Kindheit. Tolstoy Leo

Kindheit - Tolstoy Leo


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Grundsätze; er war imstande, ein und denselben Vorfall als unschuldigen Scherz und als erbärmliche Gemeinheit zu schildern, stets mit derselben Überzeugung.

      Als Vater war er gnädig, glänzte gern mit seinen Kindern und war auch zärtlich, aber nur in Gegenwart anderer; nicht etwa, weil er sich verstellte, sondern weil Zuschauer ihn anregten – er brauchte Publikum, um etwas Gutes zu tun.

      Er besaß heftige Leidenschaften, namentlich für das Spiel und die Frauen, hatte in seinem Leben etwa zwei Millionen gewonnen und alles wieder verloren. Ob er häufig spielte oder nicht, ist mir unbekannt; ich weiß nur, daß er wegen einer Spielaffäre verbannt wurde, dabei aber den Ruf eines tüchtigen Spielers genoß und als Partner gesucht war. Wie er es fertig brachte, die Leute bis zur letzten Kopeke auszuplündern und dabei ihr Freund zu bleiben, ist mir ein Rätsel – er tat den Leuten, die er rupfte, damit gleichsam einen Gefallen.

      Sein Steckenpferd waren glänzende Verbindungen, über die er wirklich verfügte; teils verdankte er sie der Verwandtschaft meiner Mutter, teils seinen Jugendkameraden, über die er sich im stillen ärgerte, weil sie zu hohen Würden gelangt waren, während er stets Gardeleutnant a. D. blieb. Aber diese Schwäche nahm niemand an ihm wahr, außer einem Beobachter wie ich, der ständig bei ihm lebte und ihn zu ergründen suchte.

      Wie alle alten Militärs verstand er nicht, sich elegant zu kleiden; im modernen Rock und Frack sah er etwas herausgeputzt aus; dafür war seine Hauskleidung originell und hübsch. Übrigens stand ihm bei seiner großen kräftigen Statur, dem kahlen Kopf und den selbstbewußten Bewegungen fast alles. Zudem hatte er eine besondere Gabe und den unbewußten Wunsch, stets und überall Eindruck zu machen. Er war sehr empfindsam und sogar zu Tränen gerührt. Wenn er beim Vorlesen an eine leidenschaftliche Wendung kam, begann seine Stimme oft zu zittern, Tränen traten in seine Augen, und er ließ das Buch sinken. Selbst in minderwertigen Theatern konnte er keine Rührszenen sehen, ohne zu weinen. In solchen Fällen war er über sich selbst ärgerlich und suchte seine Empfindsamkeit zu verbergen und zu unterdrücken.

      Er liebte Musik und sang, sich selbst begleitend, nach dem Gehör Romanzen seines Freundes A… Zigeunerlieder und einige Opernmelodien. Gelehrte Musik war ihm unsympathisch, und er sagte offen, ohne auf die allgemeine Meinung Rücksicht zu nehmen, daß ihn Beethovensche Sonaten langweilten und einschläferten und daß er nichts Schöneres kannte als »Weck mich junges Mädchen nicht« wie die Semjonowa und »Nicht Eine«, wie es die Zigeunerin Tanjuscha sang.

      Er war ein Mann des vorigen Alexandrinischen Jahrhunderts und besaß die undefinierbaren Eigenschaften, welche der Jugend jener Epoche eigentümlich waren, nämlich: einnehmendes Wesen, Courmacherei, Ritterlichkeit, Unternehmungsgeist, Selbstvertrauen und moralische Verderbtheit. Auf die Menschen unseres Jahrhunderts blickte er verächtlich herab. Vielleicht geschah das nicht aus Stolz, sondern aus heimlichem Ärger darüber, daß er in unserer Zeit nicht mehr denselben Einfluß ausüben und den Erfolg haben konnte, wie in der seinigen …

      Wer jemals auf dem Lande gelebt, wird wissen, wieviel Unannehmlichkeiten durch ihre Ränke und Streitereien die Nachbarn, durch Geschwätz die Gutsbesitzer desselben Kreises, und durch Händel und Schikanen die Behörden bereiten, wie sie einen bis aufs Blut peinigen und das ganze Leben verbittern können.

      Um all diesen Nachstellungen zu entgehen, die unausbleiblich jeden Gutsbesitzer überraschen, gibt es drei Methoden. Die erste Pflicht besteht darin, in jeder Beziehung korrekt seine Pflichten als Gutsbesitzer zu erfüllen und die Rechte eines solchen zu genießen. Diese erste und einfachste, vernünftige Art besteht leider vorläufig nur in der Theorie, weil man unmöglich mit Leuten gesetzmäßig verfahren kann, die das Gesetz als Mittel benutzen, ungestraft Gesetzwidrigkeiten begehen zu können. Die zweite Methode besteht in der Bekanntschaft und Freundschaft nicht nur mit den Vertretern der Bezirks- und Gouvernementsbehörden, sondern auch mit allen Gutsbesitzern, mit denen uns das Schicksal in Berührung bringt, oder die unsere Bekanntschaft wünschen, sowie in gütlicher Beilegung aller entstehenden Streitigkeiten. Diese Art ist wenig zu empfehlen, weil erstens ein freundschaftlicher Verkehr mit dem ganzen Bezirk an und für sich schon eine Unannehmlichkeit bedeutet, nicht geringer als die, die man vermeiden wollte, und zweitens, weil es für Ungeübte schwer ist, unter Vermeidung aller üblen Nachrede und Bosheit inmitten all der Feindseligkeiten, Ungesetzlichkeiten und Gemeinheiten des Gouvernementslebens seinen Standpunkt zu bewahren, nichts zu vergessen, niemanden zu ignorieren, so daß alle ohne Ausnahme mit uns zufrieden sind. Wehe, wenn wir uns auch nur einen Feind erworben haben! Jeder Schmutzfink, der heute noch demütig an unserer Schwelle steht, kann uns morgen die größten Unannehmlichkeiten bereiten.

      Die dritte Methode besteht darin, zu niemandem Beziehungen zu unterhalten und dafür Tribut zu zahlen. Der wird in zwiefacher Form entrichtet: als Ergebenheit und Leutseligkeit. Mit Ergebenheit zahlen Leute, die die dritte Methode erwählt haben, aber nicht imstande sind, der Willkür der Behörde zu begegnen. Mit Leutseligkeit zahlen Leute, die Beziehungen zu den höchsten Gouvernementsbehörden haben, aus Gründen der Sicherheit und Gewohnheit aber auf jene Steuer nicht verzichten.

      Es gibt noch eine Art, die sehr im Schwange ist, die ich aber wegen ihrer Ungesetzmäßigkeit nur als Ausnahme erwähnen will. Sie besteht darin, sich im Gouvernement oder Kreis den Ruf eines gefährlichen Schikaneurs und Intriganten zu verschaffen.

      Papa hielt es in bezug auf die Behörde und die Nachbarn mit der dritten Art, das heißt er war mit niemandem näher bekannt und zahlte den Tribut der Leutseligkeit. Obgleich er nicht häufig in die Gouvernementsstadt fuhr, wußte er es so einzurichten, daß wenigstens einmal im Jahre alle großen Tiere: der Gouverneur, der Adelsmarschall und der Staatsanwalt nach Petrowskoie kamen.

      Natürlich erzählte dann Jakob Michailow bei seinem nächsten Aufenthalt in der Stadt dem Isprawnik und anderen umständlich, wie Seine Exzellenz bei uns übernachtet, und diese und jene Bemerkung fallen gelassen hätten, und die Folge war, daß weder Isprawnik noch Stanowoi die Nase nach Petrowskoie hineinsteckten, sondern ruhig den Leutseligkeitstribut abwarteten.

      Wenn die Behörde in irgendeiner unbedingt notwendigen Angelegenheit dennoch nach Petrowskoie kam, ließ Papa sie durch Jakob empfangen; und wenn er wirklich selbst jemanden begrüßte, so geschah es so kalt, daß Mama oft zu ihm sagte: »Genierst du dich nicht, mon cher, die Leute so zu behandeln?«

      Darauf erwiderte Papa: »Du weißt nicht, Liebe, was das für Leute sind; gib ihnen soviel –« dabei zeigte er den kleinen Finger – »so nehmen sie soviel,« dabei zeigte er den Arm bis zur Schulter.

      Ebenso war der Verkehr mit den Nachbarn von der Höhe stolzer Erhabenheit herab.

      Man darf ihm wegen solchen Verhaltens keine Vorwürfe machen; zu seiner Zeit, das heißt anderhalb Jahrzehnte zurück, war es das einzige Mittel, um auf dem Lande Ruhe zu haben. Jetzt hat sich das alles geändert und ist viel besser geworden. Ein Gutsbesitzer, den ich danach fragte, antwortete mir: »Ach, lieber Freund, Sie kennen unsere jetzigen Kreis- und Landrichter nicht. Diese Ordnung, Sauberkeit, Bescheidenheit, Klugheit. Der unterste Schreiber hat seinen Frack. Kommt man zum Isprawnik, so sieht man seine Frau in modernster Toilette; sie ist eine höchst gebildete Dame, spricht Französisch, Italienisch, Spanisch – was Sie wollen. Die Töchter sind höchst musikalisch: Piano – wird zum Flügel, Fußboden – Parkett. Oder, was noch besser, wir haben in unserem Bezirk zwei Stanowois; der eine kommt von der Moskauer Universität, der andere ist mit der Fürstin Schedrischpanskaja verheiratet – der reine Pariser! Sehen Sie, verehrter Herr, so sieht jetzt unsere Semstwopolizei aus.«

      »Wie ist's denn jetzt mit den Schmiergeldern und Schikanen?« fragte ich. »Hat das aufgehört?«

      Der Gutsbesitzer antwortete mir nicht direkt, sondern lobte weiter die neue Ordnung der Dinge, die Klugheit und Bildung der Gutsbesitzer, dabei bemerkend, daß mancher Stanowoi über tausend Rubel im Jahr ausgäbe und mit seinen Pferden, seiner Tafel und Wohnung manchen Gutsbesitzer in den Schatten stellte.

      5. Das Klassenzimmer

      Als wir nach oben kamen, zog Karl Iwanowitsch seinen Schlafrock an, band den Gürtel um und setzte sich sehr nachdenklich auf seinen Platz. Wir gingen mit unserem Lesebuch zu ihm, er sah uns streng an und strich mit seinem starken Fingernagel die Stelle an, bis zu welcher wir auswendig lernen und ihm aufsagen sollten. Wolodja trieb nicht wie gewöhnlich


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