Eine langweilige Geschichte. Anton Pavlovich Chekhov

Eine langweilige Geschichte - Anton Pavlovich Chekhov


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Gesichter, von denen keines dem anderen ähnlich ist, und dreihundert Augen, die mir gerade ins Gesicht schauen. Mein Ziel ist, diese vielköpfige Hydra zu besiegen. Wenn ich während meines Vortrages in jedem Augenblicke eine klare Vorstellung von dem Grade der Aufmerksamkeit und des Verständnisses meiner Zuhörer habe, dann sind diese in meiner Gewalt. Ein anderer Gegner steckt in mir selbst. Dies ist die endlose Mannigfaltigkeit der Formen, Erscheinungen und Gesetze und die dadurch bedingte Fülle eigener und fremder Gedanken. In jedem Augenblick muß ich die Geschicklichkeit besitzen, aus diesem gewaltigen Material das Wichtigste und Notwendigste herauszugreifen und ebenso schnell, wie meine Rede dahinfließt, meine Gedanken in eine solche Form zu kleiden, daß sie dem Verständnis der vielköpfigen Zuhörerschaft angemessen ist und deren Interesse erwecken kann, wobei genau darauf zu achten ist, daß die Gedanken nicht so, wie sie sich angehäuft haben, sondern in einer gewissen Ordnung übermittelt werden, die zu einer regelrechten Komposition des Gemäldes, das ich entwerfen will, unerläßlich ist. Ferner gebe ich mir Mühe, dafür zu sorgen, daß mein Vortrag sprachlich korrekt, die Definitionen kurz und bestimmt, der Satzbau möglichst einfach und schön sei. Jeden Augenblick muß ich mich selbst zügeln und mir ins Gedächtnis zurückrufen, daß ich nur eine Stunde und vierzig Minuten zur Verfügung habe. Kurz, es ist genug zu tun. Ich muß mich gleichzeitig als Gelehrter, als Pädagog und als Redner betätigen, und es wäre ein schlimmes Ding, wenn der Redner in mir über den Pädagogen und Gelehrten den Sieg davontrüge, oder umgekehrt.

      Man trägt eine Viertelstunde, eine halbe Stunde vor, und da bemerkt man, daß die Studenten nach der Zimmerdecke und nach Peter Ignatjewitsch zu blicken anfangen, und daß einer sein Taschentuch hervorholt, ein anderer sich bequemer hinsetzt, ein dritter über seine eigenen Gedanken lächelt. Das sind Anzeichen dafür, daß die Aufmerksamkeit müde und stumpf wird. Dagegen müssen Maßregeln ergriffen werden. Ich benutze die erste geeignete Gelegenheit, um irgendein Späßchen anzubringen. Alle hundertfünfzig Gesichter verziehen sich zu einem breiten Lächeln, die Augen leuchten vergnügt auf, das Brausen des Meeres läßt sich für kurze Zeit wieder vernehmen. Ich lache ebenfalls. Die Aufmerksamkeit ist wieder angefrischt, und ich kann fortfahren.

      Kein Sport, keine Zerstreuungen und Spiele haben mir jemals einen solchen Genuß gewährt wie das Halten von Vorlesungen. Nur bei den Vorlesungen konnte ich mich ganz meinem Affekte überlassen und verstand, daß die Eingebung nicht eine Erfindung der Dichter ist, sondern tatsächlich existiert. Und ich glaube, Herkules hat nach der großartigsten seiner Heldentaten nicht eine so wonnige Ermattung empfunden, wie ich sie jedesmal nach einer Vorlesung durchmachte.

      So war das früher. Jetzt dagegen empfinde ich bei den Vorlesungen nur Qual. Es vergeht keine halbe Stunde, so beginne ich in den Beinen und Schultern eine unüberwindliche Schwäche zu fühlen; ich setze mich auf den Stuhl; aber im Sitzen vorzutragen ist mir ungewohnt; eine Minute darauf stehe ich wieder auf und fahre stehend fort; dann setze ich mich von neuem hin. Die Mundhöhle wird mir trocken, die Stimme heiser, der Kopf schwindlig. Um den Zuhörern meinen Zustand zu verbergen, trinke ich öfters Wasser, huste, schneuze mich oft, als ob mir ein Schnupfen lästig wäre, mache an unpassenden Stellen Späße und schließe zuletzt die Vorlesung früher, als es in der Ordnung ist. Aber hauptsächlich schäme ich mich.

      Gewissen und Verstand sagen mir, daß das Beste, was ich jetzt tun könnte, wäre: den Studenten eine Abschiedsvorlesung zu halten, ihnen Lebewohl zu sagen, ihnen alles Gute für ihren weiteren Lebensweg zu wünschen und meinen Platz jemandem abzutreten, der jünger und kräftiger ist als ich. Aber Gott möge mich richten: es fehlt mir der Mut, so zu handeln, wie mich mein Gewissen handeln heißt. Unglücklicherweise bin ich weder ein Philosoph noch ein Theologe. Ich weiß ganz genau, daß ich nicht mehr länger als ein halbes Jahr leben werde; man sollte nun meinen, jetzt müßten mich vor allem die Fragen nach den Visionen, die meinen Schlaf im Grabe vielleicht heimsuchen werden, und nach dem dunklen Dasein im Jenseits beschäftigen. Aber merkwürdigerweise will meine Seele von diesen Fragen nichts wissen, obwohl der Verstand die hohe Wichtigkeit derselben anerkennt. Wie vor zwanzig bis dreißig Jahren, so interessiert mich auch jetzt vor dem Tode ausschließlich die Wissenschaft. Wenn ich meinen letzten Seufzer ausstoße, so werde ich doch noch an dem Glauben festhalten, daß die Wissenschaft das Wichtigste, Schönste und Notwendigste im Leben ist, daß sie immer die höchste Offenbarung der Liebe gewesen ist und sein wird, und daß nur durch sie der Mensch die Natur und sich selbst besiegen kann. Dieser Glaube ist vielleicht naiv und mangelhaft begründet; aber ich kann nichts dafür, daß ich diesen Glauben habe und keinen andern; und diesen Glauben in mir zu zerstören, dazu bin ich außerstande.

      Aber darum handelt es sich nicht. Ich bitte nur, man wolle meine Schwäche nachsichtig beurteilen und es sich klar machen, daß, wenn man einen Menschen, den die Veränderungen des Knochenmarkes mehr interessieren als das Endziel des Weltgebäudes, von seinem Katheder und von seinen Schülern wegreißt, dies dasselbe bedeutet, wie wenn man, ohne zu warten, bis er gestorben ist, ihn in einen Sarg legen und diesen zunageln wollte.

      Infolge der Schlaflosigkeit und des anstrengenden Kampfes mit der zunehmenden Schwäche begegnet mir etwas ganz Seltsames. Mitten in der Vorlesung steigen mir plötzlich die Tränen in die Kehle, die Augen fangen mir an zu jucken, und ich empfinde den leidenschaftlichen, hysterischen Wunsch, die Arme nach vorn zu strecken und laut zu klagen. Ich möchte es laut hinausschreien, daß das Schicksal mich, den berühmten Mann, zum Tode verurteilt hat, daß nach ungefähr einem halben Jahre hier in diesem Auditorium schon ein anderer walten wird. Ich möchte es hinausschreien, daß ich vergiftet bin; neue Gedanken, die ich früher nicht gekannt habe, haben meine letzten Lebenstage vergiftet und stechen fortdauernd mein Gehirn wie Moskitos. Und meine Lage erscheint mir bei solchen Anfällen so furchtbar, daß ich wünsche, alle meine Hörer möchten einen entsetzlichen Schreck bekommen, von ihren Plätzen aufspringen und in panischer Angst mit verzweifeltem Geschrei zum Ausgang hinstürzen.

      Es ist nicht leicht, solche Augenblicke zu durchleben.

      II

      Nach der Vorlesung sitze ich bei mir zu Hause und arbeite. Ich lese Zeitschriften und Dissertationen oder bereite mich auf die folgende Vorlesung vor; manchmal schreibe ich auch etwas. Ich arbeite mit Unterbrechungen, da ich dabei Besucher empfangen muß.

      Die Klingel ertönt. Ein Kollege ist gekommen, um mit mir etwas Geschäftliches zu besprechen. Er tritt mit Hut und Stock in mein Zimmer, streckt mir in jeder Hand einen dieser Gegenstände entgegen und sagt:

      »Ich komme nur auf einen Augenblick, nur auf einen Augenblick! Bleiben Sie sitzen, Kollege! Nur zwei Worte!«

      Zunächst suchen wir einander zu zeigen, daß wir beide außerordentlich höfliche Menschen und beide sehr erfreut sind, einander zu sehen. Ich nötige ihn in einen Lehnsessel, und er sucht mich zum Sitzen zu veranlassen; dabei streicheln wir uns wechselseitig behutsam an der Rocktaille und berühren die Knöpfe des andern; es sieht so aus, als ob wir einander betasteten, uns aber hierbei zu verbrennen fürchteten. Wir lachen beide, obwohl wir nichts Lächerliches sagen. Nachdem wir zum Sitzen gekommen sind, beugen wir uns mit den Köpfen zueinander und beginnen halblaut zu reden. Mögen wir einander auch noch so freundlich gesinnt sein, es ist dennoch unumgänglich nötig, daß wir unsere Reden mit allerlei chinesischen Phrasen vergolden, als da sind: »Sie beliebten sehr richtig zu bemerken«, oder: »Wie ich schon die Ehre hatte Ihnen zu sagen«, und es ist unumgänglich nötig, daß wir lachen, wenn einer von uns einen Witz macht, mag er auch noch so geringwertig sein. Nach Beendigung des geschäftlichen Gespräches steht der Kollege mit einer hastigen Bewegung auf, weist mit seinem Hute nach meiner Arbeit hin und beginnt sich zu empfehlen. Wieder betasten wir uns gegenseitig und lachen dabei. Ich begleite ihn bis ins Vorzimmer; hier bin ich meinem Kollegen beim Anziehen des Pelzes behilflich; aber er wehrt sich in jeder Weise gegen diese hohe Ehre. Wenn dann Jegor die Tür öffnet, versichert mir der Kollege, ich würde mich erkälten; ich aber tue, als hätte ich vor, sogar bis auf die Straße hinter ihm her zu gehen. Und wenn ich dann endlich in mein Arbeitszimmer zurückkehre, so fährt mein Gesicht, wohl infolge des Beharrungsvermögens, immer noch fort zu lächeln.

      Nach einem Weilchen klingelt es wieder. Es tritt jemand ins Vorzimmer, zieht sich lange aus und hustet. Jegor meldet, es sei ein Student da. Ich sage: »Ich lasse bitten.« Einen Augenblick darauf tritt ein junger Mensch von angenehmem Äußern in mein Zimmer. Schon seit einem Jahre stehen wir beide miteinander


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