Herr und Knecht: Novelle. Tolstoy Leo
gefrorenen Straße dahin.
„Wie kannst du dich unterstehen, dich da aufzuhocken? Gib mal die Peitsche her, Nikita!“ rief Wasili Andrejitsch; er freute sich augenscheinlich über seinen Sohn, der sich hinten auf die Kufen gekauert hatte. „Wart, ich will dich! Lauf zu deiner Mutter, du Schlingel!“
Der Knabe sprang ab. Der Braungelbe beschleunigte seinen Paßgang, schüttelte sich und ging in Trab über.
Das Dorf Krestü, zu welchem Wasili Andrejitschs Haus gehörte, bestand nur aus sechs Häusern. Sobald sie an dem letzten Hause, der Schmiede, vorbei waren, merkten sie sofort, daß der Wind weit stärker war, als sie geglaubt hatten. Vom Wege war fast gar nichts mehr zu sehen. Die Spur der Kufen wurde sofort wieder verweht, und man konnte den Weg nur daran unterscheiden, daß er höher war als das übrige Terrain. Über das ganze Feld hin stürmte es, und die Linie, wo Erde und Himmel sich berühren, war schlechterdings nicht zu erkennen. Der Teljatiner Wald, der sonst immer so gut zu sehen war, erschien durch das Schneegestöber hindurch nur undeutlich als etwas Schwarzes. Der Wind blies von links; er trieb hartnäckig die Mähne an dem drallen, wohlgenährten Halse des Braungelben nach der einen Seite, drückte sogar den aufgebundenen Schweif des Tieres seitwärts und preßte den langen Kragen an dem Mantel Nikitas, der auf der Windseite saß, gegen dessen Gesicht und Nase.
„Er kann nicht ordentlich zutraben, wegen des Schneetreibens,“ sagte Wasili Andrejitsch, der auf sein gutes Pferd stolz war. „Ich bin einmal mit ihm nach Paschutino gefahren, da hat er mich in einer halben Stunde hingebracht.“
„Was?“
„Ich sage, ich bin mit ihm in einer halben Stunde nach Paschutino gefahren.“
„Das kann niemand bestreiten: es ist ein gutes Pferd,“ erwiderte Nikita.
Sie schwiegen ein Weilchen. Aber Wasili Andrejitsch hatte Lust, ein bißchen zu reden.
„Na, wie ist es? Du hast doch wohl deiner Frau verboten, dem Böttcher Schnaps zu geben?“ sagte Wasili Andrejitsch; er war so fest davon überzeugt, daß Nikita sich geschmeichelt fühlen müsse, wenn er sich mit einem so bedeutenden, klugen Manne, wie er, unterhalten dürfe, und so zufrieden mit seinem eigenen Späßchen, daß es ihm gar nicht in den Sinn kam, dieses Gespräch könne seinem Knechte vielleicht unangenehm sein.
Nikita hatte wieder nicht verstanden, da der Wind den Ton der Worte seines Herrn weggetragen hatte.
Wasili Andrejitsch wiederholte mit seiner lauten, deutlichen Stimme seinen Scherz über den Böttcher.
„Gott möge es ihnen verzeihen, Wasili Andrejitsch; ich mische mich nicht in diese Sachen. Wenn sie nur meinem Jungen nichts zuleide tut; sonst mag sie machen, was sie will.“
„Da hast du recht,“ antwortete Wasili Andrejitsch. „Na, was meinst du? Willst du dir zum Frühjahr ein Pferd kaufen?“ fragte er, zu einem neuen Gegenstande übergehend.
„Das wird wohl nötig werden,“ antwortete Nikita; er schlug den Kragen seines Mantels zurück und bog sich zu seinem Herrn hin.
Jetzt war das Gespräch für Nikita interessant geworden, und er hatte den Wunsch, alles zu verstehen.
„Der Junge ist nun herangewachsen und muß selbst pflügen; bisher haben wir immer einen Pflüger und ein Pferd gemietet,“ fügte er hinzu.
„Weißt du was? Nehmt meinen Kreuzschwachen; ich werde euch einen billigen Preis machen,“ rief Wasili Andrejitsch. Er fühlte sich in angeregter Stimmung und verfiel infolge dessen auf seine Lieblingsbeschäftigung, der er seine gesamten Geisteskräfte widmete, auf den Handel.
„Sonst könnten Sie mir ja auch fünfzehn Rubel geben, und ich kaufe mir ein Pferd auf dem Pferdemarkt,“ antwortete Nikita, der recht wohl wußte, daß für den Kreuzschwachen, welchen Wasili Andrejitsch an ihn loswerden wollte, sieben Rubel der richtige Preis war, Wasili Andrejitsch aber, wenn er ihm dieses Pferd überließe, es ihm mit fünfundzwanzig Rubeln anrechnen werde und er dann ein halbes Jahr lang von ihm kein Geld werde zu sehen bekommen.
„Es ist ein gutes Pferd. Ich meine es mit dir ebenso gut wie mit mir selbst. Auf mein Gewissen. Brechunow übervorteilt keinen Menschen. Lieber verliere ich selbst mein Hab und Gut, als daß ich es so machen sollte wie andere Leute. Auf Ehre!“ rief er in jenem ihm geläufigen Tone, in welchem er diejenigen, mit denen er als Käufer oder Verkäufer handelte, zu beschwatzen suchte. „Es ist ein tüchtiges Pferd.“
„Gewiß, gewiß,“ sagte Nikita mit einem Seufzer, und in der Überzeugung, daß es keinen Zweck habe weiter zuzuhören, ließ er mit der Hand den Kragen los, der ihm sofort wieder das Ohr und das Gesicht bedeckte.
Etwa eine halbe Stunde lang fuhren sie schweigend. Der Wind blies bei Nikita an der Seite und am Arme da hindurch, wo der Pelz zerrissen war.
Er krümmte sich zusammen und atmete in den Kragen hinein, der ihm den Mund bedeckte, und es kam ihm vor, als ob dieser Hauch ihn erwärme.
„Nun, was meinst du? Wollen wir über Karamüschewo fahren oder direkt?“ fragte Wasili Andrejitsch.
Über Karamüschewo ging die Fahrt auf einer vielbenutzten Landstraße, bei der zu beiden Seiten gute Merkstangen aufgestellt waren; aber es war weiter, direkt war es näher; aber der Weg war wenig befahren, und die Merkstangen waren teils nicht mehr vorhanden, teils in so üblem Zustande, daß sie nicht aus dem Schnee hervorragten.
Nikita überlegte einen Augenblick lang.
„Über Karamüschewo ist es ja weiter, aber der Weg ist besser befahren,“ antwortete er.
„Aber direkt brauchen wir nur darauf zu achten, daß wir, ohne uns zu verirren, durch den Hohlweg kommen, und dann ist guter Weg,“ erwiderte Wasili Andrejitsch, welcher Lust hatte, direkt zu fahren.
„Wie Sie belieben,“ antwortete Nikita und ließ den Kragen wieder los.
Wasili Andrejitsch tat, was er in Aussicht genommen hatte: eine halbe Werst weiter, bei einer Merkstange, einem im Winde hin und her wackelnden Eichenstämmchen, an dem noch hier und da trockene Blätter hafteten, bog er links ab.
Nach dieser Biegung hatten sie den Wind fast gerade entgegen. Das Schneetreiben wurde dichter. Wasili Andrejitsch lenkte das Pferd; er blähte die Backen auf und blies sich den Atem von unten in den Schnurrbart. Nikita war eingedruselt.
So fuhren sie etwa zehn Minuten schweigend. Plötzlich sagte Wasili Andrejitsch etwas.
„Was?“ fragte Nikita und öffnete die Augen.
Wasili Andrejitsch gab keine Antwort, sondern drehte und wendete sich und hielt Umschau, nach hinten und am Pferde vorbei nach vorn. Das Pferd, das von Schweiß an den Weichen und am Halse ganz kraus geworden war, ging Schritt.
„Was ist denn? Was ist denn?“ fragte Nikita von neuem.
„Ja, was ist denn, was ist denn?“ äffte Wasili Andrejitsch ihm ärgerlich nach. „Es sind keine Merkstangen zu sehen! Wir müssen vom Wege abgekommen sein!“
„Dann halten Sie doch; ich will den Weg wieder suchen,“ sagte Nikita. Er sprang behende aus dem Schlitten, zog die Peitsche aus dem Stroh heraus und ging nach links zu, nach der Seite, auf der er gesessen hatte.
Der Schnee lag in diesem Jahre nicht tief, so daß man überall gehen konnte; aber an einzelnen Stellen reichte er doch bis ans Knie und füllte von oben her einen Stiefel Nikitas voll. Nikita ging hin und her und tastete mit den Füßen und mit der Peitsche; aber ein Weg war nirgends.
„Nun, wie steht's?“ fragte Wasili Andrejitsch, als Nikita wieder zum Schlitten herankam.
„Auf dieser Seite ist kein Weg. Ich muß nach der anderen Seite suchen gehen.“
„Da nach vorn zu ist etwas Schwärzliches; geh doch mal dahin und sieh zu,“ sagte Wasili Andrejitsch.
Nikita ging dorthin und näherte sich dem, was schwärzlich aussah: dieses Schwärzliche war Erde, die von entblößten Wintersaatfeldern durch den Wind über den Schnee getrieben war und den Schnee schwarz gefärbt hatte. Nachdem Nikita dann auch noch auf der rechten Seite umhergegangen war, kehrte er zum Schlitten zurück, klopfte sich den Schnee ab, schüttelte ihn auch aus