Die Juweleninsel. Karl May
auf der Höhenmitte des Berges liegt auf der Nordseite desselben ein Mönchs- und auf seiner südlichen Seite ein Nonnenkloster. Die beiden geistlichen Anstalten sind beinahe so alt wie die einstige Burg, und gleichen, von unten aus gesehen, mit ihren hohen dicken Umfassungsmauern kleinen Festungen, sind aber in ihrem Innern ganz den Anforderungen der Gegenwart gemäß eingerichtet und bieten ihren Bewohnern und Bewohnerinnen alle die Bequemlichkeit, welche die »Hirten Christi« und die »Bräute des Hirnmels« zu beanspruchen haben.
Tief unten am Fuße des Berges liegt zwischen üppigen Feldern und grünenden Hainen, die sich langsam zur Höhe ziehen, ein kleines schmuckes Städtchen, einst den Rittern und Kämpen da oben zu Lehn gehörig und auch jetzt noch unter der direkten Botmäßigkeit des alten Schloßvogtes stehend, der seinem gegenwärtigen Herrn außerordentlich treu ergeben ist, von seinen Untergebenen aber mehr gehaßt und gefürchtet als geehrt und geliebt wird.
Wenn man von diesem Städtchen ostwärts geht, gelangt man in eine tiefe enge Schlucht, durch welche sich ein wildes Wasser rauschend Bahn gebrochen hat und das Rad einer Mühle treibt, die wie ein Schwalbennest an den steilen Felsen hängt.
Die Umgebung der einsamen Mühle ist mehr als romantisch, sie ist schauerlich. Die Schlucht heißt die Höllenschlucht, und darum darf es nicht Wunder nehmen, daß man die Mühle die Höllenmühle genannt hat. Das Schloß heißt Himmelstein, und in den beiden Klöstern werden die nach der Seligkeit lechzenden und dürstenden Seelen für den Himmel zubereitet; daher sagt der Städter oder der ländliche Bewohner der Umgegend, wenn er den Berg besteigen will, er wolle »zum Himmel« empor; will er dagegen sein Korn zur Mühle bringen, so meint er: »ich gehe in die Hölle.« Droben der Himmel und unten die Hölle. Haben diese Bezeichnungen auch in Beziehung auf das Glück, auf das Thun und Treiben der Bewohner der beiden Orte ihre Berechtigung?
Die Höllenmühle galt seit langen, langen Zeiten im weiten Umkreise für einen unheimlichen Ort, den man eher fliehen als aufsuchen solle. Sie war der Schauplatz von Tragödien gewesen, deren Verlauf man nicht genau kannte, welche aber gerade in Folge dessen der Zunge Veranlassung gaben, das Dunkle mit noch größeren Schrecken auszuschmücken, so daß eine Reihe von grauenhaften Sagen entstanden, die weithin über das ganze Land ihre Ausbreitung fanden.
Der alte Stamm der Höllenmüller hatte sich in seinem Familien- und auch äußeren Leben durch allerhand Unglücksfälle ausgezeichnet. Der letzte war in dem rauschenden Mühlenwasser ertrunken; seine Wittwe hatte das Besitzthum verkaufen müssen und war dann fortgezogen und spurlos verschollen.
Es war ihr allerdings nicht leicht geworden einen Käufer zu finden, und nur durch die Hilfe eines Agenten war sie die Mühle um einen Preis losgeworden, der kaum die Hälfte ihres eigentlichen Werthes betrug. Ihr Nachfolger war eine hohe blonde Gestalt, wie man sie hier im Süden selten findet. Er stammte aus Norland und war kein Katholik, weshalb er von den geistlichen Vätern und Müttern da oben nicht eben freundlich angesehen wurde. Er hatte sein Vaterland nur verlassen, weil er nicht eigentlich ein Vermögen besaß und hier für seine Ersparnisse Herr eines Besitzthurns wurde, dessen Ankauf ihm als ein höchst vortheilhafter bezeichnet worden war.
Es war im Frühherbste. Die Räder der Mühle standen, denn es hatten alle Hände mit dem Einbringen und Bergen der überaus reichen Ernte zu thun. Eben wieder war ein Wagen voll prächtiger Roggengarben vor der beinahe gefüllten Scheune abgeladen worden, und nun saß die Familie des Müllers nebst den Knappen und Dienstboten um den im Freien aufgestellten Tisch, um das Vesperbrod einzunehmen.
Die Müllerin war eine jener Frauen, welche, obgleich sie stets mit Sorge und Arbeit zu kämpfen haben, doch niemals alt werden. Das treue, ewig heitere Gernüth übt einen erhaltenden Einfluß auf die Gestalt und die Gesichtszüge, und die Jahre gehen vorüber wie die Stürme an der Eiche; sie rütteln, sie schütteln, aber sie bewirken nur, daß sich die Wurzeln immer tiefer in den Boden gründen. Neben ihr saß ihr Ebenbild, ihre Tochter, ein kräftiges freundliches Mädchen, dessen Wuchs und Züge wohl geeignet waren, auch einen Mann zu fesseln, der sonst nicht an eine gewöhnliche Müllerstochter dachte.
Die originellsten Personen des kleinen Kreises waren jedenfalls die beiden Knappen. Der Eine hatte die Jugendjahre längst schon hinter sich. Er war lang und stark gebaut und besaß eine Nase, über welche man beinahe hätte erschrecken können. Der Ausdruck Habichtsnase sagte nichts, geradezu nichts, diesem riesigen Theile des Gesichtes gegenüber, der bei einer entsprechenden Haltung seines Besitzers und der geeigneten Stellung der Sonne leicht einen fünf Meter langen Schatten geben konnte. Und das Eigenthümlichste an dieser Nase war, daß sie an jedem Gefühle und Gedanken, an jeder Bewegung und an jedem Worte des Knappen sich durch eine entsprechende Färbung, Haltung oder Bewegung zu betheiligen strebte.
Im Gegentheile von ihm hatte der andere Knappe gar keine Nase. Er hatte sie jedenfalls durch irgend einen Unglücksfall verloren und besaß nun jenen eigenthümlichen Ton der Stimme, welcher nasenlosen Leuten unvermeidlich ist. Dazu war ihm das linke Bein am Knie amputirt, und er trug an Stelle des fehlenden Gliedes einen hölzernen Stelzfuß, welcher zu besserer Haltbarkeit sehr dick mit Eisen beschlagen war.
»Wie steht es, Klaus,« frug der Müller den Langnasigen. »Werden wir noch heut den Roggen hereinbringen?«
»Versteht sich ganz von selber, Meister Uhlig!«
Er nickte während dieser Antwort, und es war drollig anzusehen, daß sich dabei die Spitze seiner Nase erst hob, dann schnell senkte und nachher in ihren früheren status quo zurückkehrte. Den Andern fiel dies nicht auf, da sie diese Beweglichkeit des Riechorganes bereits gewohnt waren.
»Wenn nicht vielleicht ein Gewitter kommt!«
»Fällt ihm nicht ein!«
Ohne daß er den Kopf bewegte, ging die Nase herüber und hinüber, um zu bekräftigen, was ihr Besitzer ausgesprochen hatte.
»Brendel kann Dir heut nicht mehr helfen.«
»Ich?« frug der Stelzfuß verwundert. »In wie so denn, wenn ich fragen darf?«
»Der Braune ist lahm geworden; Du mußt zum Thierarzt reiten.«
Auf allen Mienen zeigte sich ein erwartungsvolles Lächeln. jeder wußte, daß Brendel vor nichts so großen Abscheu hatte, als vor dem Reiten, und daß der Meister diese Bemerkung nur machte, um ihn in Angst zu bringen und ihn zu vermögen, die Geschichte zu erzählen, welche sie Alle längst kannten, weil er sie bei jeder Gelegenheit wieder auftischte.
»Reiten? Zum Thierarzte? In wie so denn? Kann ich nicht laufen?«
»Nein. Es ist zu weit.«
»So will ich fahren!«
»Geht nicht. Du hast nur ein Bein, und der Schimmel muß einmal gehörig in Gang genommen werden. Es bleibt also dabei, Du reitest!«
»Dann mag doch der Klaus den Weg machen. Er ist Wachtmeister bei den Kürassieren gewesen und versteht es besser als ich, den Schimmel in Gang zu bringen.«
»Der muß beim Wagen bleiben. Fürchtest Du Dich denn?« »Ich mich fürchten? In wie so denn? Aber ich reite nicht; ich reite sogar niemals.«
»Aber wenn ich es Dir befehle!«
»Das ist schlimm!«
»Warum?«
»Ich darf nicht reiten.«
»Nun, warum? Heraus damit!«
»Sie wissen es ja schon!«
»Ich? Was denn?«
»Von dem Gelübde.«
»Pah! Was denn für ein Gelübde?«
»Daß ich im ganzen Leben niemals wieder reiten will.«
»Ja, zum Teufel, warum eigentlich?«
»Na, wenn Sie es nicht wissen, da muß ich es erzählen, denn in wie so denn, weil Sie sonst denken, ich will Ihnen nicht gehorchen.«
»Nun —!«
»Das war also damals, und ich stand als Knappe in der Sonntagsmühle. Da kommt eines schönen Tages ein Roßkamm und bietet uns ein Pferd an, einen Apfelschimmel, der aber keine Apfeln mehr hatte, denn in wie so denn, er hatte sie vor Alter längst