die dunkle See und saugte in Verzweiflung an den ewig tränkenden Strömen.

      Ekel, unerkanntes Mitleid mit einer zu erlösenden Welt und das rasende Verlangen, sich zu verschwenden, stritten in der sich weitenden Seele.

***

      Es kam eine Stunde, da der Hochmut des Knaben es nicht mehr länger duldete, von dem Genossen noch fernerhin in Unkenntnis und Täuschung gehalten zu werden. Ganz früh an einem tauperlenden Herbstmorgen war es. Die Sonne rollte eben aus ihren verhängten Schleiern durch das dunkelblaue zackige Gewölbe. Weit über dem Schlaf der See übten die schwarzen Streifen der Stare schon für den kommenden Abzug. Und hoch oben an dem hallenden Rand des Küstenwaldes klang die Axt. Dort hieb der junge Claus ein paar schlanke Eichenstämme nieder, denn sie sollten ihm zu neuen Ruderstangen dienen. Aber mitten in der Arbeit schleuderte Claus die Axt auf den Waldboden, schnellte empor, und während er sich die Fäuste in die Weichen setzte, forderte er dröhnend, ohne Übergang noch Einleitung:

      »Genug Verstellung. Du bist kein Ruderknecht, Heino. Du bist keiner. Woher käme dir sonst all die Gelahrtheit? Nun schnell


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