Moderne Geister. Georg Brandes

Moderne Geister - Georg Brandes


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verging – wie gross würde erst die Beschämung gewesen sein, wenn man von der in derselben Stunde gelieferten Schlacht bei Wörth etwas geahnt hätte! Als sich am frühen Morgen die Nachricht von einem grossen gewonnenen Siege verbreitete, bedeckte ganz Paris sich mit Fahnen; alle Leute gingen mit kleinen Flaggen an dem Hut; alle Pferde hatten kleine Flaggen an der Stirn. Ich sass vor einem Café dem Hôtel de Ville gegenüber und betrachtete die mit Hunderten von Fahnen geschmückten Häuser des Platzes, als plötzlich durch das Fenster eines mir nahen Hauses eine Hand sich zeigte, die eine herausgestellte Fahne zurückzog. Ich werde nie diese Hand und diese Bewegung vergessen. So gering der Vorgang war, er machte mich stutzig, denn diese Hand hatte etwas so trauriges, so enttäuschtes in ihrer Bewegung, dass mir augenblicklich der Gedanke kam: Die Siegesnachricht muss falsch sein! … Bald zeigten sich ringsum in den Fenstern Hände, die Fahnen hereinzogen, und in einer Viertelstunde war der ganze Flaggenschmuck wie weggeweht: Wie nackt die Häuser aussahen! Eine Proklamation der Regierung hatte eben erklärt, „dass heute durchaus nichts vom Kriegsschauplatz verlaute und dass die Polizei auf den Spuren der Verbreiter falscher Nachrichten sei, um sie strengstens zu bestrafen“. Die Verbreiter falscher Nachrichten! Als ob nicht die hungernde Phantasie und die schmachtende Sehnsucht der grossen Stadt die einzigen Schuldigen wären!

      Ungefähr eine Woche später, am 12. August, traf ich Renan, der vor der festgesetzten Zeit vom hohen Norden zurückgekommen war. Er fasste meine Hand und drückte sie mit beiden Händen. Ich habe ihn nie so bewegt gesehen. Drauf nahm er meinen Arm und ging eine volle Stunde mit mir Strasse auf Strasse ab. Er war verzweifelt, dies triviale Wort ist das einzig passende. Er war ausser sich vor Erbitterung. „Nie“, sagte er, „wurde ein unglückliches Volk so wie das unsrige von Dummköpfen regiert. Man sollte glauben, dass der Kaiser einen Anfall von Wahnsinn gehabt hätte. Aber er ist von den verächtlichsten Schmeichlern umringt; ich kenne hohe Offiziere, die es sehr wohl wussten, dass die preussischen Kanonen unsere gepriesenen Mitrailleusen übertreffen, die es aber dem Kaiser zu sagen nicht wagten, weil er sich mit diesen Sachen selbst beschäftigt, ein bischen an den Entwürfen gezeichnet hat, was in der offiziellen Sprache so ausgedrückt wird, dass er der Erfinder des Geschützes ist. Nie war so wenig Kopf (si peu de tête) in einem Ministerium des Kaisers; er hat es selbst eingesehen; ich kenne Jemand, dem er es gesagt hat, und dann führt er Krieg mit solch einem Ministerium. Hat man jemals solche Tollheit gesehen, ist es nicht herzzerreissend? Wir sind ein Volk, das für lange Zeiten aus dem Sattel geworfen ist. Und nun zu denken, dass alles, was wir Männer der Wissenschaft in fünfzig Jahren aufzubauen bestrebt waren, mit einem Schlage zusammengestürzt ist, die Sympathien zwischen Volk und Volk, das gegenseitige Verständniss, das fruchtbare Zusammenarbeiten. Wie tödtet ein solcher Krieg die Wahrheitsliebe! Welche Lüge, welche Verläumdung des einen Volkes wird nun nicht auf's neue in den nächsten fünfzig Jahren mit Begierde von dem andern geglaubt werden und sie für unüberschauliche Zeiten von einander trennen! Welche Verzögerung des europäischen Fortschritts! In hundert Jahren werden wir nicht wieder aufführen können, was diese Menschen an einem Tage heruntergerissen haben“. Mehr als irgend einen andern musste die Spaltung der beiden grossen Nachbarn Renan schmerzen, der in Frankreich so lange als Vertreter der deutschen Bildung gestanden hatte. Niemand konnte sich auch mit grösserer Dankbarkeit über die deutsche Kultur aussprechen als Renan. Einer seiner Lieblingswendungen war: „Es gibt nichts, das so viel bergen kann, wie ein deutscher Kopf“. Er stellte in Abrede, dass die Deutschen als Volk von irgend einer Rechtsidee beseelt seien, er schien sie persönlich wenig zu mögen, aber von ihrer hohen Intelligenz sprach er immer mit Achtung. Nur schrieb er den Süddeutschen in jeder anderen Richtung als der administrativen, eine weit höhere Begabung als den Norddeutschen zu, eine Auffassung, die von der Mehrheit der gebildeten Franzosen getheilt wird. Das Verhältniss erscheint ihnen analog dem, welches zwischen den Piemontesen und den übrigen Italienern besteht.

      Bekanntlich hat man des öfteren behauptet, Renan hätte alles den Deutschen, vornehmlich Strauss zu verdanken. Wer mit dem letzteren nur einigermassen vertraut ist, wird die Unrichtigkeit dieser Behauptung erkennen. Ist doch er es vielmehr, der in seiner späteren Zeit sich in Bezug auf Form und Charakter der Darstellung stark von Renan beeinflussen liess. Die zweite Auflage von Strauss „Leben Jesu“ hat offenbar an dem entsprechenden Werke Renans ihr Vorbild.

      Renan erzählte von seiner Reise. „Wir waren in Bergen, als die erste zweideutige Nachricht über den drohenden Krieg uns von Frankreich zukam. Keiner von uns wollte die Sache für möglich halten. Der Prinz und ich sahen einander an. Er, der einen so seltenen und scharfen Verstand hat, sagte nur: „Das können sie nicht!“ und gab Befehl, dass wir weiter reisen sollten. Wir segelten nach Tromsöe. Als wir dahin kamen, lagen da zwei Depeschen an den Prinzen, eine von seinem Sekretär in Paris und eine andere von Emile Ollivier mit diesen Worten: Guerre inévitable! Wir hielten einen kurzen Rath, aber so unsinnig kam uns die Sache vor, nachdem Leopold von Hohenzollern seine Kandidatur zurückgezogen hatte, so unmöglich schien uns dieser Vorwand, der ganz Europa und besonders ganz Deutschland gegen uns aufhetzen musste, und endlich – so grosse Lust hatten wir, nach Spitzbergen zu segeln und ‚das grosse Eis‘ zu sehen, dass wir uns entschlossen, am nächsten Morgen aufzubrechen. Wir gingen zu Bett. Mein Zimmer lag neben dem des Adjutanten des Prinzen. Am frühen Morgen höre ich den Kammerdiener mit einer Depesche den Adjutanten wecken. Ich stand auf, wir gingen an Bord, das Schiff setzte sich in Bewegung, und Sie können sich mein Erstaunen denken, als ich sah, dass es gegen Süden ging. Der Prinz sass verzweifelt und stierte vor sich hin. Die ersten Worte, die er sagte, waren: ‚Voilá leur dernière folie, ils n'en feront pas d'autres‘. Er ist Prophet gewesen, es wird ihre letzte Tollheit sein. „Ich selbst“, fügte Renan hinzu, „war derselben Ansicht. Ich wusste, wie schlecht wir vorbereitet waren, aber dass es so schnell gehen würde, wer hätte das geahnt! Sagen Sie nicht, dass wir noch siegen können. Wir werden nie mehr siegen, wir haben nie unter diesem Kaiser auf entschiedene Weise Völkerschaften besiegt, deren Ueberwindung als eine glückliche Vorbedeutung gelten kann, wenn von Preussen die Rede ist. Die Araber sind die schlechtesten Taktiker der Erde“. Mehr als ein Mal brach er aus: „Hat man jemals so etwas gehört! Armer Prinz! Armes Frankreich!“ Er war so heftig, dass er sich in Flüchen über alle die leitenden Männer erschöpfte, die nach seiner diesmal sehr wenig nuancirten Auffassung alle zusammen Schwachköpfe oder Schufte seien: „Was ist dieser Palikao? ein Dieb, ein erklärter Dieb, dem alle guten Häuser verschlossen sind, und weiss nicht alle Welt von Jérôme David, dass er ein Verbrecher, ein Mörder ist, der nur durch Flucht in's Ausland sich einer Strafe wegen Todschlags entzogen hat! Und in den Händen solcher Menschen liegt unser Schicksal!“

      Ich sah Thränen in seinen Augen und sagte ihm Lebewohl. Ich habe ihn seit dem Tage nicht wiedergesehen. Er gewann schnell seine Ruhe und seine Herrschaft über den Schmerz zurück. Aber in jenen Augenblicken war Renan ein anderer, als da er schrieb: „Der Gelehrte ist Zuschauer im Weltall. Er weiss, dass die Welt ihm nur als Studiengegenstand gehört, und selbst wenn er sie bessern könnte, würde er sie vielleicht so anziehend finden, wie sie ist, dass er die Lust dazu verlöre“. Vollständig ernst hat Renan wohl nie diese kühlen und theilnahmlosen Worte gemeint; wenn aber doch, so durchlebte er im Jahre 1870 Gemüthsbewegungen, während derer sie für ihn keinen Sinn mehr hatten.

      In einem alten Buche „Die französische Aesthetik unserer Tage“ habe ich zu schildern versucht, welchen demoralisirenden Einfluss während des zweiten Kaiserthums das Leben unter der Herrschaft und dem Druck des fait accompli auf die französischen Gelehrten ausübte. Eine Neigung zum Quietismus und Fatalismus, zum Gutheissen alles einmal Vollbrachten kennzeichnet unter Napoleon III. die französische Geisteswissenschaft überhaupt. Spuren dieses Einflusses merkte man überall im geselligen Leben, in den Gesprächen. Die völlige Freiheit von Enthusiasmus war mit Bildung und Reife fast synonym geworden. Ein junger Fremder hatte täglich Gelegenheit, über die Zurückhaltung und die Passivität selbst der Besten sich zu wundern, sobald die Rede auf irgend ein praktisches Ziel kam, und ich erinnere mich, dass ich eines Abends im Mai 1870, missmuthig nach Hause gekommen, in mein Notizbuch schrieb: „Es gab einmal ein anderes Frankreich“. Es hatte doch einmal ein waches, begeistertes, poetisches, für die ganze Menschheit fühlendes Frankreich gegeben. Es scheint, dass ein solches Frankreich nach und nach wieder aus der Erniedrigung hervorgehen wird, die, wenn sie auch nichts anderes gutes mit sich führte, wenigstens allen edel strebenden Geistern aufs neue die Richtung nach der Wirklichkeit hin gegeben


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