Anna Karenina, 1. Band. Лев Николаевич Толстой
mit welcher sein Bruder aß und trank. Er bemühte sich indessen, seine Aufmerksamkeit nicht zu Tage treten zu lassen.
„Weshalb heiratest du denn nicht?“
„Es ist noch nicht dazu gekommen,“ antwortete Konstantin errötend.
„Warum nicht? Mit mir – ist es vorbei. Ich habe mein Leben verdorben. Das Eine habe ich schon früher gesagt und werde ich stets behaupten; hätte man mir damals mein Erbteil gegeben, als ich es brauchte, dann würde mein ganzes Leben ein anderes geworden sein.“
Konstantin beeilte sich, der Unterhaltung eine neue Richtung zu geben.
„Weißt du schon, daß dein Wanjuschka bei mir in Pokrowsko auf dem Kontor ist?“ sagte er.
Nikolay reckte seinen Hals und versank in Nachdenken.
„Ja, sage mir doch, wie geht es in Pokrowsko? Steht unser Haus noch, was machen die Birken und die Felder? Lebt der Gärtner Philipp noch? Ich besinne mich noch auf die Laube und das Sofa darin! Sieh nur zu, daß nichts im Hause verändert wird, aber – heirate möglichst bald und führe alles wieder so ein wie es vordem gewesen ist. Dann werde ich auch zu dir kommen wenn dein Weib gut ist.“
„Komm doch jetzt zu mir,“ antwortete Lewin, „wir könnten es uns so bequem machen!“
„Ich würde wohl zu dir kommen, wenn ich wüßte, daß ich Sergey Iwanowitsch nicht bei dir fände.“
„Du wirst ihn nicht treffen. Ich lebe vollständig unabhängig von ihm.“
„Ja, aber was du auch sagen mögest, du müßtest doch wählen zwischen ihm und mir,“ beharrte Nikolay, dem Bruder schüchtern in die Augen blickend.
Die Zaghaftigkeit rührte Konstantin.
„Wenn du ein offenes Bekenntnis von mir haben willst in dieser Beziehung, so werde ich dir sagen, daß ich in euerem Zwist mit Sergey Iwanowitsch weder deine, noch die andere Partei ergriffen habe. Ihr befindet euch beide im Unrecht; du hattest dies mehr der äußeren Form nach, er mehr nach dem inneren Gehalt der Sache.“
„Ah! Du hast es erkannt, du hast es erkannt?“ rief freudig erregt Nikolay aus.
„Ich persönlich aber, wenn du auch das wissen willst, ziehe mir die Freundschaft mit dir vor, denn“ —
„Denn, denn?“ —
Konstantin vermochte nicht zu sagen, daß er den Bruder deswegen lieber habe, weil derselbe unglücklich war und ihm Freundschaft nötig sei. Aber Nikolay verstand selbst, daß er eben dies sagen wollte, und widmete sich unter Stirnrunzeln wieder der Flasche.
„Es ist genug jetzt, Nikolay Dmitritsch,“ sagte Marja Nikolajewna, die fleischige Hand nach der Flasche ausstreckend.
„Laß los! Laß mich gehen, oder – ich schlage dich!“ rief er.
Marja Nikolajewna lächelte mit sanftem, gutmütigem Ausdruck, der sich auch Nikolay selbst bald mitteilte, und nahm ihm den Branntwein weg.
„Du denkst wohl, die hier versteht nichts?“ sagte er, „sie versteht alles das besser, als wir alle. Nichtwahr, es liegt etwas Gutes, Liebes in ihr?“
„Ihr waret früher wohl nicht in Moskau?“ wandte sich Lewin an sie, um ihr einige Worte zu sagen.
„Sprich sie nicht mit ‚Ihr‘ an, sie fürchtet sich davor. Seit der Zeit, da sie verurteilt wurde, weil sie das Haus des Lasters verlassen wollte, hat sie mit Ausnahme des Friedensrichters niemand wieder mit ‚Ihr‘ angeredet. Mein Gott, was ist das für ein Unsinn in der Welt!“ rief er plötzlich aus. „Diese neuen Einrichtungen, diese Friedensrichter, diese Semstwos, was ist das alles für Unsinn!“
Er begann hierauf alles was er gegen die neuen Institutionen auf dem Herzen hatte, herunterzusprechen.
Konstantin Lewin hörte ihn an; aber die Negierung jedes höheren Sinnes in allen gesellschaftlichen Institutionen, welche er ja mit ihm teilte und oft ausgesprochen hatte, war ihm jetzt unangenehm im Munde des Bruders.
„In jener Welt werden wir alles Ersehnte haben,“ sagte er im Scherz.
„In jener Welt? O, ich liebe diese nicht. Ich liebe sie nicht,“ wiederholte er, das verstörte, wilde Auge auf seinem Bruder ruhen lassend. Es ist ja freilich wahr, daß es, wenn man all den Greuel und Wirrwarr, den fremden sowohl wie seinen eigenen, verlassen könnte, recht gut sein würde, aber ich fürchte den Tod, ich fürchte mich entsetzlich vor dem Sterben!“ Er schauerte zusammen. „Trinke doch etwas. Willst du lieber Champagner? Oder wollen wir ein wenig ausfahren? Zu den Zigeunern! Weißt du, ich liebe gar zu sehr die Zigeuner und die russischen Lieder!“
Seine Zunge begann zu stocken, und er sprang von einem Thema auf das andere über. Konstantin sowohl wie Marja vermochte ihn nur mit Mühe zu überreden, daß er nicht ausfuhr und beide brachten alsdann den völlig Berauschten zur Ruhe.
Marja versprach Konstantin, im Falle der Not zu schreiben und Nikolay auch bewegen zu wollen, daß er zu dem Bruder käme, um bei diesem zu leben.
26
Am anderen Morgen verließ Konstantin Lewin Moskau, am Abend des nämlichen Tages langte er zu Hause an.
Unterwegs, im Waggon, unterhielt er sich mit den Mitreisenden über Politik, über die neuen Eisenbahnen, aber wie in Moskau, so übermannte ihn auch hier eine Verworrenheit im klaren Denken, eine Unzufriedenheit mit sich selbst, ein Schamgefühl vor einem unbestimmten Etwas.
Als er indessen auf seiner Ankunftsstation ausgestiegen war und seinen alten krummen Kutscher Ignaz mit dem aufgeschlagenen Kaftankragen gewahrte, als er in dem matten Lichtschein, der durch die Fenster des Stationsgebäudes fiel, seinen mit Teppichen bedeckten Schlitten sah, seine Pferde mit den gestutzten Schweifen in dem Geschirr mit Ringen und Fransen, als ihm sein Kutscher beim Zurechtsetzen im Schlitten schon die Dorfneuigkeiten mitzuteilen begann, von der Ankunft eines Aufkäufers und davon, daß die Kuh Pawa gekalbt habe – da empfand er, daß sich seine Verworrenheit etwas aufklärte, daß das Schamgefühl und die innere Unzufriedenheit mit sich selbst wichen.
Schon beim Anblick seines Ignaz und seiner Pferde fühlte er dies, als er aber erst den ihm gereichten Schafpelz umgethan hatte und sich in denselben eingehüllt zurechtsetzte und abfuhr, sich überlegend, welche Geschäfte jetzt der Erledigung durch ihn im Dorfe harrten, und als er nach seinem donischen Beipferd schaute, welches früher sein Reitpferd gewesen war, ein braves Tier, das aber Schaden gelitten hatte, – da fing er an, ganz anders über das zu denken, was ihm zugestoßen war.
Er fühlte sich jetzt wieder als er selbst und wollte kein anderer mehr sein. Nur besser wollte er jetzt sein, als er es vordem gewesen.
Von heute ab hatte er sich zunächst dahin entschlossen, daß er nicht mehr hoffen müsse auf ein außergewöhnliches Lebensglück, wie es ihm eine Verheiratung hätte bieten können; infolge dessen aber dürfe er doch die lebendige Gegenwart nicht mehr übersehen.
Dann gelobte er sich selbst, daß niemals wieder eine böse Leidenschaft ihn hinreißen solle, von deren Rückerinnerung er so hart gequält wurde, als er den Entschluß faßte, den Antrag zu wagen.
In der Erinnerung an seinen Bruder Nikolay gelobte er sich ferner, daß er seiner nie vergessen wolle, für ihn sorgen müsse und ihn nicht aus den Augen lassen dürfe, um stets zu seiner Unterstützung bereit sein zu können, wenn es schlecht mit ihm ginge. Und daß es bald so kommen werde, das fühlte er. Auch das Gespräch des Bruders über den Kommunismus, dem gegenüber er sich so wenig interessiert verhalten hatte, veranlaßte ihn jetzt zum Nachdenken.
Eine Änderung der volkswirtschaftlichen Grundlagen hielt er für unsinnig, aber er hatte stets die Ungerechtigkeit empfunden, die in seinem Überfluß lag, verglichen mit der Armut des Volkes und jetzt beschloß er bei sich, daß er um sich als ganz gerecht zu fühlen, von jetzt ab – obwohl er auch früher schon viel gearbeitet und sehr mäßig gelebt hatte, – noch fleißiger arbeiten und sich noch weniger Luxus gestatten wolle.
Alles dies erschien ihm so leicht ausführbar, daß er den ganzen Heimweg in den angenehmsten Träumereien zurücklegte. Mit dem ermutigenden Gefühl der Hoffnung auf ein neues,