Arme Leute. Dostoyevsky Fyodor
anstrengende Arbeit verschlimmerte den Zustand der Mutter sehr: mit jedem Tage wurde sie schwächer. Die Krankheit untergrub ihr Leben und brachte sie unaufhaltsam dem Grabe näher. Ich sah es, ich fühlte es und konnte doch nicht helfen!
Die Tage vergingen und jeder neue Tag glich dem vorhergegangenen. Wir lebten still für uns, als wären wir gar nicht in der Stadt. Anna Fedorowna beruhigte sich mit der Zeit – beruhigte sich, je mehr sie ihre unbegrenzte Uebermacht einsah und nichts mehr für sie zu fürchten brauchte. Uebrigens hatten wir ihr noch nie in irgend etwas widersprochen. Unser Zimmer war von den drei anderen, die sie bewohnte, durch einen Korridor getrennt, und neben unserem lag nur noch das Zimmer Pokrowskijs, wie ich schon erwähnte. Er unterrichtete Ssascha, lehrte sie Französisch und Deutsch, Geschichte und Geographie – d. h. »alle Wissenschaften«, wie Anna Fedorowna zu sagen pflegte, und dafür brauchte er für Kost und Logis nichts zu zahlen.
Ssascha war ein sehr begabtes Mädchen, doch entsetzlich unartig und lebhaft. Sie war damals erst dreizehn Jahre alt. Schließlich sagte Anna Fedorowna zu Mama, daß es vielleicht ganz gut wäre, wenn ich mit ihr zusammen lernen würde, da ich ja in der Pension den Kursus sowieso nicht beendet hatte. Mama war natürlich sehr froh über diesen Vorschlag, und so wurden wir beide gemeinsam ein ganzes Jahr von Pokrowskij unterrichtet.
Pokrowskij war ein armer, sehr armer Mensch. Seine Gesundheit erlaubte es ihm nicht, regelmäßig die Universität zu besuchen, und so war er eigentlich gar kein richtiger »Student«, wie er aus Gewohnheit noch genannt wurde. Er lebte so still und ruhig in seinem Zimmer, daß wir im Nebenzimmer nichts von ihm hörten. Er sah auch recht eigentümlich aus, bewegte und verbeugte sich so linkisch und sprach so seltsam, daß ich ihn anfangs nicht einmal ansehen konnte, ohne über ihn lachen zu müssen. Ssascha machte immer ihre unartigen Streiche, und das besonders während des Unterrichts. Er aber war zum Ueberfluß auch noch heftig, ärgerte sich beständig, jede Kleinigkeit brachte ihn aus der Haut: er schalt uns, schrie uns an, und sehr oft stand er wütend auf und ging fort, noch bevor die Stunde zu Ende war, und schloß sich wieder in seinem Zimmer ein. Dort aber, in seinem Zimmer, saß er tagelang über den Büchern. Er hatte viele Bücher, und alles so schöne, seltene Exemplare. Er gab noch an ein paar anderen Stellen Stunden und erhielt dafür Geld, doch kaum hatte er welches erhalten, so ging er sogleich hin und kaufte sich wieder Bücher.
Mit der Zeit lernte ich ihn näher kennen. Er war der beste und ehrenwerteste Mensch, der beste von allen, die mir bis dahin im Leben begegnet waren. Mama achtete ihn ebenfalls sehr. Und dann wurde er auch mein treuer Freund und stand mir am nächsten von allen, – natürlich nach Mama.
In der ersten Zeit beteiligte ich mich – obwohl ich doch schon ein großes Mädchen war – an allen Streichen, die Ssascha gegen ihn ausheckte, und bisweilen überlegten wir stundenlang, wie wir ihn wieder necken und seine Geduld auf eine Probe stellen könnten. Es war furchtbar spaßig, wenn er sich ärgerte – und wir wollten unser Vergnügen haben. (Noch jetzt schäme ich mich, wenn ich daran zurückdenke.) Einmal hatten wir ihn so gereizt, daß ihm Tränen in die Augen traten, und da hörte ich deutlich, wie er zwischen den Zähnen halblaut hervorstieß: »Nichts grausamer als Kinder!« Das verwirrte mich: zum erstenmal regte sich in mir so etwas wie Scham und Reue und Mitleid. Ich errötete bis über die Ohren und bat ihn fast unter Tränen, sich zu beruhigen und sich durch unsere dummen Streiche nicht kränken zu lassen, doch er klappte das Buch zu und ging in sein Zimmer, ohne den Unterricht fortzusetzen.
Den ganzen Tag quälte mich die Reue. Der Gedanke, daß wir Kinder ihn durch unsere boshaften Dummheiten bis zu Tränen geärgert hatten, war mir unerträglich. So hatten wir es nur auf seine Tränen abgesehen! So verlangte es uns, uns an seiner sicher krankhaften Gereiztheit auch noch zu weiden! So war es uns nun also doch gelungen, ihn um den Rest von Geduld zu bringen! So hatten wir ihn, diesen unglücklichen, armen Menschen, gezwungen, unter seinem grausamen Los noch mehr zu leiden!
Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen – wie mich die Reue quälte! Man sagt, Reue erleichtere das Herz. Im Gegenteil! Ich weiß nicht, wie es kam, daß sich in meinen Kummer auch Ehrgeiz mischte. Ich wollte nicht, daß er mich für ein Kind halte. Ich war damals bereits fünfzehn Jahre alt.
Von diesem Tage an lebte ich beständig in Plänen, wie ich Pokrowskij veranlassen könnte, seine Meinung über mich zu ändern. Doch an der Ausführung dieser meiner tausend Pläne hinderte mich meine Schüchternheit: ich konnte mich zu nichts entschließen, und so blieb es denn bei den Plänen und Träumereien (und was man nicht alles so zusammenträumt, mein Gott!). Nur beteiligte ich mich hinfort nicht mehr an Ssaschas unartigen Späßen, und auch sie wurde langsam artiger. Das hatte zur Folge, daß er sich nicht mehr über uns ärgerte. Doch das war zu wenig für meinen Ehrgeiz.
Nun einige Worte über den seltsamsten und bemitleidenswertesten Menschen, den ich jemals im Leben kennen gelernt habe. Ich will es deshalb an dieser Stelle tun, weil ich mich mit ihm, den ich bis dahin so gut wie gar nicht beachtet hatte, von jenem Tage an aufs lebhafteste in meinen Gedanken zu beschäftigen begann.
Von Zeit zu Zeit erschien bei uns im Hause ein schlecht und unsauber gekleideter, kleiner, grauer Mann, der in seinen Bewegungen unsagbar plump und linkisch war und überhaupt sehr eigentümlich aussah. Auf den ersten Blick konnte man glauben, daß er sich gewissermaßen seiner selbst schäme, daß er für seine Existenz selbst um Entschuldigung bäte. Wenigstens duckte er sich immer irgendwie, oder er versuchte wenigstens immer irgendwie sich zu drücken, sich gleichsam in nichts zu verwandeln, und diese ängstlichen, verschämten, unsicheren Bewegungen und Gebärden erweckten in jedem den Verdacht, daß er nicht ganz bei vollem Verstande sei. Wenn er zu uns kam, blieb er gewöhnlich im Flur hinter der Glastür stehen und wagte nicht, einzutreten. Ging zufällig jemand von uns – ich oder Ssascha – oder jemand von den Dienstboten, die ihm freundlicher gesinnt waren – durch den Korridor und erblickte man ihn dort hinter der Tür, so begann er zu winken und mit Gesten zu sich zu rufen und verschiedene Zeichen zu machen: nickte man ihm dann zu – damit erteilte man ihm die Erlaubnis, und gab ihm zu verstehen, daß keine fremden Leute im Hause waren – oder rief man ihn, dann erst wagte er endlich, leise die Tür zu öffnen und lächelnd einzutreten, worauf er sich froh die Hände rieb und sogleich auf den Zehenspitzen zum Zimmer Pokrowskijs schlich. Dieser Alte war sein Vater.
Später erfuhr ich die Lebensgeschichte dieses Armen. Er war einmal irgendwo Beamter gewesen, hatte aus Mangel an Fähigkeiten eine ganz untergeordnete Stellung bekleidet. Als seine erste Frau (die Mutter des Studenten Pokrowskij) gestorben war, hatte er zum zweitenmal geheiratet, und zwar eine halbe Bäuerin. Von dem Augenblick an war im Hause kein Friede mehr gewesen: die zweite Frau hatte das erste Wort geführt und war mit jedem womöglich handgemein geworden. Ihr Stiefsohn – der Student Pokrowskij, damals noch ein etwa zehnjähriger Knabe – hatte unter ihrem Haß viel zu leiden gehabt, doch zum Glück war es anders gekommen. Der Gutsbesitzer Bükoff, der den Vater, den Beamten Pokrowskij, früher gekannt und ihm einmal so etwas wie eine Wohltat erwiesen hatte, nahm sich des Jungen an und steckte ihn in irgendeine Schule. Er interessierte sich für den Knaben nur aus dem Grunde, weil er seine verstorbene Mutter gekannt hatte, als diese noch als Mädchen von Anna Fedorowna »Wohltaten« erfahren und von ihr an den Beamten Pokrowskij verheiratet worden war. Damals hatte Herr Bükoff, als guter Bekannter und Freund Anna Fedorownas, der Braut aus Großmut eine Mitgift von fünftausend Rubeln gegeben. Wo aber dieses Geld geblieben war – ist unbekannt. So erzählte es mir Anna Fedorowna. Der Student Pokrowskij selbst sprach nie von seinen Familienverhältnissen und liebte es nicht, wenn man ihn nach seinen Eltern fragte. Man sagt, seine Mutter sei sehr schön gewesen, deshalb wundert es mich, daß sie so unvorteilhaft und noch dazu einen so unansehnlichen Menschen geheiratet hat. – Sie ist schon früh gestorben, etwa im vierten Jahre nach der Heirat.
Von der Schule kam der junge Pokrowskij auf ein Gymnasium und von dort auf die Universität. Herr Bükoff, der sehr oft nach Petersburg zu kommen pflegte, ließ ihn auch dort nicht im Stich und unterstützte ihn. Leider konnte Pokrowskij wegen seiner angegriffenen Gesundheit sein Studium nicht fortsetzen, und da machte ihn Herr Bükoff mit Anna Fedorowna bekannt, stellte ihn ihr persönlich vor, und so zog denn Pokrowskij zu ihr, um für Kost und Logis Ssascha in »allen Wissenschaften« zu unterrichten.
Der alte Pokrowskij ergab sich aber aus Kummer über die rohe Behandlung, die ihm seine zweite Frau zuteil werden ließ, dem schlimmsten aller Laster: