Ille mihi. Elisabeth von Heyking
Waldumgebung verschwand, und die Gegend fremd, wie ein neues Leben, wurde, hatte das krampfartige Weinen Ilse noch einmal gepackt, stumm und unbeholfen saß Herr von Zehren ihr gegenüber, in dem großkarrierten Reisemantel und einer ebensolchen Mütze, die für seinen Kopf etwas zu weit war. Seine langen, ungelenken Beine sprangen über den Sitzplatz weit vor, so daß seine mageren Kniee ihr Kleid streiften. Er tat ihr plötzlich leid, so daß sie noch schluchzend sagte: »Du mußt mir nicht böse sein.« Und Theophil antwortete feierlich: »Ich achte deine Gefühle, liebes Kind; sie sind mir eine Bürgschaft für die Zukunft, denn eine anhängliche Tochter wird sicher auch eine pflichttreue Frau werden.« – Da schlug Ilses Weinen unvermittelt in Lachen über, und sie rief: »Oh Theophil, genau dasselbe hat ja der Pastor heute früh bei der Trauung gesagt.« – »Ja,« antwortete er gemessen, »es war eine gute Rede – und nun – da wir ja hier allein sind, gestattest du wohl, daß ich mir eine Zigarre anzünde, ich kam nach dem Dejeuner nicht mehr dazu, und sie fehlt mir nach dem Essen.«
Abends spät trafen sie in Berlin ein. Dort wollten sie die Nacht bleiben und am nächsten Morgen weiterreisen nach Weltsöden.
Und nun war der nächste Morgen gekommen, wie auch solche Morgen schließlich einmal kommen. – Sie standen unten im Bahnhof Friedrichstraße. Ihr Mann nahm die Billette und gab das Gepäck auf. Er hatte nicht viel Übung im Reisen und schien nervös und hastig. Dadurch dauerte es sehr lange. Sie wartete etwas abseits beim Handgepäck. Mit großen Augen, in denen ein neuer, erschreckter Ausdruck lag, starrte sie vor sich hin. Unaufhörlich fuhren Droschken vor. Koffer, die von dem noch immer niederströmenden Regen durchnäßt waren, wurden von draußen angeschleppt und dann am Gepäckschalter nach den verschiedensten Weltgegenden aufgegeben – arme, zerstoßene, in dem grauen Wetter kläglich aussehende Dinge, die willenlos hierhin, dorthin mußten, nach fremdem Geheiß. Ist man denn selbst etwas so sehr anderes? dachte Ilse.
»Guten Morgen, gnädigstes Fräulein!« tönte es da plötzlich an ihr Ohr.
Überrascht wandte sie sich um.
»Herr von Walden?« sagte sie erstaunt und empfand wieder bei seinem Anblick jenes unerklärliche Gefühl, als habe sie ihn schon lange gekannt und fände ihn wieder.
Er hatte die Zigarette, die er rauchte, fortgeworfen und war zu ihr getreten; sie fühlte, daß er sie forschend betrachtete.
»Welch reizendes Zusammentreffen,« sagte er, »aber kann ich Ihnen nicht vielleicht irgendwie behilflich sein?«
»Oh nein, ich danke Ihnen,« antwortete sie, »ich warte nur … auf … die Billetts. Aber,« setzte sie hastig hinzu, »was tun Sie hier? verreisen Sie?«
»Ja,« antwortete er, »mein Urlaub ist abgelaufen, und ich stehe gerade im Begriff, mich auf meinen neuen Posten zu begeben – nach Marokko.«
»Ach,« rief Ilse sehnsüchtig, »wie schön muß das sein, solche Reisen machen zu können.«
»Ich freu mich auch sehr darauf,« sagte er, »aber Sie selbst, gnädigstes Fräulein, reisen doch auch, was ist denn Ihr Ziel?«
»Wir … wir fahren … nach …«
In diesem Augenblick kam Theophil, erregt und geschäftig, vom Gepäckschalter zurück. »Na endlich ist das erledigt,« sagte er, »was hat man mit den Kerls für eine Schererei! Nun komm aber rasch hinauf, liebes Kind! Da hast du dein Billett, du mußt es oben vorzeigen – aber verlier es nur nicht.« Jetzt erst gewahrte er Walden, der neben Ilse stand und verwundert von ihr zu ihm schaute, »Was, sie sind da, Walden? Guten Tag! Guten Tag! Aber verzeihen Sie! Wir müssen schnell hinauf!«
»Ja, mit welchem Zuge reisen Sie denn?«
»Schnellzug nach Sandhagen.«
»An der Ostbahn? Oh, da haben Sie noch Zeit. Na, ich begleite Sie hinauf, mein Zug geht ein paar Minuten nach dem Ihrigen.«
Während Herr von Zehren mit langen Schritten voranstürmte, hatte Walden Ilses Handtäschchen genommen und schritt neben ihr die Treppe hinauf.
»Also Sie sind schon verheiratet?« sagte er, und in seiner Stimme war jetzt ein anderer Klang.
»Ja,« antwortete sie leise, »seit gestern.«
»Wie … seltsam … ist doch das Leben,« murmelte er vor sich hin, und dabei fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er irgend eine Vorstellung verscheuchen.
Und wieder fühlte sie, daß er sie einen Augenblick forschend betrachtete, als läse er in ihren Zügen etwas Neues, etwas, das gestern noch nicht darin gestanden.
Da senkte sie die Augen.
Als sie wieder aufblickte, waren sie oben in der großen Bahnhofshalle angelangt. Er schaute sie jetzt nicht mehr an, sondern sprach mit Theophil.
»Ein interessantes Land, Ihr neuer Posten!« hörte sie ihren Mann zu Walden sagen.
»Ja,« antwortete dieser, »und eines der letzten, wo noch nicht alles an andere vergeben ist – es wäre schön, wenn sich da etwas für Deutschland machen ließe.
»Na, na,« meinte Theophil, »machen Sie man dort vor allem keine Verwicklungen! Schwärmer wie Sie haben schon oft Feuer und Blut über die Welt gebracht, und das Fatale bei solchen Geschichten ist, daß wir Steuerzahler nachher dafür aufkommen müssen, und daß die sozialdemokratischen Stimmen dadurch anwachsen.«
»Ich gehe ja nur als bescheidener Sekretär hin,« erwiderte Walden lachend, »da werde ich schwerlich Gelegenheit haben, ein Muspili zu entfachen.«
»Na Gottlob!« sagte Theophil und setzte dann hinzu: »Und wenn Sie das nächstemal auf Urlaub kommen, so besuchen Sie uns doch in Weltsöden.«
»Es wäre schon möglich, daß ich mal in Ihre Gegend käme,« antwortete Walden, »mein früherer Chef, Helmstedt, ist doch wohl Ihr Nachbar?«
»Sogar mein allernächster. Aber er ist bisher immer nur kurz dagewesen – die Gräfin hat, fürchte ich, keinen rechten Sinn für unser norddeutsches Landleben – aber vielleicht sind sie jetzt nach seinem Rücktritt mehr in Frohhausen.«
Doch da donnerte der Zug auch schon dröhnend und dampfend in die Halle. Die Waggontüren flogen auf. Eilige Menschen stiegen aus den Wagen, noch eiligere klommen hinein. Hurtige Träger belegten Plätze mit Handgepäck.
Nun lehnte Ilse am offenen Fenster ihres Abteils. Walden stand mit abgenommenem Hute unten auf dem Bahnsteig.
»Also – gute Fahrt!« rief er hinauf.
»Ihnen auch – glückliche Reise,« antwortete sie von oben.
Dann ging es wie ein plötzliches Erschauern durch die lange Reihe großer schwerer Wagen. Der Zug setzte sich in Bewegung.
Ilse schaute noch einmal zurück, und da war ihr, als habe sich Waldens Gesicht in dieser Sekunde völlig verändert – woher kam das Mitleid, die Trauer, die Ungeduld, in die sie da blickte? Wozu machte er die paar raschen Schritte dem Zuge nach, als wolle er ihn anhalten? Was hatte das zu bedeuten?
Aber schon waren sie aus der Bahnhofshalle heraus, ehe sie recht wußte, ob sie das alles denn auch wirklich gesehen hatte.
»Seltsam,« sagte sie sinnend, »wie wir diesem Herrn von Walden begegnen! Zuerst gleich nach unserer Verlobung und jetzt wieder gleich nach unserer Hochzeit – hat es nicht etwas – etwas Schicksalhaftes?«
»Schicksal,« antwortete ihr Mann, »ist ein Wort, das man nicht gebrauchen sollte – wir haben Pflichterfüllung und Gottvertrauen.«
Dabei zog er aus der Tasche seines großkarrierten Mantels die Kreuzzeitung, schob sie Ilse hin und vertiefte sich dann selbst in eine Broschüre über die Maul- und Klauenseuche.
Ilse hatte sich in die entfernteste Wagenecke gesetzt, wo seine weit vorspringenden Kniee ihr Kleid nicht streifen konnten. Sie schloß die Augen.
Es war später Nachmittag, als der Zug in Station Sandhagen hielt. Aus den tief hängenden Wolken drieselte ein feiner kalter Regen herab auf das weite, sandige, ewig dürstende Land. Ganz flach dehnte es sich aus, nur stellenweise anschwellend zu einstmaliger Dünenbildung. Kümmerliche, nordischem Krummholz gleichende Kiefern wuchsen da kärglich,