Anna Karenina, 1. Band. Лев Николаевич Толстой
vorgefallen; das Volk von dem Train kam zurück.
„Was giebt es denn! Was ist! – Es ist jemand unter den Zug geraten! – Er ist zerquetscht!“ hörte man verschiedene Stimmen unter den Vorübereilenden.
Stefan Arkadjewitsch, die Schwester am Arme, und beide ebenfalls mit erschreckten Gesichtern, waren stehen geblieben und hatten sich das Volk vermeidend, nach dem Coupé zurückgewandt.
Die Damen traten wieder hinein, Wronskiy aber und Stefan Arkadjewitsch mischten sich unter die Menge, um Näheres über den Unglücksfall zu erfahren.
Ein Weichenwärter – mochte er berauscht oder vor der starken Kälte zu sehr vermummt gewesen sein – hatte den rückwärts sich bewegenden Zug nicht wahrgenommen, und war überfahren worden.
Noch bevor Wronskiy und Oblonskiy zurückgekehrt waren, hatten die Damen diese Einzelheiten schon von dem Diener erfahren.
Oblonskiy und Wronskiy sahen beide den unförmlich gewordenen Leichnam und der Erstere war augenscheinlich hiervon tief ergriffen. Er wurde traurig und schien fast in der Stimmung zu sein, Thränen zu vergießen.
„O, welches Entsetzen! Ach, Anna, hättest du das gesehen, o welch ein Unglück!“ rief er aus.
Wronskiy schwieg; sein hübsches Gesicht war nur ernst, aber es blieb vollkommen ruhig.
„Hättet Ihr das gesehen, Gräfin,“ fuhr Stefan Arkadjewitsch fort, „auch sein Weib war dabei. Es war ein furchtbarer Anblick, dieses zu sehen. Es warf sich über den Toten; man sagt, er allein habe seine sehr zahlreiche Familie erhalten. Dies ist das Unglück!“ —
„Kann man denn nicht etwas thun für die Frau?“ frug die Karenina in aufgeregt flüsterndem Tone.
Wronskiy blickte sie an und verließ sogleich den Waggon.
„Ich werde sofort wiederkommen, maman,“ sagte er, sich an der Thür nochmals umwendend.
Als er nach Verlauf mehrerer Minuten zurückkam, hatte sich Stefan Arkadjewitsch bereits mit der Gräfin über die neue Sängerin unterhalten, während diese gespannt nach der Waggonthür schaute, den Sohn erwartend.
„Jetzt wollen wir gehen,“ sagte Wronskiy, hereintretend.
Sie gingen alle zusammen hinaus. Wronskiy ging voran mit seiner Mutter; hinter dieser Karenina mit ihrem Bruder. Am Eingang trat der Stationsvorsteher an Wronskiy heran, der von ihm eingeholt worden war.
„Ihr habt meinem Vertreter zweihundert Rubel eingehändigt. Wollt doch die Güte haben zu bestimmen, für wen das Geld ausgesetzt sein soll?“
„Der Witwe,“ antwortete Wronskiy, die Achsel ziehend, „ich begreife nicht, wie darnach noch gefragt werden kann.“
„Ihr habt gegeben?“ rief Oblonskiy hinten aus und fügte hinzu, die Hand der Schwester drückend: „Das ist doch charmant, charmant; er ist doch ein herrlicher Mensch, habe ich nicht recht? Meine Hochachtung, Gräfin!“
Er blieb mit der Schwester stehen, um deren Zofe ausfindig zu machen. Als sie hinaustraten, war der Wagen der Wronskiy schon abgefahren, die Leute unterhielten sich noch immer über den Unglücksfall, der sich soeben ereignet hatte.
„Es ist ein entsetzlicher Tod,“ sagte ein vorübergehender Herr, „man sagt, er sei in zwei Stücke zerfahren gewesen.“
„Aber ich glaube, im Gegenteil, der leichteste war es, da er augenblicklich tot gewesen ist,“ meinte ein anderer.
„Daß man sich solches nicht zur Warnung dienen läßt,“ ein dritter.
Die Karenina setzte sich in den Wagen und Stefan Arkadjewitsch gewahrte mit Verwunderung, daß ihre Lippen bebten und sie nur mit Mühe die Thränen unterdrückte.
„Was ist dir, Anna?“ frug er.
„Ein böses Anzeichen.“
„Thorheiten, du bist glücklich angekommen, das ist die Hauptsache. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich mir von dir verspreche.“
„Kennst du Wronskiy schon lange?“ frug sie.
„Ja. Du weißt, daß wir hoffen, er möchte Kity heiraten.“
„Ja wohl,“ versetzte Anna leise. „Aber jetzt wollen wir einmal von deinen Angelegenheiten reden,“ fügte sie hinzu, den Kopf schüttelnd, gleichsam als wollte sie etwas Äußerliches abschütteln, was sie bedrückte und störte. „Laß uns jetzt von deinen Angelegenheiten sprechen; ich habe dein Schreiben erhalten und bin daraufhin gekommen.“
„Ganz recht. Meine ganze Hoffnung bist du,“ sagte Stefan Arkadjewitsch.
„Nun, so erzähle mir denn alles.“
Stefan Arkadjewitsch begann zu erzählen.
Nachdem man daheim angelangt war, hob Oblonskiy die Schwester aus dem Wagen, seufzte, drückte ihr die Hand und begab sich ins Amt.
19
Als Anna in das Gemach trat, saß Dolly in dem kleinen Gastzimmer mit ihrem weißhaarigen, dicken Knaben, der bereits jetzt dem Vater ähnlich zu werden begann, und überhörte ihm seine französische Lektion. Der Knabe las, und drehte dabei mit der Hand an einem Knopfe seiner Bluse, im Bemühen, denselben abzureißen.
Die Mutter hatte ihm das Händchen bereits mehrmals von dem lose sitzenden Knopf entfernt, aber die kleine runde Faust fuhr immer wieder nach demselben. Endlich riß die Mutter selbst den Knopf ab und steckte ihn in ihre Tasche.
„Laß deine Hand in Ruhe, Grischa,“ sagte sie und beschäftigte sich wieder mit einer Decke, einer Arbeit die sie schon seit langem förderte, und welche sie stets in schweren Zeiten vornahm. Auch jetzt häkelte sie aufgeregt, den Finger ausstreckend und die Maschen zählend.
Obwohl sie gestern befohlen hatte, ihrem Manne zu sagen, sie werde sich nicht darum kümmern, ob seine Schwester ankomme oder nicht, hatte sie dennoch alles zu deren Empfang herrichten lassen und erwartete nun die Schwägerin voll Aufregung.
Dolly war darniedergedrückt von ihrem Leid und ganz in dasselbe versunken. Gleichwohl aber sagte sie sich, daß ihre Schwägerin Anna die Gattin einer der einflußreichsten Persönlichkeiten Petersburgs war, und daselbst die grande dame spielte. Dank diesem Umstande, hatte sie die dem Gatten gegebene Versicherung nicht aufrecht erhalten, das heißt, sie hatte nicht vergessen, daß ihre Schwägerin ankommen werde.
„Nun, Anna trägt ja auch an nichts schuld,“ dachte Dolly bei sich, „ich weiß von ihr nichts, als Gutes, und ich selbst habe von ihr nur Liebes und Gutes erfahren.“
Allerdings, soweit sie sich der Eindrücke erinnern konnte, welche sie bei den Karenin in Petersburg erhalten, konnte sie das Haus derselben nicht als recht angenehm bezeichnen; es lag etwas Falsches in der Gesamtheit des Familienlebens daselbst.
„Aber weshalb sollte ich sie denn nicht empfangen? Wenn sie es sich nur nicht etwa einfallen lassen wird, mich etwa zu trösten,“ dachte Dolly. „Alle Tröstungen, alle Überredungsgründe, alle Lehren der christlichen Nachsicht und Milde, all das habe ich schon tausendmal überdacht, aber es hielt nichts davon Stich.“
Die ganze letzte Zeit war Dolly allein mit ihren Kindern gewesen. Von ihrem Kummer wollte sie nicht sprechen, und mit diesem Kummer in der Seele konnte sie nicht von Nebensächlichem reden. Sie wußte, daß sie auf die eine oder die andere Weise Anna alles erzählen würde, und bald freute sie da der Gedanke daran, wie sie alles heruntersprechen wollte, bald aber brachte sie auch der Gedanke an die Notwendigkeit in Wut, mit jener von ihrer Erniedrigung sprechen zu müssen, seiner Schwester, und deren schon bereitgehaltene Phrasen beim Zureden und Trösten mit anhören zu müssen.
Nach der Uhr blickend, erwartete sie sie von Minute zu Minute, und übersah dabei doch gerade diejenige, in welcher Anna Karenina ankam, so daß sie nicht einmal das Glöckchen vernahm.
Erst als sie das Rauschen eines Gewandes und leichte Schritte schon in der Thür vernahm, blickte sie auf und auf ihren angespannten Zügen malte sich unwillkürlich nicht Freude, sondern Erstaunen.
Sie erhob sich und umarmte die Schwägerin.
„Wie,