Das Wirken der Seele: Ideen zu einer organischen Psychologie. Eisler Rudolf
mechanisierte Seele, diese die lebendige, aktive „Form“, die „Entelechie“ des Leibes, in dem sie sich objektiviert und stabilisiert. Jedes psychische Geschehen ist also insofern zugleich physisch, als es in einer physischen Erscheinung zum „Ausdruck“ kommt und es hat Physisches zur Folge, insofern es der innere Grund einer Veränderung in den physischen Phänomenen, die den Organismus betreffen, ist. Direkte, phänomenale, exakt-meßbare, naturwissenschaftliche Ursache einer organisch-physischen Veränderung ist stets wieder ein physischer Vorgang im Organismus als Reaktion auf einen äußeren Reiz. Indem dieser den Organismus erregt, bedeutet diese „Erregung“ zweierlei: vom Standpunkt der äußeren Erfahrung eine Auslösung physischer Energie, vom Standpunkt der inneren Erfahrung ein inneres „Verspüren“ und einen „Antrieb“ zur Tätigkeit. Die äußere Handlung, die daraus resultieren kann, ist der objektive Ausdruck der inneren, psychischen Aktion oder Reaktion, die an sich nichts Physisches, Materielles bewirken kann. Es muß dies wiederholt betont werden, damit die zuweilen schwer zu vermeidende laxere Ausdrucksweise eines Bewirktwerdens physischer Vorgänge durch psychische nicht mißverstanden, nicht im metaphysisch-ontologischen Sinne genommen und dann etwa gar der Vorwurf des Selbstwiderspruches erhoben wird. —
Wir sind nun so weit, daß wir auch der Einseitigkeit der extremen Aktualitätstheorie begegnen können. Wenn diese die Seele (das Ich) für ein bloßes „Bündel“ von Vorstellungen, für einen bloßen „Komplex“ von elementaren Zuständen und Vorgängen, für ein bloßes „Summationsphänomen“ erklärt (Hume, Mill, Mach u. a.), so besteht die Einseitigkeit hier darin, daß nur auf die Vielheit und Mannigfaltigkeit der seelischen Teilinhalte geachtet wird. Wenn wir nämlich auf diese Vielheit achten, d. h. Teile apperzeptiv aus dem Zusammenhang des Erlebens herausheben, dann entgeht uns leicht der Einheitscharakter des Erlebens, oder wir werden wenigstens geneigt, ihn zu unterschätzen. Wir verfallen dann geradeso in Einseitigkeit wie die Dualisten, welche die Einheit des Ich hypostasieren, vom Erleben abtrennen und zu einer vom Leibe gesonderten Seelensubstanz machen. Die Einheit des Erlebens ist also weder Schein noch ein selbständiges Wesen, sie ist weder ein bloßes Summationsphänomen, noch eine transzendente Wesenheit, sondern sie ist so real wie das Bewußtsein überhaupt es ist, sie ist eine im Bewußtsein, in der Fülle der Erlebnisse sich entfaltende und erhaltende Einheit, eine aktive Einheitsfunktion, kurz das, was wir ein „Subjekt“ nennen. Das Subjekt hat mit der Substanz die Konstanz und Identität gemein, ohne die Starrheit jener zu teilen, ohne einen dinghaften Charakter zu besitzen. Das Subjekt ist kein einzelner Bewußtseinsinhalt, sondern die aktive Form und das lebendig Formende des Bewußtseins, es besteht nicht neben der Mannigfaltigkeit der Erlebnisse, sondern in ihnen, in ihrem inneren Zusammenhange, der mehr als eine Summe oder ein Aggregat ist. Und die Erlebnisse, die Bewußtseinszustände, sind nicht vor und ohne das Subjekt da, sondern immer schon Abhängige, Aktionen und Reaktionen eines wenn auch noch so primitiven Subjektmoments, eines „primären Ichs“ (Jodl), um das als Zentrum, als Ausgangs- und Quellpunkt sie sich gruppieren. Die Seele ist also das in der Mannigfaltigkeit der Bewußtseins-Erlebnisse sich identisch setzende, erhaltende und entwickelnde Subjekt, eine gegliederte, organisierte Einheit in der Vielheit, ein aktiv-reaktives Einheitsprinzip – nicht transzendenter, wohl aber, als Bedingung alles Erlebens, „transzendentaler“ Art (im Kantischen Sinne). Die Seele ist also dem Bewußtsein immanent, sie ist das aktive und reagierende Bewußtsein selbst, das sich inhaltlich stets nur in einem Zusammenhang von Erlebnissen („empirisches Ich“) findet, stets aber über jeden Bestandteil, jedes Moment dieses Zusammenhanges hinausragt als ein formales, synthetisches Prinzip, nicht als ein Wesen mit unbekannten Eigenschaften12. Das Wesen der Seele ergibt sich vielmehr aus den Grundtätigkeiten, in denen sie ihre Natur bekundet. Diese Grundtätigkeiten sind es, worauf die Mannigfaltigkeit psychischer Prozesse zurückführt, und aus den Gesetzen jener, aus der konstanten Wirkungsweise, Funktion derselben sind die typischen Zusammenhänge, Verbindungen und Gebilde des Bewußtseins wenigstens formal zu erklären. Man muß also von der Oberfläche der Bewußtseinsvorgänge auf das innerste Getriebe derselben zurückgehen, wobei man teilweise zu relativ „Unbewußtem“, d. h. Ungewußtem gelangt, nicht aber zu einem absolut und wahrhaft Unbewußtem, prinzipiell Nicht-Erlebbaren. Eine absolut „subjektlose“ Psychologie, die alles aus der bloßen Verbindung absolut selbständiger Elemente erklären will, spottet ihrer selbst und weiß nicht wie. Sie führt zur Verdinglichung jener „Elemente“, die nur als Glieder eines einheitlichen Zusammenhanges Existenz und Wirksamkeit haben, aus denen also das „Subjektmoment“ nie herauszudestillieren ist. Einheit und Vielheit, Subjekt und Inhalt des Bewußtseins sind untrennbare, schon ursprünglich, wenn auch noch undifferenziert bestehende Seiten des Erlebens, des Bewußtseins, die auseinander nicht oder nur scheinbar abzuleiten sind. Schon im primitivsten Seelenleben muß eine „Subjektivität“, wenn auch noch ohne Abhebung von einer Objektenwelt, bestehen, welche in ihren Erlebnissen sich findet, sich bejaht, sich setzt und erhält, als einfache „Trieb-Seele“ mit wenig veränderlichem Inhalt, meist mit äußerst geringen Entwicklungsmöglichkeiten. Aus solchen primitiven „Seelen“ haben sich, durch das Zusammenwirken innerer und äußerer Faktoren, nicht zum wenigsten aber durch aktive Anpassung, die hochorganisierten Seelen der Menschen gebildet, als Subjekte höherer Ordnung, aber wesensverwandt mit den der untermenschlichen Seelen.
II. Die psychische Kausalität
Wir hörten bisher, daß die Seele nicht im metaphysischen Sinne auf den Leib (als Materie oder Energiekomplex) einwirkt, sondern daß sie in Wahrheit, genau gesprochen, stets nur auf sich selbst wirkt und von sich selbst Wirkungen empfängt, so aber, daß alle Wirkungen körperlich irgendwie zum Ausdruck kommen, wobei eine Wechselwirkung zwischen dem Nervensystem (und dessen Funktionen) und dem übrigen Organismus besteht. Jedes psychische Geschehen hat sein physiologisches Gegenstück, seine physische „Seite“. Infolge des Zurückwirkens der seelischen Organisation auf sich selbst, das seinen physiologischen Ausdruck hat, ist es verständlich, warum an den Veränderungen, an der Entwicklung des Organismus psychische Faktoren beteiligt sind, ohne daß sie den physischen Zusammenhang durchbrechen, also ohne daß irgend einmal an Stelle physikalisch-chemischer Ursachen von leiblichen Prozessen rein psychische Ursachen treten.
Gibt es aber überhaupt eine psychische Kausalität, wird man fragen, oder haben am Ende jene recht, welche das Psychische als „inkausal“, als ohne wirksame Eigenschaft bestimmen und behaupten, nur das Physische bzw. Physiologische könne wirken bzw. als wirkend gedacht werden? Die Vertreter des „psychophysischen Materialismus“ sind der Meinung, das Psychische, das Bewußtsein – wenigstens soweit es objektiviert, aus dem unmittelbaren, konkreten Erleben methodisch herausgehoben werde (Münsterberg13) – sei ein „Epiphänomen“, eine schattenhafte „Begleiterscheinung“, ein „Nebenerfolg“ der Nervenprozesse, es habe keine Aktivität und Kraft, keinen ureigenen, inneren Zusammenhang, keine Eigenkausalität, sondern es bestehe aus Verbindungen, deren Ursache oder Grundlage einzig und allein der raum-zeitliche Zusammenhang der Gehirnprozesse sei. Es gibt hiernach keine wahre psychische Tätigkeit, was wir so nennen ist nichts als die Summe von „Spannungsempfindungen“ u. dgl. Empfindungen und Vorstellungen verbinden sich dann miteinander, wenn auch die entsprechenden Gehirnprozesse sich miteinander verbinden, und alle Veränderungen und Störungen im Ablauf des Bewußtseins sind nur Spiegelungen zerebraler Modifikationen.
Eine solche Auffassung ist aber unhaltbar. So wenig ein einzelner physischer Vorgang einen psychischen bewirken oder auf ihn einwirken kann, ebensowenig kann eine Verbindung physischer Vorgänge eine psychische Verbindung bewirken. Und ebensowenig als ein Bewußtseinsvorgang die bloße „Erscheinung“ eines physischen Geschehens sein kann, ist es denkbar, daß der Zusammenhang eines seelischen Geschehens nur der Widerschein eines physischen Kausalnexus ist. Alles was gegen diese Art Abhängigkeit des Psychischen vom Physischen spricht, spricht auch gegen diesen Spezialfall, vor allem der Umstand, daß das Seelische nicht bloße Erscheinung eines Geschehens sein kann, das des Seelischen ganz ermangelt, dem also die Bedingung des Sich-erscheinen-könnens durchaus abgeht. Auch läßt sich der psychische Zusammenhang nicht aus der bloßen Verbindung der Nervenprozesse erklären, ableiten. Ich mag noch so eifrig und genau in das Getriebe der Hirnprozesse hineinschauen können, so werde ich, wenn ich nicht die schon damit verknüpften Bewußtseinsvorgänge erlebt habe und kenne, diese und deren Beschaffenheit nicht zu erkennen vermögen;
12
Über den Begriff der Seele vgl. Fechner, Über die Seelenfrage, S. 9, 210ff.; Zend-Avesta I, S. XIX; II, 148; Wundt, Logik II 2, 2, S. 245ff.; Grundriß der Psychol. 5, S. 386; Grundzüge der physiol. Psychol. II 4, 633ff.; System d. Philos. 2, S. 372ff., 606; Jodl, Lehrbuch d. Psychol. S. 31; Paulsen, Einleitung in die Philos. 2, S. 136, Höffding, Psychol. 2, S. 16ff.; Ebbinghaus, Grundzüge der Psychologie I, 17f.; Fouillée, Der Evolutionismus der Kraft-Ideen; P. Carus, Soul of Man, S. 419, u. a. Die Seele als Subjekt-Einheit; Sigwart, Logik II 2, 207f.; A. Vannérus, Archiv f. systemat. Philos. I, 1895, S. 363ff. Die Seele als Substanz: L. Busse, Geist und Körper, S. 324ff. Vgl. W. James, Princ. of Psychol. I, 160ff., 342ff., u. a.
13
Nach Münsterberg ist das Psychische als der Gegenstand der Psychologie nichts Reales, sondern ein Abstraktionsprodukt, das Produkt einer Objektivierung, während die Geisteswissenschaften es mit dem konkreten, stellungnehmenden, zwecksetzenden Subjekt und dessen Akten zu tun haben, also „subjektivierend“ verfahren (Grundzüge der Psychol. I, 57f., 62, 202). „Die Einheit des geistigen Lebens ist gar nicht ein Zusammenhang psychologischer Objekte, sondern ein Zusammenhang von Tatsachen, aus denen psychologische Objekte abgeleitet werden können“ (a. a. O. S. 382; vgl. Psychology and Life 1899). Vgl. dagegen Höffding, Philos. Probleme, S. 13; G. Villa, Monist, 1902; Eisler, Zeitschrift für Philosophie und philos. Kritik, Bd. 122, S 80ff.; J. Cohn, Vierteljahrsschr. für wissensch. Philos. Bd. 26.