Onnen Visser. Sophie Worishoffer
ophie Wörishöffer
ONNEN VISSER – DER SCHMUGGLERSOHN VON NORDERNEY
1
Über den Wassern der Nordsee stand ein schweres Gewitter. Träge lief die Flut an den Strand von Norderney, tiefe Finsternis bedeckte Erde und Meer; die immer so stille, weltabgeschiedene Insel schien in dieser Frühlingsnacht wie ausgestorben.
Und doch regte sich auf dem Wasser ein dunkler Körper, ein Kanonenboot, dessen Besatzung emsig spähend nach allen Seiten ausblickte. Einer der bärtigen Soldaten legte beide Hände an den Mund und rief mit lauter Stimme in die Finsternis hinaus:
»Qui vive?« (Wer da?)
Keine Antwort. Das kleine Boot, welches dicht unter dem Bug des Franzosen dahinglitt, schien steuerlos zu treiben; auch das schärfste Auge hätte in dem Rund desselben keinen Menschen entdeckt, keine Bewegung wahrgenommen. Leise wiegend und schaukelnd führten es die Wellen hinaus bis in das offene Meer, der äußersten Landspitze der Insel entgegen.
Auf dem Kanonenboot ballte der Soldat die Faust. »Alle tausend Teufel«, rief er, »ich habe doch eine Nußschale von einem Fahrzeug hier vorbeischwimmen sehen – wo ist denn nun das Ding geblieben?«
»Flucht nicht so lästerlich!« mahnte eine andere Stimme. »Jeden Augenblick kann der erste Blitz vom Himmel herabfahren; gebt lieber einen Schuß ab und bohrt das Schmugglerboot in den Grund. Sie paschen doch alle, diese langen deutschen Lümmel mit ihren blauen Augen und ihren Bärenkräften.«
Der Soldat ließ sich den Befehl nicht zweimal geben. »Sehr wohl, Unteroffizier Durand«, rief er, »die Kanaille soll es haben, daß ihr Funken und Tropfen zugleich um die Ohren spritzen.«
Er hantierte einen Augenblick bei den Geschützen herum, dann kommandierte er selbst: »Feuer!« und der Schuß krachte donnernd durch die stille Nacht dahin, daß in den Dünen am Strande die kleinen Vögel erschreckt auffuhren und durch die Luft schwirrten. Fast im gleichen Augenblick schrie der Franzose laut auf:
»Mille tonnerres! da ist das Boot wieder. Ein Knabe liegt darin!«
Er wollte den zweiten Schuß abgeben, aber Unteroffizier Durand fiel ihm hastig in den Arm.
»Laßt es bleiben, Chatellier – ich habe die Erscheinung auch bemerkt. Das da ist kein Mensch.«
Der Soldat sah sich plötzlich um, als vermute er, daß jemand ihm in den Rücken fallen werde. »Aber was könnte es denn sein, Unteroffizier?« fragte er flüsternd.
»Ein Geist! Wir haben kürzlich zur Kirchzeit mit dieser selben Kanone ein Boot in den Grund gebohrt, wie Ihr wißt – da unten an der Wattgrenze – es war nur ein Knabe darin, ein armes Kind, das für die Badegäste Seeteufel und Muscheln gesammelt hatte, aber wir konnten natürlich das Geschehene nicht ungeschehen machen, der Junge starb und sah mich fest an – die Glocken da unten im Dorfe läuteten – er hielt im Todeskampfe den Blick auf meine Stirn geheftet. – Wißt Ihr noch, Chatellier, wir warfen den Körper ins Meer. Das Läuten wollte an jenem Tage gar kein Ende nehmen.«
Der Soldat bekreuzigte sich. »Und Ihr glaubt, daß das sein Geist war, Unteroffizier Durand?«
Der andere nickte. »Gerade so lag er in seinem Boot! – Er will uns hinauslocken, bis der Sturm losbricht – kein Splitter würde von der ›Hortense‹ heil bleiben, ich sage es Euch.«
»Die heilige Jungfrau beschütze uns. Soll ich das Steuer wenden?«
Der Unteroffizier nickte. »Das Gewitter zieht herauf, alle Offiziere sind in Norden auf dem Balle, ich mag die Verantwortung nicht tragen. Bergen wir uns, solange es Zeit ist.«
Das Steuer der »Hortense« wurde gedreht, alle Segel vor den, übrigens kaum bemerkbaren, Wind gebracht und der Rückweg zur schützenden Reede angetreten. Wenige Minuten später war das Kanonenboot verschwunden.
Aus dem kleinen Fahrzeuge erhob sich langsam, vorsichtig spähend die schlanke Gestalt eines etwa sechzehnjährigen Knaben. Das hübsche Gesicht lachte, die Finger machten den Franzosen eine lange Nase.
»Ihr Esel! also das ist eure ganze Schießkunst. Ha, ha, ha, schwimme vier Fuß unter den Planken des Schiffes vorüber und ihr schleudert die Ladung fast ebenso viele Hunderte weit ins Meer hinein. Tröpfe! Welsche Schnattergänse!«
Nachdem er sich diesen Ausbruch spöttischen Zornes gestattet hatte, ergriff der junge Norderneyer seine beiden, auf dem Grunde des Fahrzeuges versteckten Ruder und holte aus, daß sich leuchtende Streifen durch das Wasser zogen.
Es war die Gegend unter der heutigen »Giftbude« am Herrenstrand, wo sich im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts diese Szene zutrug. Die Kontinentalsperre1806 hatte Napoleon I. die Einfuhr englischer Waren in das von ihm beherrschte Kontinental-Europa verboten. hatte ein ausgedehntes Schmugglerwesen zur Folge gehabt, französische Kanonenboote kreuzten überall zwischen den ostfriesischen Inseln und hatten häufig kleine Gefechte sowohl mit den Bewohnern derselben, als auch mit englischen Fahrzeugen, welche den Schmuggelhandel unterstützten. Damals galt eben für Deutschland als Gesetz, was Napoleons Willkür beliebte – kein Wunder also, daß sich auch hier, wie überall im Leben, die List der Tyrannei entgegenstellte.
Unser junger Freund ruderte so hastig, wie es seine Kräfte erlaubten. Am Himmel zuckten zuweilen einzelne Blitze durch das Gewölk, der Ausbruch des eigentlichen Gewitters aber schien noch fern, und eben diese Pause mußte er benutzen, um vorwärtszukommen. Der Strohhut flog auf die Bank, das Halstuch mit der Jacke folgte nach, immer schärfer und schärfer spannte der Knabe seine kräftigen Muskeln.
Plötzlich schien es ihm, als bewege stärkerer Wellenschlag seinen Kahn. Er hielt inne und horchte, das weit geöffnete Auge sandte spähende Blicke voraus über das stille dunkle Meer.
Ob nicht in geringer Entfernung ein Etwas, ein schwarzer Schiffsrumpf auf den Wogen lag?
Ein Blitz zerriß die Wolken, nur ein schwacher gelber Schimmer, nicht kräftig genug, um zu leuchten, aber dennoch glaubte der Knabe, während dieses kurzen Augenblicks ein weißes Segel gesehen zu haben.
Er trocknete den Schweiß von der Stirn, dann brachte er den kleinen Finger in den Mund und langgezogen schrillte ein lauter Ton über das Meer.
Es war das Geschrei des Regenpfeifers.
Sekunden vergingen, dann, während der Knabe atemlos, mit klopfendem Herzen lauschte, erklang aus ziemlicher Nähe derselbe Ton, nur anhaltender, durchdringender, als befinde sich das Tier in großer Aufregung.
Der Knabe lächelte. Jetzt veränderte er seine Stimme. Das eintönige, ermüdende Geschrei der kleinen Möwe erfüllte die Finsternis.
Es blieb unbeantwortet, aber statt jedes anderen Zeichens erschien auf dem Wasser ein rotes Licht, das eine Schanzkleidung und die nächsten Segel und Taue der Takelage beleuchtete. Das Gesicht eines älteren Mannes sah ängstlich über Bord.
»Onnen«, sagte eine Stimme, »Onnen, bist du es?«
»Allstunds, Vater!« war die Antwort. »Nehmt mich an Deck!«
Die Schaluppe legte back und das Fallreep wurde herabgelassen, während der junge Mensch sein Boot mittels einiger geschickter Ruderschläge unter den Stern brachte. Es an das Fahrzeug zu befestigen war Sache einer halben Minute, dann kletterte er wie eine Katze zum Deck hinauf.
Wenigstens zehn Männer empfingen ihn; sein Vater, der Kapitän des Schiffes, streckte ihm beide Hände entgegen.
»Um Himmels willen, Onnen, was tust du hier?« »Bringst sicherlich böse Botschaft, nicht wahr?«
»Nur heraus damit, Junge, was ist geschehen?«
Es war ein eigentümliches Bild, das sich jetzt den Blicken des Knaben darbot. Überall an Deck standen und lagen Kaufmannsgüter jeder Art, Zuckerhüte, Kaffeesäcke, Tranfässer, Teekisten und unzählige Ballen Tabak. Zwischen diesen Gegenständen drängten sich Männer mit unruhigen, erwartungsvollen Gesichtern, während nur eine einzige kleine rote Lampe die ganze Szene mit ihrem rubinfarbenen Schimmer notdürftig erhellte.
Onnen sah in diesem Augenblick sehr ernst aus. »Ich bringe wirklich schlimme Kunde«, sagte er, »sehr schlimme. Die Insel hat heute abend eine französische Besatzung erhalten.« »Landmilitär? – Gott verderbe die Elenden!« »Ja, es ist eine Kompanie des in Norden liegenden Regimentes unter Oberst Jouffrin, den sie dort