Sämmtliche Werke 4: Mirgorod. Gogol Nikolai Vasilevich

Sämmtliche Werke 4: Mirgorod - Gogol Nikolai Vasilevich


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Polen und Tataren Schrecken einflößende kriegerische Macht repräsentierte. Das befestigte Hauptlager der Kosaken, die sogenannte Sjetsch, von dem aus sie ihre Feldzüge unternahmen, lag auf einer der Inseln des Dnjepr; sie hatten ihre eigene originelle Organisation und eigenartige Sitten und Gebräuche, über die sie mit Eifersucht wachten. Die höchste Bewegungsfreiheit paarte sich hier mit einem quellenden Tatendrang, der in den ständig drohenden Gefahren und in den kriegerischen Aktionen zum Schutze der angestammten Religion und des eigenen Volkstums eine willkommene Aufgabe fand und so das Entstehen mächtiger und starker Individualitäten begünstigte, die doch durch das gemeinsame Ziel zu einer festen Gemeinschaft zusammengeschlossen wurden. Den reichen Stoff, der hier vorlag, hat Gogol mit vollendeter Meisterschaft bewältigt. Hierbei sind ihm seine tiefen historischen Studien zustatten gekommen, die er einst mit der Absicht, eine Geschichte Kleinrußlands zu schreiben, unternommen hatte; allein die streng wissenschaftliche Darstellung war nicht die adäquate Form für seine geschichtlichen Forschungen. Erst in der Gestalt der Dichtung gewannen diese für ihn Leben und Realität. Indem sich Gogol dem freien Fluge der Einbildungskraft überließ, gab er uns in einer gewaltigen Anschauung ein getreueres, lebensvolleres Bild jener historischen Epoche, als dies je eine wissenschaftliche Rekonstruktion vermöchte. In „Taraß Bulba“ steigt ein entschwundenes Zeitalter leibhaftig vor uns auf. Wir lernen die Völker in ihrer nationalen Eigenart, in ihrem Hassen und Lieben kennen, wir erleben den Kampf der Religionen, die Gegensätze der feindlichen Stämme: der Russen und Polen, des Katholizismus und der Orthodoxie, die furchtbaren Leiden der Juden usw., und all diese einzelnen Züge vereinigen sich für uns zu einem großen historischen Gemälde und zu einem mächtigen Bardengesang auf das kleinrussische Volk. „Taraß Bulba“ ist neben den „Toten Seelen“ die stärkste Dichtung Gogols und zugleich einer der Gipfelpunkte der russischen Literatur.

      In dem patriotischen Heldenlied der Taraß Bulba-Dichtung klingt der erste Teil von Mirgorod aus. Der zweite Teil führt uns durch das Grauen der Gespensternovelle Wij, die wieder an den Stil der Abende auf dem Gutshofe bei Dikanka anknüpft und uns alle Schrecken des Gespensterglaubens mit einer an die Realistik des Traumes gemahnenden Intensität erleben läßt, wieder in die Welt des Alltags und zur Erbärmlichkeit der Gegenwart zurück. Die köstliche Satire vom Streite Iwan Iwanowitschs und Iwan Nikiforowitschs bildet den äußersten Abstich gegen das großzügige Epos slawischen Lebens: den Taraß Bulba. Der Traum der Phantasie ist ausgeträumt, und die heroische Geste wird abgelöst durch die Grimasse. Die ganze Misere kleinstädtischen Daseins, der trostlose Stumpfsinn einer geistlosen, jeden ernsten Interessen entfremdeten Existenz erscheint hier in dem Zerrspiegel eines Humors, der nur ein Ausdruck für den Pessimismus des Dichters ist, welcher die Nichtigkeit und Fratzenhaftigkeit der Welt an dem Ideal freier Menschlichkeit mißt und seine Tränen hinter der Maske des Spottes und des Gelächters verbirgt.

      Diese Erzählung, mit der der Novellenkreis Mirgorod schließt, leitet bereits zu dem neuen Stil Gogols hinüber, der seine vollkommenste Ausprägung in dem Roman „Die toten Seelen“ gefunden hat. Die kleine Erzählung „Die Equipage“, die wir dem Mirgorodzyklus als Anhang folgen lassen, stammt aus einer späteren Zeit, hängt jedoch in bezug auf ihren Charakter und ihre Grundidee eng mit dem letzteren zusammen.

      Erster Teil

      Gutsbesitzer aus der alten Zeit

Übersetzt von Charlotte König

      Ich liebe es sehr, dies bescheidene Leben jener einsamen Bewohner entlegener Dörfer, die man in Kleinrußland gewöhnlich „Gutsbesitzer aus der alten Zeit“ nennt, und die uns gleich verwitterten malerischen Häuschen durch ihre schlichte Einfachheit anziehen. Der Reiz besteht in dem absoluten Gegensatz zu den neuen, sauberen Gebäuden, deren Mauern noch kein Regen verwaschen hat, deren Dächer kein grüner Schimmel bedeckt und deren vom Mörtel entblößte Fassade noch nicht ihre roten Ziegel hervorstreckt. Ich liebe es, mich mitunter auf Augenblicke in die Sphäre dieses ganz einsamen Lebens zu versenken: da schwingt sich kein Wunsch über den Zaun, der das kleine Gehöft umgibt, oder über die Hecke, die den mit Apfel- und Birnbäumen reich bestandenen Garten einschließt. Kein Verlangen reckt sich über die von Weiden, Holunder und Birnbäumen beschatteten, schiefen Hütten. Auch das Leben der Bewohner ist so still – so still daß man zeitweise sich selbst vergißt und glaubt, die Leidenschaften, die Begierden und die seltsamen Gelüste des bösen Geistes, die diese Welt beunruhigen, existierten gar nicht und wären nur Gesichte eines glänzenden, leuchtenden Traumes.

      Es ist mir, als sähe ich es vor meinen Augen – das niedrige Häuschen mit der Galerie aus kleinen geschwärzten Holzstäben, die rund herum das Haus umgibt, damit man bei Regen und Hagel die Läden schließen kann, ohne selbst naß zu werden. Hinter ihr erhebt sich ein duftender Faulbaum und eine lange Reihe niedriger Obstbäume, die im Purpurrot der Kirschen und im saphirblauen Meer der mattbereiften Pflaumen ertrinken. Dort steht ein langgestreckter Ahorn, in dessen Schatten ein ausgebreiteter Teppich zur Ruhe einladet, vor dem Hause befindet sich ein geräumiger Hof, der von frischem kurzem Gras bedeckt ist, in welchem emsige Füße von dem Speicher bis zur Küche und von der Küche bis zu den Herrschaftszimmern einen schmalen Weg ausgetreten haben. Eine langhalsige Gans steht umringt von jungen, flaumigen Kücheln und trinkt Wasser; der Staketenzaun ist mit Bündeln von getrockneten Äpfeln, Birnen und Teppichen behängt, die hier ausgelüftet werden; eine Fuhre mit Melonen steht neben dem Speicher, und der ausgespannte Stier ruht träge daneben aus. Das alles hat für mich einen unerklärlichen Zauber, vielleicht weil ich es nun nicht mehr sehe und weil uns alles so teuer ist, von dem wir getrennt sind. Gleichviel warum, jedenfalls zog auch schon damals eine wunderbare angenehme Ruhe durch meine Seele, wenn sich mein Wagen dem Häuschen näherte; fröhlich trabten die Pferde auf die Freitreppe zu, und der Kutscher stieg behaglich vom Bock und zündete sich ein Pfeifchen an, als käme er zu sich nach Hause – ja selbst das Gebell, das die phlegmatischen, schwarzen und braunen Köter anstimmten, war meinen Ohren angenehm.

      Am meisten aber gefielen mir die Besitzer dieser bescheidenen Nester, die alten Männer und Frauen, die einem geschäftig entgegenkamen und einen so freundlich begrüßten. Heut noch im Lärm und Trubel des Lebens, inmitten moderner Fräcke meine ich manchmal ihre Gesichter zu sehen: und im Halbschlummer steigt dann die Vergangenheit vor mir auf. In ihren Zügen liegt immer soviel Güte, soviel Treuherzigkeit und Herzensreinheit – daß man unwillkürlich, wenn auch nur für kurze Zeit, seine vermessenen Pläne und Absichten vergißt und unbewußt mit allen Fühlern in dies schlichte und idyllische Leben hinabtaucht. Bis heute kann ich zwei von diesen alten Leuten aus dem vorigen Jahrhundert nicht vergessen, die längst nicht mehr unter den Lebenden weilen: aber auch heut noch ist meine Seele von Trauer erfüllt, und mein Herz zieht sich bei dem Gedanken seltsam zusammen, daß ich wieder einmal an ihrer einstigen nun verödeten Wohnung vorbeikommen könnte, und dort, wo einst ihr niedriges Häuschen stand, nur einen Haufen verfallener Hütten, einen moosüberzogenen Teich, den verwilderten Garten finden könnte – und weiter nichts. Es wird einem so traurig dabei zumute! Wie traurig ist schon der bloße Gedanke daran. Aber wenden wir uns unserer Erzählung zu.

      Afanassji Iwanowitsch Towstogub und Pulcheria Iwanowna „Towstogubicha“, (wie die Bauern aus der Umgegend sie zu nennen pflegten), so hießen jene alten Leute, von denen ich zu erzählen begonnen habe. Wenn ich ein Maler wäre und das Bild von Philemon und Baucis auf der Leinwand darstellen wollte: ich würde mir nie ein anderes Modell wählen, als diese beiden. Afanassji Iwanowitsch war 60 Jahre alt, Pulcheria Iwanowna 55. Afanassji Iwanowitsch war groß von Wuchs, trug beständig einen mit Kamelot überzogenen Schafpelz, saß gebeugt da und lächelte immer, sei es nun daß er selbst sprach und erzählte oder daß er einfach zuhörte. Pulcheria Iwanowna dagegen war stets ernst und lächelte fast nie: in ihren Zügen und in ihren Augen lag soviel Güte, und soviel Bereitwilligkeit, Sie mit dem Besten zu bewirten, was sie besaß, daß Sie ein Lächeln auf diesen guten Zügen sicher als süßlich empfunden hätten. Die feinen Runzeln auf ihren Gesichtern hatten etwas so Angenehmes und Liebenswürdiges, daß ein Maler sie sich sicher gemerkt und bei Gelegenheit verwertet hätte. Es schien als konnte man die ganze Geschichte ihres Lebens von ihnen ablesen: dieses lauteren, ruhigen Lebens, wie es die alten bodenständigen, braven und wohlhabenden Familien führen, die so sehr von jenen gewöhnlichen Kleinrussen abstechen, welche aus den Kreisen von Teerbrennern und Krämern hervorgehen. Diese erfüllen alle Staatsbehörden und Kanzleien wie die Heuschrecken,


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