Old Surehand III. Karl May
arl May
OLD SUREHAND III
Erstes Kapitel: Schahko Matto
Wie oft sind mir von den Gefährten meiner Erlebnisse und später von den Lesern meiner Bücher Vorwürfe darüber gemacht worden, daß ich schlechte Menschen, welche uns nichts als Feindschaft erwiesen und nichts als Schaden bereiteten, dann, wenn sie in unsere Hände gerieten und wir uns also rächen konnten, zu mild und nachsichtig behandelt habe! Ich bin objektiv genug gewesen, diese Vorwürfe in jedem einzelnen Falle auch von der Seite aus zu betrachten, von welcher aus sie berechtigt zu sein schienen, habe aber stets gefunden und finde auch heute noch, daß mein Verhalten das richtige gewesen ist. Es ist ein großer Unterschied zwischen Rache und Strafe. Ein rachsüchtiger Mensch ist kein guter Mensch; er handelt nicht nur unedel, sondern verwerflich; er greift, ohne irgend ein Recht dazu zu besitzen, der göttlichen und der menschlichen Gerechtigkeit vor und läßt dadurch, daß er seinem Egoismus, seiner Leidenschaft die Zügel überwirft, nur merken, wie verächtlich schwach er ist. Ganz anders steht es um die Strafe. Sie ist eine ebenso natürliche wie unausbleibliche Folge jeder That, die von den Gesetzen und von der Stimme des Gewissens verurteilt wird. Nur darf nicht jedermann, auch nicht einmal derjenige, an dem sie begangen wurde, denken, daß er zum Richter berufen sei. Sie kann in dem einen Falle unerlaubt sein, in dem andern leicht den Charakter eines ebenso verwerflichen Racheaktes annehmen. Welcher Mensch ist so rein, so frei von Schuld und sittlich so erhaben, daß er sich, ohne von der Staatsgewalt dazu berufen zu sein, zum Richter über die Thaten seines Nächsten aufwerfen darf?
Dazu kommt, daß man sich wohl hüten soll, denjenigen, der einen Fehler, eine Sünde, ein Verbrechen begeht, für den allein Schuldigen zu halten. Man forsche nach der Vorgeschichte jeder solchen That! Sind nur körperliche und geistige Mängel angeboren? Können nicht auch sittliche es sein? Sodann bedenke man wohl, welche Macht in der Erziehung liegt! Ich meine da die Erziehung im weiteren Sinne, nicht bloß die Einwirkung der Eltern, Lehrer und Verwandten. Es sind die tausend und abertausend Verhältnisse des Lebens, welche oft tiefer und nachhaltiger auf den Menschen wirken als das Thun oder Lassen derjenigen Personen, welche nach landläufiger Ansicht seine Erzieher sind. Ein einziger Abend im Theater, das Lesen eines einzigen schlechten Buches, die Betrachtung eines einzigen unsittlichen Bildes kann alle Früchte einer guten, elterlichen Erziehung in Fäulnis übergehen lassen. Welche Menge, ja Masse von Sünden hat die millionenköpfige Hydra, welche wir Gesellschaft nennen, auf dem Gewissen! Und gerade diese Gesellschaft ist es, welche mit wahrer Wonne zu Gerichte sitzt, wenn der Krebs, an dem sie leidet, an einem einzelnen ihrer Glieder zum Ausbruche kommt! Mit welch‘ frommem Augenaufschlage, mit welchem abweisenden Nasenrümpfen, mit welcher Angst vor fernerer Berührung zieht man sich da von dem armen Teufel zurück, der das Unglück hatte, daß die allgemeine Blutentmischung grad an seinem Körper zur Entzündung und zur Eiterung führte!
Wenn ich da von den Verhältnissen der »civilisierten« Gesellschaft spreche, so muß meine Ansicht in Beziehung auf die sogenannten halb und ganz wilden Völker noch viel milder sein. Der wilde oder verwilderte Mensch, der nie einen rechten, sittlichen Maßstab für sein Thun besaß oder dem dieser Maßstab abhanden gekommen ist, kann für seine Gebrechen natürlich noch viel weniger verantwortlich gemacht werden als derjenige Sünder, welcher ins Straucheln kam und fiel, obgleich ihm alle moralischen Stützen unserer vielgerühmten Gesittung zur Verfügung standen. Ein von den Weißen abgehetzter Indianer, der zur Verteidigungswaffe greift, ist des Mitleides aber nicht der Peitsche wert. Ein wegen irgend eines Vergehens von der very moral and virtuous society für immer ausgestoßener Mensch, der nur im »wilden Westen« Aufnahme findet und dort immer tiefer sinkt, weil es ihm da an allem Halt gebricht, steht als Westläufer zwar unter den strengen, blutigen Gesetzen der Prairie, ist aber in meinen Augen der Nachsicht und Entschuldigung bedürftig. Auch Winnetou, der stets groß- und edelmütige, versagte so einem Entarteten die Schonung nie, wenn ich ihn darum bat. Ja, es kam sogar vor, daß er sie aus eigenem Antriebe und Entschlusse übte, ohne meine Bitte erst abzuwarten.
Diese Milde hat uns zuweilen in spätere Verlegenheiten gebracht; das gebe ich wohl zu; aber die Vorteile, welche wir indirekt durch sie erreichten, wogen das reichlich wieder auf. Wäre es auch nur gewesen, um andern ein Beispiel zu geben, so hätten wir viele und erfreuliche Erfolge zu verzeichnen. Wer sich uns anschließen wollte, mußte auf die Grausamkeiten und Härten des Westens verzichten und wurde, ohne es eigentlich zu wissen und zu wollen, dann wenn nicht in Worten, so doch in Thaten ein Lehrer und Verbreiter der Humanität, welche er bei uns, sozusagen, eingeatmet hatte.
Old Wabble war auch einer jener Entarteten, dem wir mehr Nachsicht schenkten, als er an uns verdient hatte. Hieran war neben der von uns grundsätzlich und allgemein geübten Milde der erste Eindruck, den seine ungewöhnliche Persönlichkeit besonders auf mich gemacht hatte, schuld. Sein hohes Alter trug auch dazu bei, und zudem hatte ich in seiner Gegenwart stets ein ganz eigenartiges Gefühl, welches mich abhielt, ihn nach seinen Thaten und seiner so frech gezeigten Gottlosigkeit zu behandeln. Es war, als ob ich nach einem von mir unabhängigen und doch in mir wohnenden Willen handeln müsse, welcher mir verbot, mich an ihm zu vergreifen, weil er, wenn er sich nicht bekehre, für ein ganz besonderes göttliches Strafgericht aufgehoben sei. Darum hatte ich ihn auch am Morgen nach dem versuchten Morde und Pferdediebstahle auf Fenners Farm wieder freigelassen und damit, wie es schien, auch ganz nach dem Willen Winnetous gehandelt. Dick Hammerdull und Pitt Holbers waren freilich nicht damit einverstanden und Treskow als Polizist noch weniger als sie. Doch wurden mir von diesen dreien wenigstens nicht die Vorwürfe gemacht, welche ich von dem Besitzer der Farm zu hören bekam, der gar nicht begreifen konnte, daß ein Mensch, vor dessen Kugel mich nur die scharfen Augen des Apatschen errettet hatten, ohne alle Strafe von uns entlassen worden war. Eine solche Dummheit, wie er es nannte, war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen, und er schwur, daß er die Rache in seine Hände nehmen und Old Wabble wie einen Hund niederschießen werde, wenn der Alte es wagen sollte, sich noch einmal auf der Farm sehen zu lassen. Im übrigen aber zeigte Fenner uns auch heut, wie willkommen ihm unser Besuch gewesen war; er versah uns so reichlich mit Proviant, daß wir, als wir von ihm Abschied nahmen, dies mit der Ueberzeugung thun konnten, daß wir wenigstens für fünf Tage zu essen hatten und also ebensolange davon befreit waren, unsere Zeit auf das Fleischmachen durch die Jagd zu verwenden. Was das zu bedeuten hat, merkt man erst dann, wenn man wegen der Nähe roter oder weißer Feinde nicht schießen darf und also entweder hungern muß oder Gefahr läuft, sich zu verraten. Der Umstand, daß wir mit Speisevorrat versehen waren, kam uns auch schon deshalb gelegen, weil wir, ohne uns aufhalten zu müssen, schnell reiten konnten, um Old Surehand einzuholen.
Eigentlich hätten wir gleich nach dem Aufbruche von der Farm nach der Spur Old Wabbles suchen müssen. Er hatte uns gezeigt, was von ihm für uns, besonders aber für mich, zu erwarten war, und wenn man einen Feind in der Nähe weiß, dem man den Kopf zum Ziele für seine Kugel bieten soll, so ist es immer vorteilhaft, zu wissen, wo man ihn zu suchen hat. Aber wir wollten Old Surehand so schnell wie möglich einholen, denn wir hatten den »General«, und Toby Spencer vor uns, die mit ihren Leuten auch hinauf nach Colorado ritten, und so mußte uns der alte »König der Cowboys« jetzt eine Person untergeordneterer Bedeutung sein.
Da der Republikan-River hinter Fenners Farm einen großen Bogen beschreibt, den wir abschneiden wollten, verließen wir seine Nähe und ritten grad in die Rolling-Prairie hinein, um ihn später wieder zu erreichen.
Wir sahen da die Spuren der Cow-boys, welche während der letzten Nacht nach Old Wabble und seinen Begleitern gesucht hatten, ohne sie zu finden. Später hörten diese Fährten auf, und wir fanden bis gegen Abend keine Spur eines menschlichen Wesens mehr.
Um diese Zeit mußten wir auf das andere Ufer des Flusses hinüber, und obgleich der Republikan-River, wie alle Flüsse von Kansas, breit und seicht ist und also fast überall unschwer übersetzt werden kann, so hatte uns Winnetou doch nach einer Furth gelenkt, welche er von früher her kannte. Sie war so seicht, daß ihr Wasser in seiner ganzen Breite den Pferden nicht bis an die Leiber reichte.
Am andern Ufer angekommen, durchquerten wir den Saum des Gebüsches, welches sich am Flusse hinzog, und gelangten dann wieder auf die offene Prairie. Kaum hatten wir das Gesträuch hinter uns, so erblickten wir eine Fährte, welche sich in einer Entfernung von vielleicht fünfhundert Schritten in zu dem Flusse paralleler Richtung hinzog. Dick Hammerdull deutete mit dem Finger auf sie hin und sagte zu seinem hagern Freunde:
»Siehst du den dunkeln Strich da