Der Besuch im Carcer.. Eckstein Ernst
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Der Besuch im Carcer
Vorwort zur siebenundvierzigsten Auflage
Mit der hier vorliegenden siebenundvierzigsten Auflage geht die Humoreske »Der Besuch im Carcer« in den Verlag von Fr. Thiel zu Leipzig über. Der Herr Verleger hat dem Verfasser den Wunsch ausgedrückt, diese Auflage – als die erste, die unter der neuen Flagge erscheint – mit einem Vorwort ausgestattet zu sehn. Ich entspreche diesem Wunsch mit dem lebhaftesten Vergnügen, obgleich ich Nichts Besonderes zu sagen habe. Daß der »Besuch im Carcer« bei Weitem der größte buchhändlerische Erfolg unseres Decenniums ist, rechnen wir uns nicht zum Verdienste. Gewiß hätten andere, wenn auch minder kurzweilige Humoresken deutscher Autoren mehr Anspruch auf diese Auszeichnung. Indessen das Glück ist blind, und so hat es denn einen Scherz gekrönt, der an die ästhetischen Vorzüge zahlloser ungekrönter nicht von ferne heranreicht. Ich selber hätte mir diese Gunst des Schicksals am wenigsten träumen lassen. Als ich in meiner stillen, traulichen Stube zu Rom, im Angesichte des Pantheons, die Gestalt Samuel Heinzerling's aus dem Dunkel beschwor, da ahnte ich nicht, wie rasch dieser würdige Mann die Rundreise um die bewohnte Erde zurücklegen sollte. Ich überließ mich dem vollen Behagen an seiner Erscheinung. Ich ergötzte mich königlich, aber ich hielt meine Freude für subjektiv. Ich gestaltete ohne jeden Hinblick auf's Publikum. Ich war mein dankbarster und eifrigster Leser. Schon diese Genesis überhebt mich der Mühe, auf die zahlreichen Anfeindungen beschränkter Seelen, insbesondere verunglückter Schulmeister zu antworten, die den Streich »Wälhelm Rompf's« minder angenehm auffassen als unser trefflicher Samuel. Ich habe den »Besuch im Carcer« geschrieben, weil das Ding mir Vergnügen machte – nicht aus diesem oder jenem abseits gelegenen »Motiv«. Das freilich kann ein trübseliger Pedant, dem die spontane Wirksamkeit einer fröhlichen Laune unbekannt ist, mit all seiner Gelehrsamkeit nicht begreifen. Mögen die Herren ungenirt fortfahren, ihrem Aerger in der gewohnten »pädagogischen« Weise Luft zu machen! Unsere siebenundvierzigste Auflage wird deßhalb ebenso wenig ins Wasser fallen, wie die bisherigen.
Der Besuch im Carcer
Es schlug Zwei. Der Direktor des städtischen Gymnasiums, Dr. Samuel Heinzerling, wandelte mit der ihm eignen Würde in den Schulhof und erklomm langsam die Stiege.
Auf der Treppe begegnete ihm der Pedell, der eben geläutet hatte und sich nun in seine Privatgemächer verfügen wollte, wo es allerlei häusliche Arbeiten zu erledigen gab.
»Äst nächts vorgefallen, Quaddler?« fragte der Direktor, – den devoten Gruß des Vasallen durch ein souveränes Kopfnicken erwidernd.
»Nein, Herr Direktor.«
»Hat der Herr Bibläothäkar noch nächt öber die bewußten Bände resolvärt?«
»Nein, Herr Direktor.«
»Goot, so gähen Sä noch heute hinöber und erkondigen Sä säch, wä säch diese Angelägenheit verhält … Noch Eins. Der Prämaner Rompf fehlt seit einigen Tagen. Verfögen Sä säch doch einmal in seine Wohnung und öberzeugen Sä säch, ob er wärklich krank ist! Ich zweifle fast …«
»Entschuldigen Sie, Herr Direktor, der Rumpf ist wieder da; ich sah ihn vorhin über den Hof kommen.«
»Non, om so bässer!«
Der geneigte Leser verzeihe die eigenthümliche Orthographie, mit der wir die geflügelten Worte des Gymnasialherrschers zu Papier bringen. Herr Dr. Samuel Heinzerling sprach allerdings nicht ganz so abnorm, als unsre Schreibweise vermuthen lassen könnte: allein das deutsche Lautsystem gibt uns kein Mittel an die Hand, die specifisch Heinzerling'sche Klangfarbe genauer zu versinnlichen. Ich, der bescheidene Erzähler, habe selber hundertmal den Vorträgen des Herrn Direktors in stummer Andacht gelauscht und den Heinzerling'schen Vokalismus so zu sagen zu meinem Lieblingsstudium erhoben. So lange unser armseliges Alphabet nicht eigene Zeichen für Zwitterlaute zwischen i und e, zwischen u und o u. s. w. besitzt, so lange wird der Historiograph, der sich mit Herrn Dr. Samuel Heinzerling beschäftigt, die von uns vorgeschlagene Rechtschreibung adoptiren müssen.
Der Herr Direktor sagte also: »Non, om so bässer!« und schritt über den langen Corridor den Pforten seiner Prima zu.
Samuel war heute ungewöhnlich frühe gekommen. In der Regel hielt er an der Theorie des akademischen Viertels fest. Dießmal hatte ihn ein häuslicher Zwist, über den wir aus begreiflicher Delikatesse den Schleier der Verschwiegenheit breiten, schon vor der Zeit aus dem behaglichen Sorgenstuhle getrieben, in welchem er seinen nachmittäglichen Kaffee zu schlürfen pflegte. Nur so erklärt es sich, daß die Primaner noch nicht daran gedacht hatten, nach Art der Gemsen ihre übliche Wache auszustellen.
Der Herr Direktor vernahm bereits auf dem Corridor einen Heidenlärm. Vierzig dröhnende Kehlen schrieen »Bravo!« und »Da Capo!«
Samuel runzelte die Stirne.
Jetzt verstummte das Chorgebrüll und eine klare, schneidige Stimme begann in komischem Pathos:
»Non, wär wollen's för dießmal goot sein lassen. Sä haben säch wäder einmal nächt gehärig vorbereitet, Heppenheimer! Äch bän sähr onzofräden mät Ähnen! Sätzen Sä säch!«
Donnernder Applaus.
Der Direktor stand wie versteinert.
Bei den Göttern Griechenlands, – das war er selbst, wie er leibte und lebte …! Ein wenig carrikirt, – aber doch so täuschend ähnlich, daß nur ein Kenner den Unterschied herauszufühlen vermochte! Eine solche Blasphemie war denn doch, – dem Sprüchwort zum Trotze, – noch nicht dagewesen! Ein Schüler erfrechte sich, ihn, den souveränen Beherrscher aller Gymnasialangelegenheiten, ihn, den Verfasser der »Lateinischen Grammatik für den Schulgebrauch, mit besonderer Rücksicht auf die oberen Classen«, ihn, den renommirten Pädagogen, Aesthetiker und Kantianer, von der geweihten Höhe seines eigenen Katheders aus lächerlich zu machen! Proh pudor! Honos sit auribus! Das war ein Streich, wie er nur in der Seele des Erz-Spitzbuben Wilhelm Rumpf zur Reife gelangen konnte!
»Wollen Sä einmal etwas nähmen, Möricke«, fuhr die Stimme des pflichtvergessenen Schülers fort … »Was, Sä sänd onwohl? Gott, wenn mär jonge Leute in Ährem Alter sagen, sä sänd onwohl, so macht das einen sähr öblen Eindruck. Knebel, schreiben Sä einmal än's Tageboch: »Möricke, zom Öbersätzen aufgefordert, war onwohl« …«
Jetzt vermochte der Direktor seine Entrüstung nicht länger zu bemeistern.
Mit einem energischen Ruck öffnete er die Thüre, und trat unter die erschrockenen Zöglinge, wie der Leu unter die Gazellenheerde.
Er hatte sich nicht getäuscht.
Es war in der That Wilhelm Rumpf, der größte Taugenichts der Classe, der sich so frevelhaft an der Majestät vergangen hatte. Erst seit vier Wochen zählte dieser Mensch zu Samuel Heinzerlings Schülern, und schon gebührte ihm vor allen Bengeln vom Primus bis zum Ultimus die Krone! Mit hochgezogenen Vatermördern, auf der Nase eine große papierene Brille, in der Linken ein Buch, in der Rechten das traditionelle Bleistiftchen haltend, – so stand er auf dem Katheder, und wollte eben eine neue Gotteslästerung ausstoßen, als der tiefbeleidigte Direktor auf der Schwelle erschien.
»Rompf!« sagte Samuel mit Fassung, – »Rompf! Sä gähen mär zwei Tage än den Carcer. Knebel, schreiben Sä einmal än's Tageboch: – Rompf, wegen kändischen, onwördigen Benähmens mät zwei Tagen Carcer bestraft. – Heppenheimer, rofen Sä den Pedellen!«
»Aber Herr Direktor …!« stammelte Rumpf, indem er die Papierbrille in die Tasche steckte und auf seinen Platz zuschritt.
»Keine Wäderrede!«
»Aber ich wollte ja nur, ich dachte …«
»Seien Sä ställ, sag' äch Ähnen!«
»Aber erlauben Sie gütigst …«
»Knebel, schreiben Sä ein: – Rompf wägen wädersetzlichen Betragens mät einem weiteren Tage Carcer belegt. – Äch bän's möde, mich äwig mät Ähnen heromzoschlagen. Schämen sollten Sä säch in den Grond Ährer Sääle hänein! Pfoi und abermals pfoi!«
»Audiatur et altera pars, Herr Direktor. Haben Sie uns diese Lehre nicht stets an's Herz gelegt …?«
»Goot! Sä sollen nächt sagen, daß ich meinen