Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild. Gustav von Bodelschwingh
delschwingh
Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild
Vorbemerkung
Während der sommerlichen Ferienzeiten, die wir Geschwister vom Jahre 1883 ab mit unseren Eltern an irgend einem stillen Erholungsort zubrachten, pflegte uns unser Vater Erinnerungen aus seinem Leben zu diktieren. Sie umfassen die ersten vierzig Jahre seines Lebens und reichen bis zu seinem Eintritt in die Arbeit in Bethel. Für die Darstellung der Zeit von 1831–1872 boten mir diese Erinnerungen, die der Raumersparnis wegen nicht ganz gebracht werden konnten, wesentlichen Anhalt. Sie erschienen vollständig in der Monatsschrift „Beth-El”, Jahrgang 1909, 1912–14 und 1918/19. (Verlag des Pfennigvereins der Anstalt Bethel bei Bielefeld.) Da, wo diese Erinnerungen im Text wörtlich angeführt sind, sind sie durch Anführungsstriche gekennzeichnet.
I
1831–1872
Voreltern und Eltern
Die Heimat der Familie v. Bodelschwingh liegt zwischen Ruhr und Lippe im Herzen des westfälischen Industriebezirks, wo heute die rauchenden Schornsteine den Tag dunkel machen und die grellen Feuergarben der Hochöfen die Nacht erhellen. Wer jetzt mit dem eilenden Zuge jenes Gebiet durchreist, der ahnt kaum, daß mitten in dieser lärmenden, flammenden Welt noch manche stille Zeugen der alten Zeit stehen. Zu diesen Zeugen gehört auch die ehrwürdige Wasserburg, die zwei Stunden westlich von Dortmund am Ausgange einer kurzen, engen Waldschlucht sich aus breitem Wassergraben erhebt. Das ist Haus Bodelschwingh, dessen Name um die Wende des 12. und 13. Jahrhunderts zum erstenmal in alten Urkunden auftaucht.
Eine märkische Familie Speeke, die hier wohnte, nimmt um diese Zeit nach ihrem Wohnsitz den Namen Bolschwich, später Bolschwingh und Bodelschwingh an. Unter der alten Fehmlinde zu Dortmund, die erst vor wenigen Jahren dem Bau des neuen Bahnhofes weichen mußte, sollen Herren aus dem Hause Bodelschwingh forterbend das Gericht der heiligen Fehme geübt haben. Aber gewiß ist das nicht. Die spärlichen Urkunden melden nur, daß ein Sohn des Hauses Bodelschwingh im Dienst des deutschen Ordens ostwärts zog, um sich und seinen Nachkommen im Baltenlande eine neue Heimat zu gewinnen. Ein anderer fiel im Kampf gegen die Türken und liegt in Ungarn begraben. Im Dom zu Mainz findet sich das Grabmal eines Wennemar v. Bodelschwingh mit der Jahreszahl 1543, der nach den alten Berichten des Domkapitels seinem fürstlichen Bischof ein treuer Ratgeber gewesen sein muß, und um die gleiche Zeit meldet das Kirchenbuch der Stadt Elberfeld, daß Friederike v. Bodelschwingh um ihres evangelischen Bekenntnisses willen mancherlei Ungemach zu leiden hatte.
Ein Sohn aus dem Hause Bodelschwingh heiratete im Jahre 1633 Felicitas v. Oeynhausen, die wegen ihrer Herzensgüte bei arm und reich hochgeschätzte Erbin des zwischen Dortmund und Hamm gelegenen Gutes Velmede. Aus diesem Hause Bodelschwingh-Velmede stammt Ernst v. Bodelschwingh, der Vater des späteren Pastor Friedrich v. Bodelschwingh.
Ernst v. Bodelschwingh, geb. 1795, hatte nach seiner Schulzeit die nassauische Forstakademie in Dillenburg besucht und war dann im Herbst 1812 zum Studium der Rechtswissenschaften nach Berlin gegangen. Hier traf ihn im Frühjahr 1813 der Aufruf des Königs Friedrich Wilhelm III. „An mein Volk”. Wenn er sich zu den preußischen Fahnen meldete, so war damit der elterliche Besitz in dem damals unter französischer Herrschaft stehenden Westfalen bedroht, und ein Freund warnte ihn, daß er sich nicht leichtsinnig um sein Erbe bringe. „Aber”, rief Bodelschwingh aus, „was ist eine Handvoll Erde gegen mein Vaterland!” und eilte, kaum siebzehn Jahre alt, nach Breslau. Um aber Eltern und Besitz möglichst zu schützen, ließ er sich unter falschem Namen in die Liste der freiwilligen Jäger eintragen.
Er kämpfte in den Schlachten von Groß-Görschen, Bautzen und an der Katzbach und war bei Leipzig in dem besonders blutigen Ringen des Yorckschen Korps um das Dorf Möckern. Bei der Verfolgung der zurückflutenden französischen Armee kam es hinter Freiburg auf den Höhen über dem Unstruttale zum Gefecht, und hier erhielt der junge Jägerleutnant, hart über dem Herzen, einen Schuß durch die Lunge. Er hatte am Tage dem bedrängten Stadtschreiber des Städtchens Lauchstädt beim Ausschreiben der Quartierzettel geholfen, und dieser kleine Dienst rettete ihm das Leben. Denn als der Transport der Verwundeten Lauchstädt passierte, holten der Stadtschreiber und seine Frau den todesmatten jungen Leutnant, der den Transport bis Halle an der Saale nicht überstanden haben würde, in ihr Haus. Das Bett war zu kurz für den fast sechs Fuß langen Kranken. So bekam er sein Strohlager an der Erde, und sein treuer Bursche Schneeberg – wie oft hat das später der Sohn des Verwundeten den Pflegern und Pflegerinnen seiner Kranken erzählt! – bettete sich zu den Füßen seines Herrn und sagte: „Herr Leutnant, wenn Sie etwas wünschen, dann treten Sie nur.” Denn zum Sprechen war der Kranke zunächst zu schwach.
Die Wunde des jungen Leutnants schloß sich nur langsam, und die alte Frische wollte nicht wiederkehren. Die Eltern, die nach langem, bangem Warten endlich die Nachricht des Stadtschreibers erhielten, machten sich auf den Weg, um ihren Sohn zu holen. Im Angesichte der Stadt eilte die Mutter dem Wagen voraus und trat unverhofft in die Stube, wo ihr blasser Sohn in die Kissen gelehnt auf dem Stuhle saß. Die übergroße Freude ließ das Blut des Kranken aufwallen, sodaß sich die Wunde aufs neue öffnete. Aber gerade das war der Anfang der Genesung. Denn aus einem verborgenen Eiterherd kamen Reste der Uniform zum Vorschein, die bisher die Heilung gehindert hatten.
Freilich blieben die Kräfte noch lange geschwächt. Als 1815 der Krieg mit Napoleon abermals ausbrach, verweigerten darum die Eltern ihrem Sohn, sich bei der Truppe zu stellen. Da machte er sich zu Fuß von Göttingen, wo er studierte, querfeldein auf den Weg nach Velmede, seiner Heimat. „Mutter, ich kann wieder marschieren,” so trat er ins Zimmer und erkämpfte sich die Erlaubnis der Eltern.
An dem Tage, wo er von Unna aus zur Armee aufbrach, erlitt dicht vor Unna das Gefährt zweier junger Mädchen, der beiden Schwestern von Diest, die denselben Weg zum Rhein reisen wollten, einen Unfall. Die Pferde hatten gescheut, der Kutscher war schwer verwundet, und so blieb den beiden nichts anderes übrig, als zur Weiterreise den Postwagen zu nehmen. Das war derselbe Weg und derselbe Wagen, den auch der junge Leutnant v. Bodelschwingh benutzen mußte, um die Truppe zu erreichen. So lernte Ernst v. Bodelschwingh in einer der beiden Schwestern seine spätere Lebensgefährtin, Charlotte v. Diest, kennen, und durch diesen Unglücksfall wurde der Grund gelegt zu einer Ehe, durch die ein Strom von Glück über ungezählte Unglückliche kommen sollte.
So spärlich die Nachrichten über die Bodelschwinghs fließen, so reich sind sie andrerseits über die Familie v. Diest. Über Ort und Gau der im Jahre 838 zum ersten Male erwähnten deutsch-niederländischen Stadt Diest erwarb Otto v. Diest im Jahre 1090 das Herrschaftsrecht und wurde zum Stammvater eines Hauses, dem die Herzöge von Brabant und Flandern und manche andere alte und berühmte niederländische Geschlechter ihre Töchter zu Frauen und ihre höchsten Ämter zur Verwaltung gaben. In Münster, Lübeck, Utrecht und Straßburg finden wir Bischöfe v. Diest; und Arnicus v. Diest, der in seiner Einsiedelei als „ein Freund Gottes”, aber auch als Freund der Tiere, Kinder und Kranken lebte, wurde um das Jahr 1200 heilig gesprochen.
Früh bekannte sich die Familie zum evangelischen Glauben. Johann v. Diest, Prediger zu Antwerpen, wurde 1571 von seinem Krankenbett zum Scheiterhaufen geführt, und sein Sohn wurde auf dem Heimwege von der Synode in Dordrecht 1583 aufgegriffen und in einem Sacke ertränkt. Schließlich konnten sich die Evangelischen der belgischen Niederlande nur noch durch die Flucht ihren Verfolgern entziehen; und so finden wir von jetzt ab die Familie v. Diest im kurbrandenburgischen Staatsdienst oder, wie einst auf den Bischofsstühlen, so jetzt auf evangelischen Kanzeln und Lehrstühlen der rheinischen Städte. Samuel v. Diest, Professor der Theologie und Philosophie an der Universität Duisburg, trat als ein entschlossener Kämpfer für den Frieden der in bitterem Streit liegenden Lutheraner und Reformierten hervor, „um gegenseitige Duldung und brüderliche Gesinnung herbeizuführen, welche vor allem auch bis zur Gemeinschaft des Wortes und Sakramentes gehen müßte”. Und doch blieb solche edle Weitherzigkeit bei den Diests frei von feigem Nachgeben. Denn als der preußische Resident v. Diest in Cöln im Jahre 1714 von den dortigen Studenten durch Gewalt an der Abhaltung evangelischer Versammlungen in seinem Hause verhindert werden sollte, wandte er sich an König Friedrich Wilhelm I., der mit zähem Nachdruck sich hinter seinen Residenten stellte und Kur-Cöln zum Nachgeben zwang.
Eins der wenigen übriggebliebenen Glieder dieses alten Geschlechts war der Tribunals-Präsident Heinrich v. Diest, der erst in Cleve, dann in Burgsteinfurt gelebt hatte. Er und seine Frau aber waren vor