Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild. Gustav von Bodelschwingh
besonders schön war unser Garten, der in zwei Terrassen zur alten, dicken Stadtmauer hinunterführte. In dieser Mauer legten wir unsere Räuberhöhlen an und bargen unsere selbstgeschnitzten Waffen darin: Säbel, Pistolen, Streitäxte, Bogen und Pfeile. In der Mitte des Gartens lief eine Allee von Linden, in deren prachtvoll verschlungenen Kronen wir Kinder manche Stunde zubrachten. Von allen Obstbäumen bleibt der große Birnbaum oben rechts in der Ecke des Gartens besonders unvergeßlich. Er trug so treu jedes Jahr mehrere Waschkörbe voll Birnen, daß der Tag, an dem wir ihn abernteten, jedesmal ein Familienfest war. Hinter dem Birnbaum war ein Himbeerbeet, das beliebteste Versteck, wenn wir Anschlag spielten. Unten im Garten aber hing an vier Balken eine lange Schaukel, auf der wir Kinder alle zugleich Platz hatten. Oben links in der Ecke stand eine Geißblattlaube, wo so manches Mal unser Vesperbrot verzehrt wurde, und an der Mauer waren die prachtvollsten weißen und blauen Weintrauben. Das alles genossen wir nicht allein, sondern mit treuen Spielgefährten zusammen, die sich täglich bei uns einstellten.
Besonders reich wurde unser Leben, als der Vater noch einen Garten am Rhein hinzukaufte, dem Dörfchen Pfaffendorf gegenüber. Diesen Garten, der unser eigentlicher Gemüse- und Obstgarten war, halfen wir Kinder bepflanzen und bestellen. Wir konnten alle klettern wie die Katzen. Darum war es uns auch ein Kleines, über den hohen Gartenzaun zu kommen. Als das aber der Vater erfuhr, verbot er es uns, damit wir es andern Kindern nicht vormachten. Wir sollten fortan immer den Schlüssel mitnehmen und nur durch die ordentliche Tür aus- und eingehen.
Nun hatten mich einmal die Geschwister, als sie kurz vor Mittag nach Hause gingen, aus Versehen in dem Garten eingeschlossen in der Meinung, ich sei schon voraus, während ich ganz vertieft hoch in den Zweigen eines Kirschbaums saß. Plötzlich merkte ich, daß alles still um mich her war. Ich stieg vom Kirschbaum und stand alsbald vor der verschlossenen Tür. Es wäre mir ja ein kleines gewesen, über den Gartenzaun hinüberzuklettern, wie ich dies schon oft getan hatte. „Aber der Vater hat es ja verboten”, so hieß es in meinem Herzen. Da mein Rufen nichts half, legte ich mich schluchzend auf die Bank in der Gartenlaube, die ganz von Gebüschen eingeschlossen war. Eine Nachtigall, die dort in dem Busch ihr Quartier hatte, kam ganz zutraulich auf den Tisch geflogen, der vor der Bank stand, auf der ich endlich über meinen Tränen einschlief.
Inzwischen war zu Hause große Unruhe gewesen. Die Geschwister hatten gesagt, ich müsse gewiß schon vor ihnen aus dem Garten gegangen sein. Und wenn sie mich doch vielleicht eingeschlossen hätten, so wüßte ich ja, daß ich zu Mittag zu Hause sein müßte, und wäre gewiß über den Zaun gesprungen. So hatte man mich denn überall gesucht, nur da nicht, wo ich zu finden war. Da, mit einemmal, hörte ich mich beim Namen rufen. Der Vater stand vor mir und sagte: „Mein Sohn, wie konntest du uns das antun?” Ich antwortete, aufs neue in Tränen ausbrechend: „Vater, du hast es uns doch verboten, über die Mauer zu klettern.”
Sehr lebhaft stehen mir noch die schweren Erkrankungen meines Vaters in Erinnerung. Zweimal lag er in Koblenz an seiner durchschossenen Lunge todkrank, beide Male an Lungenentzündung. Das eine Mal kam es so weit, daß die Ärzte ihn aufgegeben hatten. Es war spät am Abend, da holte uns die Mutter alle herein in das vermeintliche Sterbezimmer. Wir Kleinen nahmen mit heißen Tränen vom lieben Vater Abschied, der noch in der Nacht das heilige Abendmahl empfing. Nachdem die Mutter uns zu Bett gebracht hatte, suchte sie, wie sie mir später erzählte, eine verborgene Stelle auf, legte sich dort auf ihr Angesicht und bat Gott um ein ganz gehorsames Herz, mit dem sie sagen könne: „Herr, dein Wille geschehe!” So hielt sie lange an mit Beten und Rufen, bis es endlich ganz still in ihr wurde und sie ihr Jawort geben konnte zu dem Opfer, das sie bringen sollte. Kaum aber hatte sie in ihrem Herzen das Opfer vollbracht, da war es ihr, als bekäme sie einen freundlichen Zuspruch: „Nun sollst du ihn noch einmal behalten.” Und siehe da, wie sie von leiser Hoffnung getragen in das Krankenzimmer zurückkehrt, da merkt sie, daß der eigentümliche Schweiß eingetreten ist, der eine Wendung zur Genesung ankündigt. Noch ganz deutlich habe ich das glückliche Angesicht der Mutter vor Augen, wie sie sich morgens über unser Bett neigte und uns Kleinen mit der Freudenbotschaft begrüßte: „Liebe Kinder, der Vater wird wieder besser.”
War es bei dieser Krankheit oder bei der vorhergehenden, das weiß ich nicht mehr gewiß, aber das weiß ich, daß ich oftmals auf dem Bette des Vaters saß, als er in der Genesung begriffen war, und daß er ein kleines Buch in der Hand hatte, aus dem er mir den ersten Leseunterricht gab. Auch meine älteren Geschwister hatten alle aus demselben kleinen Buch lesen gelernt. Es enthielt zugleich den ersten Religionsunterricht in kurzen Sätzen mit lauter einsilbigen Wörtern und fing an: ‚Mein Kind, Gott ist sehr gut, er hat dich sehr lieb.’”
Treue Hauslehrer – einer von ihnen kam, von Zeller empfohlen, aus der Anstalt Beuggen am Rhein – setzten den Unterricht bei dem kleinen Friedrich und seinen Geschwistern fort. Sie waren auch die Begleiter der heranwachsenden Kinder bei den schönen Wanderungen den Rhein aufwärts bis ins Nahetal oder den Rhein abwärts in die westfälische Heimat zu der zwar gefürchteten, aber doch zugleich innig geliebten Großmutter. Vorübergehend wurde auch die Bürgerschule von Koblenz besucht und auf dem Heimweg zwischen der in ein katholisches und ein evangelisches Lager geteilten Schuljugend manch heißer Strauß ausgefochten.
Vornehme Gäste kamen ins Oberpräsidium, auch der preußische Kronprinz und die Kaiserin von Rußland. Aber die Mutter blieb dieselbe schlichte Frau und wurde es noch immer mehr. Einmal, als die Köchin erkrankt war und die zum Diner geladenen Gäste nicht mehr abbestellt werden konnten, auch keine andere Hilfe sich zeigte, blieb sie in der Küche und besorgte das ganze Essen, ohne sich ihren Gästen zu zeigen.
Unvergeßlich blieb auch ihren Kindern, was sie von ihrer Reise nach Berlin erzählte, wo ihr Mann, der zur Huldigungsfeier des Königs Friedrich Wilhelm IV. an den Hof gerufen worden war, abermals an Lungenentzündung krank lag. Als sie mit der Post bis Cassel gelangt war, hieß es: „Zwölf Stunden Aufenthalt.” Das war keine Kleinigkeit für die um ihren todkranken Mann geängstete Frau. Da ihr ein Paar Schuhe fehlten, machte sie sich auf den Weg in die Stadt. Die prunkenden Läden liebte sie nicht, und so suchte sie eine Nebengasse auf, in der sie das Schaufenster eines Schusters fand, mit einem einzigen Paar kleiner Schuhe besetzt. Sie trat ein und fand darin das vergrämte Gesicht einer Frau. Sie merkte gleich, daß sie die Schuhe kaufen mußte, ob sie ihr paßten oder nicht, und fragte teilnehmend, warum denn nur ein Paar Schuhe übriggeblieben seien. Da kam es heraus, daß der Mann an der Schwindsucht darniederliege und nicht mehr arbeiten könne. Bald saß die Oberpräsidentin am Bette des Kranken. Nachdem sie unten im Laden die Frau erfreut hatte durch den höchsten Preis, den sie irgend für die Schuhe anbringen konnte, erquickte sie nun vollends den Mann aus dem reichen Schatz ihres Herzens und stärkte ihn für seinen Weg aus der Zeit in die Ewigkeit. Darüber wurde ihr eigenes sorgenvolles Herz, das durch den langen Aufenthalt in doppelte Unruhe gebracht war, still. Und als sie nach zwei Tagen in Berlin ankam, fand sie ihren Mann schon auf dem Wege zur Genesung. Gerade in der Stunde, wo sie am Bette des armen kranken Schusters in Cassel gesessen hatte, war die Krisis eingetreten.
Solche Erfahrungen machten es immer mehr zu ihrem inneren Besitz und Grundsatz, durch keine Verlegenheit verlegen zu werden und durch keine Verdrießlichkeit verdrossen. „Es ist alles gut, was wir nicht selbst verschuldet haben”, pflegte sie oft zu sagen; und wo etwas besonders Schweres kam, sagte sie: „Gott hat gewiß etwas besonders Gutes damit im Sinn.” Darin war sie vollkommen eins mit ihrem Mann, der von Natur noch glücklicher veranlagt war als sie und an dem alle, die mit ihm in Berührung kamen, mit einer unbegrenzten Liebe emporsahen.
Schon ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt schrieb Professor Clemens Perthes in Bonn: „Ich fand in Koblenz viel verändert; statt des alten guten, aber schwachen P. einen jungen überaus kräftigen Mann als Oberpräsidenten, der mit eigener Hand überall eingriff und schon ein gutes Maß Schmutz aus dem alten Schlendrian aufgewühlt hat. Bodelschwingh ist aus Vinckes Schule, ebenso kräftig und sorgsam, aber gewiß viel besonnener als dieser, dabei von einem schönen, männlichen Äußeren, Meister in allen körperlichen Übungen, Ritter des Eisernen Kreuzes 1. Klasse. Durch sein einfaches Auftreten paßt er ganz vorzüglich für die Rheinlande, denen wohl nicht leicht ein größerer Verlust zugefügt werden könnte, als wenn der Oberpräsident wirklich, wie es heißt, Finanzminister werden sollte. Es muß eine Lust sein, unter Bodelschwingh zu arbeiten.” In der Tat gelang es der hingebenden Treue und Umsicht Bodelschwinghs