Moderne Geister. Georg Brandes
Dorfes begleitet, die natürlich sehr erschrocken sind, „den hohen Reisenden so leicht gekleidet zu sehen“, bewegt es sich nach dem Dorfkruge hin, wo Genelli auf dem Altane sitzt. Der Meister belehrt dann den Centauren, dass dieser ein Paar hundert Jahre zu spät oder zu früh wieder zum Leben erwacht ist. Zur Zeit der Renaissance würde man ihn vermuthlich wohl empfangen haben. „Aber heutzutage und unter dieser engbrüstigen, breitstirnigen, verschneiderten und verschnittenen Lumpenbagage, die sich die moderne Welt nennt!“ Genelli wagt es nicht, ihm ein heiteres Horoskop zu stellen. „Wo Ihr Euch sehen lasst, in Städten oder in Dörfern, werden Euch die Gassenbuben nachlaufen und mit faulen Aepfeln bewerfen, die alten Weiber werden Zeter schreien und die Pfaffen Euch für den Gottseibeiuns ausgeben u. s. w.“ Und es geht, wie er geweissagt hat. Während der biedere Centaur gutmüthig, wie der Starke ist, vom Publikum sich anglotzen, sein sammetweiches Fell befühlen lässt, während er gemüthlich eine Flasche Wein nach der andern leert und über die Brüstung der Laube sie dem hübschen Schenkmädchen, dem er sofort seine Rose geschenkt hat, zurückreicht, lauern Hass und Neid auf sein Verderben. Eine ganze Verschwörung hat sich gegen ihn gebildet. „An der Spitze stand natürlich die hochwürdige Geistlichkeit, die es für das Seelenheil ihrer Pfarrkinder sehr nachtheilig fand, sich mit einem gewiss ungetauften, völlig nackten und wahrscheinlich sehr unsittlichen Thiermenschen näher einzulassen“. Ebenso aufgebracht zeigte sich ein Italiener, der auf dem Markte ein ausgestopftes Kalb mit zwei Köpfen und fünf Beinen vorwies. Den Rossmenschen sah man gratis, er war lebendig und trank und schwatzte, und wer wusste, ob er sich nicht noch bewegen liess, einige Kunstreiterstückchen zum Besten zu geben. Das Kalb dagegen war ein ruhiges Genie und machte zu solchen Extravaganzen durchaus keine Miene. In die Concurrenz kann sich der Italiener nicht finden. „Es sei ein Unterschied“, setzt er dem Pfarrer auseinander, „zwischen einem zünftigen, von der Polizei approbirten Naturspiel und einer ganz unwahrscheinlichen nie dagewesenen Missgeburt, die ohne Pass und Gewerbeschein das Land unsicher machte und ehrlichen fünfbeinigen Kälbern das Brot vor dem Maule wegstehle“. Aber der leidenschaftlichste Gegner des Centauren ist doch der kleine, schiefbeinige Dorfschneider, der Bräutigam des hübschen Schenkmädchens. Auch der Schneider klagt dem Pfarrer seine Noth, die neue Mode die der Unbekannte eingeführt, müsse das ganze Schneiderhandwerk ruiniren und überdies alle Begriffe von Anstand und guter Sitte über den Haufen werfen.
Während nun der Centaur in seiner heiteren Stimmung eben in dem Hofe des Wirthshauses die schöne Nanni auf seinem Rücken tragend die Umstehenden mit einem höchst graziösen und eigenthümlichen Tanz unterhält, kommen alle die Verschworenen mit berittenen Gensdarmen, um ihn zu fangen. Ohne sie der geringsten Aufmerksamkeit zu würdigen, führt er seinen Tanz fort, und die Hände des Mädchens sanft an seine Brust drückend, setzt er mit einem prachtvollen Sprung über die Köpfe der Bauern weg. Pistolenkugeln knallen um ihn, ohne ihn zu treffen, und bald steht er frei auf dem nächsten Bergabhang. Da lässt er, von dem kläglichen Flehen des Mädchens gerührt, sie sacht zur Erde niedergleiten. „So sehr ihr die ritterliche Huldigung des Fremden geschmeichelt hatte und eine so traurige Figur ihr Schatz neben ihm spielte – eine solide Versorgung konnte sie von diesem reitenden Ausländer nicht erwarten“. Ihre praktische Natur trägt den Sieg davon, und wie eine gejagte Gemse springt sie von Stein zu Stein, ihrem Schneider in die Arme. Ein Ausdruck göttlichen Hohnes gleitet über die Mienen des Centauren hin, man sieht ihn sich entfernen, und bald nachher verschwindet er den nachstarrenden Blicken.
Hier schweigt Genelli, der kleine Kreis bricht auf, und der Dichter erwacht in der Vorstube des Weinhändlers.
Alle Eigenschaften, die das Lesen eines Dichterwerkes zu einem Genusse machen, scheinen mir in diesem Märchen vereint: ein hoher Humor, der einen milden Schimmer über alle Einzelheiten wirft, die zartesten Halbtöne und das feinste Helldunkel das die Handlung vom Lichte des Tages in einen Traum von lauter Verstorbenen hinübergleiten lässt, um dann wieder das Zwielicht der Schattenwelt von einem Sonnenstrahl des alten Hellas erhellen zu lassen. Hierzu kommt eine tiefe, für ihren Dichter ganz eigenthümliche Idee. Denn dieser Scherz ist ja in vollem Ernste ein Hymnus auf die Freiheit in der Kunst wie im Leben, und auf die Freiheit, wie Heyse sie immer aufgefasst hat. Für ihn besteht die Freiheit nicht (wie z. B. für Henrik Ibsen) im Kampfe für die Freiheit, sondern sie ist auf dem religiösen Gebiete der Protest der Natur gegen das Dogma, auf dem gesellschaftlichen und sittlichen Gebiete der Protest der Natur gegen die Convenienz. Durch Natur zur Freiheit! das ist sein Weg und seine Losung. So wird der Centaur als halb Naturwesen, halb Gottheit seiner Phantasie ein theures Sinnbild. Wie schön ist der Centaur in seiner stolzen Kraft durch den Rest altgriechischen Blutes, das er in seinen Adern bewahrt hat! Was muss er nicht Alles ertragen, der Arme, für den Rest Heidenthum, das in ihm wiedererstanden ist, das einige tausend Jahre eingefroren war, aber in unseren Tagen, da die Gletscher zu schmelzen beginnen, aufs Neue erwacht ist und sich an's Tageslicht hinaus wagt! Viel lehrreicher, viel gesetzter und moralischer findet die ganze civilisirte Umgebung seine interessanten Rivalen, die ausgestopften Kälber mit zwei Zungen und fünf durchaus nicht zum Fortschreiten bestimmten, höchst conservativen und ihren Platz conservirenden Beinen. Diese „Merkwürdigkeiten“ übertreten nie eine bürgerliche Sitte, lassen sich nur mit Erlaubniss der Obrigkeit und Geistlichkeit sehen, und sind darum nicht minder ungewöhnlich. Sie werden ewig die Rivalen des Centauren bleiben, von Einigen als ihm ebenbürtig, von Vielen als ihn weit überstrahlend betrachtet.
Und ist der Dichter auf seinem Flügelrosse in dieser kleinlichen modernen Gesellschaft nicht leibhaftig „der letzte Centaur“?
X
Ich habe einige Aeusserungen über Heyse aufgezeichnet, günstige und ungünstige durcheinander, ächte Stimmen aus dem Publikum.
„Heyse“, sagte Einer, „Das ist der Frauenarzt, der deutsche Frauenarzt, der das Goethe'sche Wort:
Es ist ihr ewig Weh und Ach
So tausendfach u. s. w.
gründlich verstanden hat. Dass er kein Dichter für Männer ist, das hat Fürst Bismarck richtig gefühlt“.
„Im Gegentheil“, sagte ein Anderer, „Paul Heyse ist sehr männlich. Man findet ihn weich, weil er anmuthig ist, weil eine vollendete Grazie seinen Schöpfungen ihr Gepräge verliehen hat. Man ahnt nicht, wie viel Kraft erforderlich ist, um diese Anmuth zu haben!“
„Was ist Heyse?“, sagte ein Dritter, „ein Kleinstädter, der so lange mit Berlin, dem Weltleben und der Politik Verstecken gespielt hat, dass er sich unserer Gegenwart entfremdet hat und sich nur unter Troubadouren in der Provence zu Hause fühlt. Ich wittere immer aus seinen Schriften den Provençalen und Provinzialisten heraus“.
„Dieser Heyse“, bemerkte ein Vierter, „hat trotz seiner fünfzig Jahre und seiner dichterischen Reife die Schwäche, uns durchaus überreden zu wollen, dass er ein unmoralischer, lüsterner Poet sei. Aber kein Mensch glaubt es ihm. Das ist seine Strafe“.
„Ich bin in meinem Leben nie so beneidet worden“, sagte in meiner Gegenwart eine alte Jugendfreundin Heyse's, „wie heute, als in einer höheren Töchterschule, die ich besuchte, sich das Gerücht verbreitet hatte, ich würde heute Abend mit ihm in einer Gesellschaft zusammen treffen. Die Backfische haben mir einstimmig aufgetragen, ihm ihre begeisterten Grüsse zu bringen. Wie gerne wären sie ihm sämmtlich um den Hals gefallen! Er ist und bleibt der vergötterte Lieblingsdichter der jungen Mädchen“.
„Man kann“, sagte ein Kritiker, „Paul Heyse als den Mendelssohn-Bartholdy der deutschen Poesie definiren. Er erscheint wie Mendelssohn nach den grossen Meistern. Sein Wesen ist wie dasjenige Mendelssohns ein deutsches lyrisches und sinniges Naturell mit der feinsten, südländischen Bildung durchdrungen. Beiden fehlt der grosse Pathos, die durchgreifende Gewalt, der Sturm des dramatischen Elements; aber beide haben natürliche Würde im Ernst, reizende Liebenswürdigkeit und Anmuth im Scherz, beide sind sie durchgebildet in der Form, Virtuosen in der Ausführung“.
Max Klinger.
(1882.)
I
In der Berliner permanenten Kunstausstellung erregten im Frühling 1878 eine Reihe Federzeichnungen Aufmerksamkeit. Sie waren betitelt: „Phantasien über einen gefundenen Handschuh, der Dame, die ihn verlor, gewidmet“. Ihre