Winnetou 4. Karl May

Winnetou 4 - Karl May


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Sa-go-ye-wat-ha.«

      »Warum?«

      »Weil wir ihn lieben.«

      »Wen man liebt, den soll man kennen!«

      »Wir kennen ihn. Und wir verstehen ihn.«

      »Verstehen?« fragte Algongka, indem er seine Augen ein ganz, ganz klein wenig verkleinerte, um seinen Zweifel anzudeuten. »Habt ihr seine Stimme gehört? Er ist langst tot! Es ist schon fast acht Jahrzehnte her, daß er starb.«

      »Er ist nicht tot. Er ist nicht gestorben. Wir hörten seine Stimme sehr oft, und wessen Ohren offen sind, der kann sie heute noch ebenso deutlich hören wie damals, als er zur ,Gemeinschaft der Wölfe‘ seines Stammes sprach. Sie hörten ihn leider nicht!«

      »Was hätten sie hören sollen?«

      »Nicht den oberflächlichen Klang seiner Worte, sondern ihren tiefen, vom großen Manitou gegebenen Sinn.«

      »Uff!« rief Athabaska aus. »Welchen Sinn?«

      »Daß kein Mensch, kein Volk und keine Rasse Kind und Knabe bleiben darf. Daß jede Savanne, jeder Berg und jedes Tal, jedes Land und jeder Erdteil von Gott geschaffen wurde, um zivilisierte Menschen zu tragen, nicht aber solche, denen es unmöglich ist, über das Alter, in dem man sich nur immer schlägt und prügelt, hinauszukommen. Daß der allmächtige und allgütige Lenker der Welt einen jeden Einzelnen und einer jeden Nation sowohl Zeit als auch Gelegenheit gibt, aus diesem Burschen- und Bubenalter herauszukommen. Und daß endlich ein Jeder, der dennoch stehenbleibt und nicht vorwärts will, das Recht, noch weiter zu existieren, verliert. Der große Manitou ist gütig, aber er ist auch gerecht. Er wollte, daß auch der Indianer gütig sei, besonders gegen seine eigenen roten Brüder. Als aber die Indsmen nicht aufhören wollten, sich untereinander zu zerfleischen, sandte er ihnen das Bleichgesicht – — —«

      »Um uns noch schneller umbringen zu lassen!« fiel mir Algongka in die Rede.

      Beide sahen mich in sichtlicher Spannung an, was ich auf diesen Vexierausruf antworten werde.

      »Nein, sondern um euch zu retten«, entgegnete ich. »Sa-go-yewat-ha hat das begriffen, und er wünschte, daß sein Volk, seine Rasse es ebenso begreife; aber man wollte ihn nicht hören. Es wäre zu dieser Rettung sogar heute noch Zeit, wenn der Kind gebliebene Indianer sich aufraffte, Mann zu werden.«

      »Also Krieger?« fragte Algongka.

      »O nein! Denn selbst bei der Rasse ist grad das Krieger- und Indianerspielen der sicherste Beweis, daß sie kindisch geblieben ist und von höherstrebenden Menschen ersetzt werden muß. Mann werden, heißt nicht, Krieger werden, sondern Person werden. Das hat der große Häuptling der Seneca, an dessen Grab wir hier stehen, tausendmal gesagt. Laßt es nicht meine, sondern seine Stimme sein, die es euch jetzt abermals sagt. Tut ihr das, so ist er auch für euch nicht gestorben, sondern er lebt und wird in euch weiterleben!«

      Ich grüßte mit dem Hute, um mich zu entfernen. Da ergriff zu meiner Verwunderung auch das Herzle das Wort. Sie sagte:

      »Und nehmt diese beiden Blumen! Sie sind nicht von mir, sondern von ihm! Die Blumen der Einsicht, der Güte und der Liebe, die er einst zu seinem Volk sprach, sind nur äußerlich verwelkt, ihr Duft aber ist geblieben. Seht, wie der Sonnenstrahl sich langsam, leise nähert, um die Namen, die da in Stein gegraben sind, zu beleuchten und zu erwärmen! Und hört ihr das Flüstern der Blätter, aus denen der Schatten flieht? Auch dieses Grab ist nicht tot. Wir gehen.«

      Sie gab Jedem eine der beiden Blumen.

      »Geht nicht, sondern bleibt!« bat Athabaska.

      »Ja, bleibt noch hier!« schloß Algongka sich ihm an. »Wenn ihr ihn liebt, so gehört ihr hierher!«

      »Jetzt nicht«, antwortete ich. »Ich bin sein Freund; ihr aber seid seine Brüder. Dieser Platz gehöre euch. Wir haben Zeit.«

      Wir gingen. Als wir uns, ohne uns einmal umzudrehen, weit genug entfernt hatten, um nicht mehr gesehen zu werden, fragte das Herzle:

      »Du, haben wir keinen Fehler gemacht?«

      »Nein«, antwortete ich.

      »Vielleicht aber doch!«

      »Welchen wohl?«

      »Du hast ihnen gleich sofort eine lange Rede gehalten. Und ich habe sie, die uns doch vollständig Fremden, sogar mit Blumen beschenkt. Ist das wohl ladylike?«

      »Wahrscheinlich nicht. Aber gräme dich ja nicht darüber! Es gibt Augenblicke, in denen derartige Fehler das Beste sind, was man tut. Und ich bin sehr überzeugt, jetzt war so ein Augenblick. Freilich andern Leuten hätte ich ganz gewiß keine ,Rede‘ gehalten; aber ich glaube, die Indianer zu kennen, und außerdem berücksichtige ich die vorliegenden Verhältnisse, die mir nicht nur erlaubten, sondern es mir sogar zur Pflicht machten, mehr zu sagen, als ich in jedem anderen Fall wahrscheinlich gesagt hätte. Übrigens zeigt uns ja der Erfolg, wie richtig das war, was wir taten. Sie luden uns ein, zu bleiben! Bedenke gar wohl! An diesem Grabe zu bleiben! Bei ihnen, den Häuptlingen! Das ist eine Auszeichnung, und zwar eine sehr große! Wir haben uns nach ihren Begriffen also sehr gut benommen. Einen Fehler gemacht? Gewiß nicht!«

      Daß ich da Recht hatte, zeigte sich gleich bei unserer Heimkehr, die erst gegen Abend erfolgte, weil wir nicht per Bahn, sondern per Boot zurück nach Niagara gefahren waren. Kaum hatte der Kellner gehört, daß wir wieder da seien, so stellte er sich bei uns ein und begrüßte uns mit einer womöglich noch tieferen Verbeugung als bisher.

      »Verzeihung, daß ich sogleich störe!« sagte er. »Es ist etwas Großes, etwas ganz Ungewöhnliches, was ich zu melden habe!«

      »Nun, was?« fragte ich.

      »Mr. Athabaska und Mr. Algongka speisen heute abend nicht unten, sondern oben bei sich selbst!«

      Er sah uns hierauf an, als ob er uns etwas ganz Welterschütterndes mitgeteilt oder noch mitzuteilen habe.

      »So?« machte ich. »Ist das vielleicht etwas, was uns interessiert?«

      »Das meine ich gar wohl! Ich bin nämlich mit dem Auftrag beehrt worden, Mrs. und Mr. Burton hierzu einzuladen!«

      Das war allerdings etwas ganz Unerwartetes. Ganz selbstverständlich aber tat ich so, als ob es uns nicht einfallen könne, hierüber auch nur im geringsten zu erstaunen, und erkundigte mich in gleichgültigeren Tone:

      »Für welche Zeit?«

      »Neun Uhr. Die beiden Gentlemen werden sich erlauben, die Herrschaften persönlich abzuholen. Ich aber habe möglichst bald zu melden, ob die Einladung angenommen wird oder nicht.«

      »Hierüber hat Mrs. Burton zu entscheiden, nicht ich.«

      Als er seinen fragenden Blick infolgedessen auf meine Frau richtete, gab diese den Bescheid:

      »Wir nehmen die Einladung an und werden pünktlich sein.«

      »Danke! Werde es sofort melden. Die Gentlemen lassen in Beziehung auf die Toilette bitten, als Freunde betrachtet zu werden, die nicht auf den Anzug schauen.«

      Diese letztere Bemerkung war uns lieb, und zwar nicht um unsretwillen, sondern weil wir wünschten, daß die Häuptlinge nicht etwa wegen uns eine Unbequemlichkeit auf sich nehmen möchten, die uns ebenso wie ihnen als unnötig erscheinen würde. Sie stellten sich Punkt neun Uhr bei uns ein, um uns abzuholen. Das war ein Schritt von ihnen, der deutlicher sprach, als Worte hätten sprechen können. Sie waren über den Korridor des Innenhauses zu uns gekommen, baten uns aber, den Weg zu ihnen über die Plattform zu nehmen, auf welcher sich ihre Wohnung ebenso öffnete wie die unsere. Als wir demzufolge durch die schon beschriebene Glas- und Jalousietür hinaus auf den Altan traten, schien der Mond noch klarer als gestern abend. Die beiden Fälle lagen wie ein Märchenwunder vor unsern Augen, und ihr Brausen drang wie die Stimme eines ewigen Gesetzes zu uns herüber, dem ein jeder verfallen ist, der es nicht beachtet. Da zögerten die beiden Häuptlinge, weiter zu gehen. Sie blieben stehen, und Athabaska sagte:

      »Nicht nur die Weißen, sondern auch die Roten wissen jetzt, daß alles, was die gegenwärtige Welt uns bietet, weiter nichts als nur ein Gleichnis ist. Eines der größten und gewaltigsten


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