Selbstbiografie. Heinrich Schliemann

Selbstbiografie - Heinrich  Schliemann


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von jenem Augenblick an fühlte ich eine grenzenlose Energie und das feste Vertrauen in mir, daß ich durch unermüdlichen Eifer in der Welt vorwärtskommen und mich Minnas würdig zeigen werde. Das einzige, was ich damals von Gott erflehte, war, daß sie nicht heiraten möchte, bevor ich mir eine unabhängige Stellung errungen haben würde.

      Fünfundeinhalbes Jahr diente ich in dem kleinen Krämerladen in Fürstenberg: das erste Jahr bei Herrn Holtz und später bei seinem Nachfolger, dem trefflichen Herrn Theodor Hückstädt. Meine Tätigkeit bestand in dem Einzelverkauf von Heringen, Butter, Kartoffelbranntwein, Milch, Salz, Kaffee, Zucker, Öl, Talglichtern usw., in dem Mahlen der Kartoffeln für die Brennerei, in dem Ausfegen des Ladens und ähnlichen Dingen. Unser Geschäft war so unbedeutend, daß unser ganzer Absatz jährlich kaum 3000 Taler betrug; hielten wir es doch für ein ganz besonderes Glück, wenn wir einmal im Laufe eines Tages für zehn bis fünfzehn Taler Materialwaren verkauften. Natürlich kam ich hierbei nur mit den untersten Schichten der Gesellschaft in Berührung. Von 5 Uhr morgens bis l1 Uhr abends war ich in dieser Weise beschäftigt, und mir blieb kein freier Augenblick zum Studieren. Überdies vergaß ich das wenige, was ich in meiner Kindheit gelernt hatte, nur zu schnell, aber die Liebe zur Wissenschaft verlor ich trotzdem nicht – verlor ich sie doch niemals –, und so wird mir auch, solange ich lebe, jener Abend unvergeßlich bleiben, an dem ein betrunkener Müller, Hermann Niederhöffer, in unsern Laden kam. Er war der Sohn eines protestantischen Predigers in Röbel (Mecklenburg) und hatte seine Studien auf dem Gymnasium von Neuruppin beinahe vollendet, als er wegen schlechten Betragens aus der Anstalt verwiesen wurde. Sein Vater übergab ihn dem Müller Dettmann in Güstrow als Lehrling; hier blieb er zwei Jahre und wanderte danach als Müllergesell. Mit seinem Schicksal unzufrieden, hatte der junge Mann leider schon bald sich dem Trunke ergeben, dabei jedoch seinen Homer nicht vergessen; denn an dem obenerwähnten Abend rezitierte er uns nicht weniger als hundert Verse dieses Dichters und skandierte sie mit vollem Pathos. Obgleich ich kein Wort davon verstand, machte doch die melodische Sprache den tiefsten Eindruck auf mich, und heiße Tränen entlockte sie mir über mein unglückliches Geschick. Dreimal mußte er mir die göttlichen Verse wiederholen, und ich bezahlte ihn dafür mit drei Gläsern Branntwein, für die ich die wenigen Pfennige, die gerade mein ganzes Vermögen ausmachten, gern hingab. Von jenem Augenblick an hörte ich nicht auf, Gott zu bitten, daß er in seiner Gnade mir das Glück gewähren möge, einmal Griechisch lernen zu dürfen.

      Doch schien sich mir nirgends ein Ausweg aus der traurigen und niedrigen Stellung eröffnen zu wollen, bis ich plötzlich wie durch ein Wunder aus derselben befreit wurde. Durch Aufheben eines zu schweren Fasses zog ich mir eine Verletzung der Brust zu – ich warf Blut aus und war nicht mehr imstande, meine Arbeit zu verrichten. In meiner Verzweiflung ging ich zu Fuß nach Hamburg, wo es mir auch gelang, eine Anstellung mit einem jährlichen Gehalt von 180 Mark zu erhalten. Da ich aber wegen meines Blutspeiens und der heftigen Brustschmerzen keine schwere Arbeit tun konnte, fanden mich meine Prinzipale bald nutzlos, und so verlor ich jede Stellung wieder, wenn ich sie kaum acht Tage innegehabt hatte. Ich sah wohl ein, daß ich einen derartigen Dienst nicht mehr versehen konnte, und von der Not gezwungen, mir durch irgendwelche, wenn auch die niedrigste Arbeit mein tägliches Brot zu verdienen, versuchte ich es, eine Stelle an Bord eines Schiffes zu erhalten; auf die Empfehlung des gutherzigen Schiffsmaklers J. F. Wendt hin, der mit meiner verstorbenen Mutter aufgewachsen war, glückte es mir, als Kajütenjunge an Bord der kleinen Brigg »Dorothea« angenommen zu werden; das Schiff war nach La Guaira in Venezuela bestimmt.

      Ich war immer schon arm gewesen, aber doch noch nie so gänzlich mittellos wie gerade zu jener Zeit: mußte ich doch meinen einzigen Rock verkaufen, um mir eine wollene Decke anschaffen zu können! Am 28. November 1841 verließen wir Hamburg mit gutem Winde; nach wenigen Stunden jedoch schlug derselbe um, und wir mußten drei volle Tage in der Elbe unweit Blankenese liegenbleiben. Erst am 1. Dezember trat wieder günstiger Wind ein: wir passierten Cuxhaven und kamen in die offene See, waren aber kaum auf der Höhe von Helgoland angelangt, als der Wind wieder nach Westen umsprang und bis zum 12. Dezember fortdauernd westlich blieb. Wir lavierten unaufhörlich, kamen aber wenig oder gar nicht vorwärts, bis wir in der Nacht vom 11. zum 12. Dezember bei einem furchtbaren Sturme auf der Höhe der Insel Texel an der Bank, die den Namen »de Eilandsche Grond« führt, Schiffbruch litten. Nach zahllosen Gefahren und nachdem wir neun Stunden lang in einem sehr kleinen offenen Boote von der Wut des Windes und der Wellen umhergetrieben waren, wurde unsere ganze aus neun Personen bestehende Mannschaft doch schließlich gerettet. Mit größtem Danke gegen Gott werde ich stets des freudigen Augenblickes gedenken, da unser Boot von der Brandung auf eine Sandbank unweit der Küste von Texel geschleudert wurde, und nun alle Gefahr endlich vorüber war. Welche Küste es war, an die wir geworfen worden, wußte ich nicht – wohl aber, daß wir uns in einem »fremden Lande« befanden. Mir war, als flüsterte mir eine Stimme dort auf der Sandbank zu, daß jetzt die Flut in meinen irdischen Angelegenheiten eingetreten sei, und daß ich ihren Strom benutzen müsse. Und noch derselbe Tag bestätigte mir diesen frohen Glauben; denn während der Kapitän und meine Gefährten ihren ganzen Besitz bei dem Schiffbruch eingebüßt hatten, wurde mein kleiner Koffer, der einige Hemden und Strümpfe sowie mein Taschenbuch und einige mir von Herrn Wendt verschaffte Empfehlungsbriefe nach La Guaira enthielt, unversehrt auf dem Meere schwimmend gefunden und herausgezogen. Von den Konsuln Sonderdorp und Ram wurden wir in Texel auf das freundlichste aufgenommen, aber als dieselben mir den Vorschlag machten, mich mit der übrigen Mannschaft nach Hamburg zurückzuschicken, lehnte ich es entschieden ab, wieder nach Deutschland zu gehen, wo ich so namenlos unglücklich gewesen war, und erklärte ihnen, daß ich es für meine Bestimmung hielte, in Holland zu bleiben, und daß ich die Absicht hätte, nach Amsterdam zu gehen, um mich als Soldat anwerben zu lassen; denn ich war ja vollständig mittellos und sah für den Augenblick wenigstens keine andere Möglichkeit vor mir, meinen Unterhalt zu erwerben. So bezahlten denn die Konsuln, auf mein dringendes Bitten, zwei Gulden für meine Überfahrt nach Amsterdam. Da der Wind jetzt ganz nach Süden herumgegangen war, mußte das kleine Schiff, auf welchem ich befördert wurde, einen Tag in der Stadt Enkhuizen verweilen, und so brauchten wir nicht weniger als drei Tage, um die holländische Hauptstadt zu erreichen. Infolge meiner mangelhaften und ganz unzureichenden Kleidung hatte ich auf der Überfahrt sehr zu leiden, und auch in Amsterdam wollte das Glück mir zuerst nicht lächeln. Der Winter hatte begonnen, ich hatte keinen Rock und litt furchtbar unter der Kälte. Meine Absicht, als Soldat einzutreten, konnte nicht so schnell, wie ich gedacht hatte, ausgeführt werden, und die wenigen Gulden, die ich auf der Insel Texel und in Enkhuizen als Almosen gesammelt, waren bald mit den zwei Gulden, die ich von dem mecklenburgischen Konsul in Amsterdam, Herrn Quack, erhalten hatte, in dem Wirtshause der Frau Graalman in der Ramskoy von Amsterdam verzehrt, wo ich mein Quartier aufschlug. Als meine geringen Mittel gänzlich erschöpft waren, fingierte ich Krankheit und wurde demgemäß in das Hospital aufgenommen. Aus dieser schrecklichen Lage aber befreite mich wieder der schon obenerwähnte freundliche Schiffsmakler J. F. Wendt aus Hamburg, dem ich von Texel aus geschrieben hatte, um ihm Nachricht von unserm Schiffbruch zu geben und ihm zugleich mitzuteilen, daß ich nun mein Glück in Amsterdam zu versuchen gedächte. Ein glücklicher Zufall hatte es gewollt, daß mein Brief ihm gerade überbracht wurde, als er mit einer Anzahl seiner Freunde bei einem festlichen Mahle saß. Der Bericht über das neue Mißgeschick, das mich betroffen, hatte die allgemeine Teilnahme erregt, und eine sogleich von ihm veranstaltete Sammlung die Summe von 240 Gulden ergeben, die er mir nun durch Konsul Quack übersandte. Zugleich empfahl er mich auch dem trefflichen preußischen Generalkonsul, Herrn W. Hepner in Amsterdam, der mir bald in dem Kontor von F. C. Quien eine Anstellung verschaffte.

      In meiner neuen Stellung war meine Beschäftigung, Wechsel stempeln zu lassen und sie in der Stadt einzukassieren, Briefe nach der Post zu tragen und von dort zu holen. Diese mechanische Beschäftigung war mir sehr genehm, da sie mir ausreichende Zeit ließ, an meine vernachlässigte Bildung zu denken. Zunächst bemühte ich mich, mir eine leserliche Handschrift anzueignen, und in zwanzig Stunden, die ich bei dem berühmten Brüsseler Kalligraphen Magnée nahm, glückte mir dies auch vollständig; darauf ging ich, um meine Stellung zu verbessern, eifrig an das Studium der modernen Sprachen. Mein Jahresgehalt betrug nur 800 Frank, wovon ich die Hälfte für meine Studien ausgab – mit der andern Hälfte bestritt ich meinen Lebensunterhalt, und zwar kümmerlich genug. Meine Wohnung, für die ich monatlich 8 Frank bezahlte, war eine elende unheizbare Dachstube, in der ich im Winter vor Frost zitterte,


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