Eine langweilige Geschichte. Anton Pavlovich Chekhov
ch Chekhov
Eine langweilige Geschichte / Aus den Aufzeichnungen eines alten Mannes
I
Es lebt in Rußland ein hochverdienter Professor, namens Nikolai Stepanowitsch *** (ich unterdrücke den Familiennamen), Geheimrat, Ritter pp.; er besitzt so viele russische und ausländische Orden, daß, wenn er Veranlassung hat sie anzulegen, die Studenten ihn mit der bunten Bilderwand in der Kirche vergleichen. Sein Bekanntenkreis ist ein höchst vornehmer; wenigstens hat es in den letzten fünfundzwanzig bis dreißig Jahren in Rußland keinen berühmten Gelehrten gegeben, mit dem er nicht näher bekannt gewesen wäre. Jetzt mag er sich mit niemand mehr anfreunden; aber wenn von der Vergangenheit die Rede sein soll, so schließen die lange Reihe seiner berühmten Freunde Männer wie Pirogow, Kawelin und der Dichter Nekrasow, die ihm ihre aufrichtige, warme Freundschaft schenkten. Er ist Ehrenmitglied aller russischen und dreier ausländischen Universitäten, usw. usw. Alles dies und vieles, was man noch hinzufügen könnte, bildet das, was man meinen Namen nennt.
Dieser mein Name erfreut sich einer großen Popularität. In Rußland ist er jedem gebildeten Menschen bekannt, und im Auslande wird er auf den Kathedern mit den Beiworten »der bekannte« und »der verehrte« erwähnt. Er gehört zu jenen wenigen glücklichen Namen, die zu schmähen oder leichtfertig in den Mund zu nehmen beim Publikum und bei der Presse als schlechter Ton gilt. Und das ist auch nur in der Ordnung. Ist doch mit meinem Namen der Begriff eines berühmten, reich begabten und der Menschheit zweifellos nützlichen Mannes eng verbunden. Ich bin arbeitsam und ausdauernd wie ein Kamel, was von Wichtigkeit ist, und ich besitze Talent, was von noch größerer Wichtigkeit ist. Außerdem bin ich, beiläufig gesagt, ein wohlerzogener, bescheidener, ehrenhafter Mensch. Niemals habe ich meine Nase in Literatur und Politik hineingesteckt, habe nie durch Polemik mit Unwissenden populär zu werden gesucht, nie Reden bei Diners oder am Grabe von Kollegen gehalten. Überhaupt haftet an meinem Gelehrtennamen kein Flecken, und mein Name hat keinen Grund sich zu beklagen. Er ist glücklich.
Der Träger dieses Namens, also mein Ich, ist ein Mann von zweiundsechzig Jahren, mit kahlem Kopfe, falschen Zähnen und einem unheilbaren Gesichtsschmerz, einem tic. So glänzend und schön mein Name ist, ebenso trübselig und häßlich bin ich selbst. Kopf und Hände zittern mir vor Schwäche; mein Hals hat, wie bei der Heldin einer Turgenjewschen Erzählung, Ähnlichkeit mit dem Griffe eines Kontrabasses; die Brust ist eingefallen, der Rücken schmal. Wenn ich spreche oder Vorlesung halte, so zieht sich mein Mund schräg nach der Seite hin; wenn ich lächle, so bedeckt sich mein ganzes Gesicht mit greisenhaften, starren Runzeln. An meiner ganzen kläglichen Figur ist nichts, was Interesse erwecken könnte; nur etwa wenn ich an meinem Gesichtsschmerz krank bin, tritt bei mir ein gewisser besonderer Ausdruck hervor, der wohl bei jedem, der mich ansieht, den ernsten, bedeutsamen Gedanken hervorruft: »Wahrscheinlich wird dieser Mensch bald sterben.«
Ich trage bei meinen Vorlesungen, wie früher, nicht schlecht vor; wie in früheren Zeiten vermag ich die Aufmerksamkeit der Hörer zwei Stunden lang zu fesseln. Über meiner Wärme für den Gegenstand, der Klarheit der Erörterung und dem guten Humor, den ich dabei entwickele, vergißt man fast die Mängel meiner Stimme, die trocken und scharf ist und etwas Singendes hat, wie man es sonst bei Frömmlern findet. Das Schreiben dagegen gelingt mir schlecht. Jener Teil meines Gehirnes, der die schriftstellerische Fähigkeit dirigieren soll, versagt den Dienst. Mein Gedächtnis ist schwach geworden, meinem Denken fehlt die nötige Folgerichtigkeit, und sobald ich meine Gedanken auf das Papier bringe, habe ich jedesmal die Empfindung, daß ich das Gefühl für ihre organische Verknüpfung verloren habe; die Konstruktion ist eintönig, die Ausgestaltung der Sätze gar zu bescheiden und ärmlich. Oft schreibe ich gar nicht das, was ich eigentlich beabsichtige; wenn ich das Ende schreibe, habe ich den Anfang nicht mehr im Kopfe. Oft kann ich mich auf die gewöhnlichsten Ausdrücke nicht besinnen, und ich muß immer erst große Energie aufwenden, um bei einem Schriftstück überflüssige Redensarten und unnötige Eingangssätze zu vermeiden; beides zeugt deutlich von einem Verfalle der geistigen Fähigkeiten. Und merkwürdig: je einfacher das betreffende Schriftstück ist, um so qualvollere Anstrengung kostet es mich. Bei der Abfassung eines wissenschaftlichen Aufsatzes fühle ich mich weit freier und fähiger als bei einem Gratulationsbriefe oder bei einem amtlichen Berichte. Noch eines: es wird mir leichter, Deutsch oder Englisch zu schreiben als Russisch.
Was meine jetzige Lebensweise anlangt, so muß ich vor allem die Schlaflosigkeit erwähnen, an der ich in der letzten Zeit leide. Wenn mich jemand fragen wollte: »Was bildet jetzt den wichtigsten, den fundamentalen Zug deines Daseins?« so müßte ich antworten: die Schlaflosigkeit. Wie früher entkleide ich mich gewohnheitsmäßig pünktlich um Mitternacht und lege mich ins Bett. Ich schlafe schnell ein; aber zwischen eins und zwei wache ich auf, und zwar mit einem Gefühle, als hätte ich überhaupt nicht geschlafen. Ich muß aufstehen und die Lampe anzünden. Eine oder zwei Stunden lang gehe ich dann im Zimmer von einer Ecke nach der anderen und betrachte die mir längst bekannten Bilder und Photographien. Wenn ich dieser Wanderung überdrüssig werde, setze ich mich an meinen Schreibtisch. Ich sitze unbeweglich, ohne etwas zu denken und ohne irgendwelchen Wunsch zu empfinden; liegt ein Buch vor mir, so ziehe ich es mechanisch zu mir heran und lese ohne alles Interesse. So habe ich neulich in einer einzigen Nacht mechanisch einen ganzen Roman mit dem sonderbaren Titel: »Was die Schwalbe sang« durchgelesen. Oder aber ich zwinge mich, um meinen Geist zu beschäftigen, bis tausend zu zählen, oder ich vergegenwärtige mir das Gesicht irgendeines meiner Kollegen und suche mich zu besinnen, in welchem Jahre und unter welchen Umständen er ins Amt getreten ist. Gern horche ich auch auf allerlei Geräusche. Bald redet zwei Zimmer von mir entfernt meine Tochter Lisa hastig etwas im Traume vor sich hin; bald geht meine Frau mit einer Kerze durch den Saal und läßt unfehlbar das Streichholzschächtelchen auf den Boden fallen; bald knackt ein zusammentrocknender Schrank, oder der Brenner an meiner Lampe beginnt unerwartet zu summen, – und alle diese Geräusche haben, ich weiß nicht warum, für mich etwas Aufregendes.
Wenn man in der Nacht nicht schläft, so ist man sich dabei jeden Augenblick bewußt, daß man sich nicht in normalem Zustande befindet, und daher warte ich mit Ungeduld auf den Morgen und den Tag, wo ich ein Recht habe nicht zu schlafen. Aber es vergeht viel qualvolle Zeit, bis auf dem Hofe der Hahn zu krähen beginnt. Dies ist mein erster Freudenbote. Sobald er kräht, weiß ich, daß nun in einer Stunde unten der Portier aufwachen und, ärgerlich hustend, zu irgendwelcher Verrichtung die Treppe heraufkommen wird. Und dann wird es draußen vor den Fenstern allmählich heller werden, auf der Straße werden Stimmen laut werden usw.
Der Tag beginnt bei mir mit dem Eintreten meiner Frau. Sie kommt zu mir ins Zimmer im Unterrock, unfrisiert, aber bereits gewaschen und nach Eau de Cologne duftend. Sie macht ein Gesicht, als käme sie nur so zufällig herein, und sagt jedesmal ein und dasselbe:
»Entschuldige, ich wollte nur einen Augenblick … Hast du wieder nicht geschlafen?«
Dann löscht sie die Lampe aus, setzt sich an den Tisch und beginnt zu reden. Obwohl ich kein Prophet bin, weiß ich im voraus, wovon sie sprechen wird. Es ist jeden Morgen dasselbe. Nachdem sie sich besorgt nach meinem Befinden erkundigt hat, fällt ihr gewöhnlich auf einmal unser Sohn ein, der als Offizier in Warschau steht. Am zwanzigsten jedes Monats schicken wir ihm fünfzig Rubel hin, und das dient nun als hauptsächlichstes Thema unseres Gespräches.
»Es fällt uns ja freilich schwer,« sagt meine Frau seufzend, »aber solange er noch nicht auf eigenen Füßen stehen kann, ist es doch unsere Pflicht, ihn zu unterstützen. Der Junge wohnt an einem fremden Orte, und sein Gehalt ist nur klein … Indessen, wenn du willst, können wir ihm ja im nächsten Monat statt fünfzig nur vierzig Rubel schicken. Was meinst du?«
Aus der täglichen Erfahrung könnte meine Frau lernen, daß Ausgaben dadurch nicht kleiner werden, daß man oft von ihnen spricht; aber meine Frau läßt die Erfahrung nicht gelten und unterhält mich pünktlich jeden Morgen von unserem Offizier und davon, daß das Brot Gott sei Dank billiger geworden sei, der Zucker aber leider zwei Kopeken teurer, – und alles das in einem Tone, als ob sie mir eine Neuigkeit mitteilte.
Ich höre zu und äußere mechanisch meine Beistimmung; aber wahrscheinlich infolge der schlaflosen Nacht kommen mir sonderbare, unnütze Gedanken. Ich sehe meine Frau an und wundere mich wie ein Kind. Verständnislos frage ich mich: ist diese alte, sehr korpulente, plumpe Frau mit dem stumpfen Ausdruck kleinlicher Sorge und Angst um das tägliche Brot, mit diesem von steten Gedanken an Schulden und Not verschleierten Blicke, diese Frau, die von weiter