Anna Karenina, 1. Band. Лев Николаевич Толстой
Litteratur, Musik, Zeichnen, Tanzen ins Haus kamen, weshalb zu bestimmten Stunden alle drei jungen Damen mit Mademoiselle Linon in der Equipage den Twerskiyboulevard hinabfuhren, in ihren Atlaspelzen – Dolly in einem langen, Nataly in einem halblangen und Kity in einem ganz kurzen, so daß die üppigen Füßchen in den drallsitzenden, roten Strümpfchen vollständig gesehen werden konnten, weshalb sie in Begleitung eines Lakaien mit goldener Kokarde an der Mütze den Twerskiyboulevard abspazieren mußten – alles dies und noch vieles andere, was sich in ihrem reizumwobenen Dasein abspielte, verstand er nicht; aber er wußte, daß alles, was hier vor sich ging, schön war, und er war vernarrt besonders in das Geheimnisvolle der Vorgänge.
Zur Zeit seiner Universitätsstudien hätte er sich beinahe in die älteste, in Dolly, verliebt, aber man verheiratete sie sehr bald schon an Oblonskiy. Er verliebte sich hierauf in die zweitälteste.
Er empfand, daß er eine der Schwestern lieben müsse, nur konnte er nicht zu der Erkenntnis gelangen, welche die Erkorene eigentlich sei. Indessen auch Nataly folgte – sobald sie nur in der Gesellschaft erschienen war – einem Diplomaten Lwoff an den Altar.
Kity war noch ein Kind, als Lewin die Universität verließ. Der junge Schtscherbazkiy, welcher in die Marine eintrat, ertrank im baltischen Meere, und die Beziehungen Lewins zu den Schtscherbazkiy wurden ungeachtet seines freundschaftlichen Verhältnisses zu Oblonskiy immer entferntere.
Als aber nun Lewin im laufenden Jahre zu Beginn des Winters nach Moskau kam nach einem einjährigen Aufenthalt auf dem Lande, und die Schtscherbazkiys wiedersah, da erkannte er, in welche von den drei Mädchen ihm endgültig vom Schicksal beschieden worden war, sich zu verlieben.
Es hätte wohl scheinen können, als ob nichts einfacher sei als dies, daß er, ein Mann von guter Familie, eher reich als arm und im Alter von zweiunddreißig Jahren, der jungen Fürstin Schtscherbazkiy einen Heiratsantrag machte; allem Anschein nach mußte man ihn doch als eine gute Partie anerkennen.
Aber Lewin war verliebt und demzufolge schien ihm, daß Kity ein in allen Beziehungen so vollkommenes Wesen sei, ein so über allem Irdischen erhabenes Geschöpf, er aber hingegen ein so gewöhnlicher Mensch, ein so niederes Wesen, daß sich nicht einmal daran denken lasse, es würde ihn irgend jemand anderes, oder gar sie selbst, als ihrer würdig ansehen.
Nachdem er zwei Monate in Moskau wie im Rausche zugebracht hatte, fast jeden Tag Kity in der großen Gesellschaft sehend, wohin er sich begab, um ihr begegnen zu können, beschloß er plötzlich bei sich selbst, daß es nicht sein könne und reiste ab aufs Land.
Die Überzeugung Lewins, daß es nicht in Erfüllung gehen könne, beruhte darauf, daß er in den Augen der Verwandten Kitys als eine nicht vorteilhafte, nicht angemessene Partie in Erwägung der persönlichen Vorzüge des Mädchens galt und daß dieses selbst ihn nicht lieben könne.
In den Augen der Verwandten hatte er keine berufsmäßige, bestimmtgeregelte Thätigkeit, keine Stellung in der Welt, während seine Freunde jetzt, da er schon zweiunddreißig Jahre zählte, der eine Oberst und Flügeladjutant, der andere Professor, der dritte Bank- und Eisenbahndirektor, oder Gerichtspräsident geworden war wie Oblonskiy. Er aber – der recht wohl wußte, als was er für die übrigen erscheinen mußte – war ein Gutsbesitzer der sich mit Viehzucht, mit der Jagd auf Birkhühner und mit Bauten beschäftigte, das heißt ein talentloser Mensch, von dem nichts geleistet wurde und welcher nach den Begriffen der Gesellschaft nur das that, was taugliche Menschen eben niemals thun.
Selbst die reizumwobene, schöne Kity konnte einen Mann der so unschön war, wie er selbst von sich sagte, und ganz besonders einen so einfachen, durch nichts sich auszeichnenden Menschen unmöglich lieben.
Außerdem erschienen ihm seine früheren Beziehungen zu Kity – Beziehungen eines Erwachsenen zu einem Kinde infolge seiner Freundschaft zu ihrem Bruder – als eine neue Scheidewand vor der Liebe.
Den unschönen, gutmütigen Mann für den er sich selbst hielt, konnte man wohl seiner Meinung nach als einen Freund lieben, aber um mit einer solchen Liebe geliebt zu werden, mit welcher er Kity liebte, dazu mußte man ein schöner Mensch sein, und – was immer noch die Hauptsache dabei blieb – man mußte ein absonderlicher Mensch sein. —
Er hatte wohl vernommen, daß die Weiber öfters auch häßliche Menschen lieben, einfache Menschen, aber er glaubte nicht daran, indem er nur nach sich selbst urteilte.
Er selbst aber konnte nur schöne Weiber lieben, nur solche, die mit einem Reiz des Geheimnisvollen und Besonderen begabt waren.
Nachdem Lewin so zwei Monate hindurch auf dem Lande gewesen war, überzeugte er sich, daß es sich für ihn nicht um eine jener Verliebtheiten handele, wie er sie in der Zeit seiner Jugend an sich erfahren hatte, sondern daß seine Empfindungen ihm keine Minute mehr Ruhe ließen, daß er nicht leben könne, ohne daß die Frage eine Entscheidung gefunden hätte, ob sie seine Gattin werden würde oder nicht, und daß seine ganze Verzweiflung nur aus der Vorstellung entstand, daß er nicht die geringsten Beweismittel dafür besaß, daß ihm ein Korb erteilt werden würde.
So fuhr er denn jetzt nach Moskau mit dem festen Vorsatz, einen Antrag zu stellen und zu heiraten, wenn man ihn erhörte.
Sonst – er vermochte sich nicht zu denken, was mit ihm geschehen würde, sollte er eine Zurückweisung erfahren.
7
In Moskau mit dem Morgenzug angekommen, blieb Lewin bei seinem ältesten Bruder Koznyscheff. Nachdem er sich umgekleidet, begab er sich zu diesem ins Kabinett, entschlossen, ihm unverweilt zu berichten, zu welchem Zwecke er angekommen sei und seinen Rat zu erbitten.
Aber sein Bruder war nicht allein. Bei ihm befand sich ein berühmter Professor der Philosophie, der aus Charkoff eigens deshalb gekommen war, um Zweifel, die beiden über eine sehr wichtige philosophische Frage aufgetaucht waren, aufzuklären.
Der Professor führte eine sehr scharfe Polemik gegen die Materialisten und Sergey Koznyscheff war mit Interesse dieser Polemik gefolgt. Nachdem er den letzten Artikel des Professors gelesen hatte, teilte er demselben brieflich seine Einwendungen mit und machte ihm Vorwürfe, daß er den Materialisten viel zu große Konzessionen gemacht habe. Der Professor war nun sogleich selbst erschienen, um sich mit dem Briefschreiber auszusprechen.
Das Thema drehte sich um eine moderne Frage: Giebt es eine Grenze zwischen den psychologischen und physiologischen Offenbarungen in der Thätigkeit des Menschen, und wo liegt sie?
Sergey Iwanowitsch begrüßte seinen Bruder mit dem ihm eigenen vor jedermann angenommenen kaltfreundlichen Lächeln und fuhr, nachdem er denselben mit dem Professor bekannt gemacht hatte, in seinem Gespräch fort.
Der kleine Herr in der Brille mit der schmalen Stirn ließ einen Augenblick das Gespräch fallen, um den Angekommenen zu begrüßen und setzte dann das Gespräch fort, ohne Lewin weitere Aufmerksamkeit zu widmen. Lewin saß erfüllt von der Erwartung, daß der Professor sich entfernen möchte, aber bald begann er sich selbst für den Gegenstand der Unterhaltung zu interessieren.
Lewin hatte in den Journalen die Artikel gefunden, um die es sich hier handelte und sie gelesen, von ihnen angezogen als von einer Entwickelung ihm bekannter Dinge. Er hatte auf der Universität die Fundamente der Naturwissenschaften studiert, sich aber nie mit diesen wissenschaftlichen Ausführungen über die Entstehung des Menschen als eines lebenden Wesens, über die Reflexe, über Biologie und Sociologie näher beschäftigt, mit jenen Fragen über die Bedeutung des Lebens und des Todes für ihn selbst, die ihm in der jüngsten Zeit öfters in den Sinn gekommen waren.
Beim Anhören der Unterredung des Bruders mit dem Professor bemerkte er, daß sie wissenschaftliche Fragen mit subjektiven verbanden. Mehrmals näherten sie sich jenen Fragen, aber jedes Mal, wenn sie nahe an den Hauptpunkten waren, wie ihm schien, entfernten sie sich sogleich wieder davon und versenkten sich wieder in das Gebiet feinster Unterscheidungen, Verteidigungen, Citate, Fingerzeige und Verweise auf Autoritäten, und nur schwer vermochte er noch zu erkennen, wovon eigentlich die Rede war.
„Ich kann nicht zugeben,“ sagte Sergey Iwanowitsch mit seiner gewöhnlichen Klarheit und Präzision des Ausdruckes und Eleganz der Diktion, „ich kann keinenfalls mit Keis darin übereinstimmen, daß meine gesamte Vorstellung von der äußeren Welt