Das Büchlein vom Leben nach dem Tode. Fechner Gustav Theodor
Geist aus dem Keime und erschafft sich seine Werkzeuge für die dritte; auf der dritten entwickelt sich der göttliche Keim, der in jedes Menschen Geiste liegt und schon hier in ein für uns dunkles, für den Geist der dritten Stufe tageshelles Jenseits durch Ahnung, Glaube, Gefühl und Instinkt des Genius über den Menschen hinausweist.
Der Übergang von der ersten zur zweiten Lebensstufe heißt Geburt; der Übergang von der zweiten zur dritten heißt Tod.
Der Weg, auf dem wir von der zweiten zur dritten Stufe übergehen, ist nicht finstrer als der, auf dem wir von der ersten zur zweiten gelangen. Der eine führt zum äußern, der andere zum innern Schauen der Welt.
Wie aber das Kind auf der ersten Stufe noch blind und taub ist für allen Glanz und alle Musik des Lebens auf der zweiten und seine Geburt aus dem warmen Mutterleibe ihm hart ankommt und es schmerzt, und wie es einen Augenblick in der Geburt gibt, wo es die Zerstörung seines früheren Daseins als Tod fühlt, bevor noch das Erwachen zum äußern neuen Sein stattfindet, so wissen wir in unserm jetzigen Dasein, wo unser ganzes Bewußtsein noch im engen Körper gebunden liegt, noch nichts vom Glanze und der Musik und der Herrlichkeit und Freiheit des Lebens auf der dritten Stufe und halten leicht den engen dunkeln Gang, der uns dahin führt, für einen blinden Sack, aus dem kein Ausgang sei. Aber der Tod ist nur eine zweite Geburt zu einem freiern Sein, wobei der Geist seine enge Hülle sprengt und liegen und verfaulen läßt, wie das Kind die seine bei der ersten Geburt.
Danach wird alles, was uns mit unsern jetzigen Sinnen äußerlich und gleichsam nur aus der Ferne nahe gebracht wird, in seiner Innerlichkeit von uns durchdrungen und empfunden werden. Der Geist wird nicht mehr vorüberstreifen am Berge und Grase, er wird nicht mehr, umgeben von der ganzen Wonne des Frühlings, doch von der Wehmut gequält werden, daß das alles ihm nur äußerlich bleibt, sondern er wird Berg und Gras durchdringen und jenes Stärke und dessen Lust im Wachsen fühlen; er wird sich nicht mehr abmühen, durch Worte und Gebärde einen Gedanken in andern zu erzeugen, sondern in der unmittelbaren Einwirkung der Geister aufeinander, die nicht mehr durch die Körper getrennt, sondern durch die Körper verbunden werden, wird die Lust der Gedankenzeugung bestehen; er wird nicht äußerlich den zurückgelassenen Lieben erscheinen, sondern er wird in ihren innersten Seelen wohnen, als Teil derselben, in ihnen und durch sie denken und handeln.
Zweites Kapitel
Das Kind im Mutterleibe hat bloß einen Körpergeist, den Bildungstrieb. Die Schöpfung und Entwickelung der Gliedmaßen, womit es aus sich herauswächst, sind seine Handlungen. Es hat noch nicht das Gefühl, daß diese Glieder sein Eigentum sind, denn es gebraucht sie nicht und kann sie nicht gebrauchen. Ein schönes Auge, ein schöner Mund sind ihm bloß schöne Gegenstände, die es geschaffen, unwissend, daß sie einst dienstbare Teile seines Selbst sein werden. Sie sind für eine folgende Welt gemacht, wovon das Kind noch nichts weiß; es stößt sie aus vermöge eines ihm selbst dunkeln Triebes, der nur in der Organisation der Mutter klar begründet liegt.1 Aber so, wie das Kind zur zweiten Lebensstufe reif, die Organe seines bisherigen Schaffens abstreift und dahinten läßt, sieht es sich plötzlich als selbstkräftige Einheit aller seiner Schöpfungen. Dieses Auge, dieses Ohr, dieser Mund sind jetzt ihm zugehörig, und wenn es erst nach dunkelem eingebornen Gefühle dieselben schuf, so lernt es jetzt deren köstlichen Gebrauch kennen. Die Welt des Lichts, der Farben, der Töne, der Düfte, des Geschmacks und Gefühls gehen ihm erst jetzt in den dazu erschaffenen Werkzeugen auf, wohl ihm, wenn es sie brauchbar und tüchtig schuf.
Das Verhältnis der ersten Stufe zur zweiten wird gesteigert wiederkehren im Verhältnisse der zweiten zur dritten. Unser ganzes Handeln und Wollen in dieser Welt ist eben so nur berechnet, uns einen Organismus zu schaffen, den wir in der folgenden Welt als unser Selbst erblicken und brauchen sollen. Alle geistigen Wirkungen, alle Folgen der Kraftäußerungen, die bei Lebzeiten eines Menschen von ihm ausgehen und sich durch die Menschenwelt und Natur hindurchziehen, sind schon durch ein geheimes, unsichtbares Band miteinander verbunden, sie sind die geistigen Gliedmaßen des Menschen, die er bei Lebzeiten treibt, verbunden zu einem geistigen Körper, zu einem Organismus von rastlos weitergreifenden Kräften und Wirkungen, deren Bewußtsein noch außer ihm liegt und die er daher, obwohl untrennbar mit seinem jetzigen Sein zusammengesponnen, doch nur im Ausgangspunkte von demselben für sein erkennt. Im Augenblick des Todes aber, wo sich der Mensch von den Organen scheidet, an welche seine schaffende Kraft hier geknüpft war, erhält er auf einmal das Bewußtsein alles dessen, was als Folge seiner frühern Lebensäußerungen in der Welt von Ideen, Kräften, Wirkungen fortlebt, fortwirkt und, als einem Quell organisch entflossen, auch noch seine organische Einheit in sich trägt, die aber nun lebendig, selbstbewußt, selbstkräftig wird und in der Menschheit und Natur mit eigener individueller Machtvollkommenheit nach eigener Bestimmung waltet.
Was irgend jemand während seines Lebens zur Schöpfung, Gestaltung oder Bewahrung der durch die Menschheit und Natur sich ziehenden Ideen beigetragen hat, das ist sein unsterblicher Teil, der auf der dritten Stufe noch fortwirken wird, wenn auch der Leib, an den die wirkende Kraft auf der zweiten geknüpft war, lange verfault ist. Was Millionen gestorbener Menschen geschaffen, gehandelt, gedacht haben, ist nicht mit ihnen gestorben, noch wird es wieder zerstört von dem, was die nächsten Millionen schaffen, handeln, denken, sondern es wirkt in diesen fort, entwickelt sich in ihnen selbstlebendig weiter, treibt sie nach einem großen Ziele, das sie selbst nicht sehen.
Freilich erscheint uns dieses ideale Fortleben nur als eine Abstraktion und das Fortwirken des Geistes der gestorbenen Menschen in den Lebenden nur als ein leeres Gedankending. Aber nur darum erscheint es uns so, weil wir keine Sinne haben, die Geister auf der dritten Stufe in ihrem wahren, die Natur erfüllenden und durchdringenden Sein zu erfassen, bloß die Anknüpfungspunkte ihres Daseins an unseres können wir erkennen, den Teil, mit dem sie in uns hineingewachsen sind und der uns eben unter der Form jener Ideen erscheint, die sich von ihnen in uns fortgepflanzt haben.
Ob der Wellenkreis, den ein versinkender Stein im Wasser hinterließ, um jeden Stein, der noch daraus hervorragt, durch seinen Anprall einen neuen Wellenkreis erregt, bleibt es doch ein in sich zusammenhängender Kreis, der alle erregt und in seinem Umfang trägt; die Steine aber wissen nur um die Zerstückelung der Umfangskreise. Wir sind solche unwissende Steine, nur daß wir, ungleich festen Steinen, selbst jeder schon im Leben einen zusammenhängenden Kreis von Wirkungen um uns schlagen, der sich nicht bloß um andere, sondern in andere hinein verbreitet.
In der Tat schon während seiner Lebzeiten wächst jeder Mensch mit seinen Wirkungen in andere hinein durch Wort, Beispiel, Schrift und Tat. Schon als Goethe lebte, trugen Millionen Mitlebende Funken seines Geistes in sich, an denen neue Lichter entbrannten; schon als Napoleon lebte, drang seines Geistes Kraft in fast die ganze Mitwelt ein; als beide starben, starben diese Lebenszweige, die sie in die Mitwelt getrieben, nicht mit; bloß die Triebkraft neuer diesseitiger Zweige erlosch, und das Wachstum und die Fortentwickelung dieser von einem Individuum ausgegangenen, in ihrer Gesamtheit ein Individuum wieder bildenden Ausgeburten geschieht jetzt mit einem gleichen inwohnenden, von uns freilich nicht zu erfassenden Selbstbewußtsein, als früher ihr erstes Hervortreiben. Noch leben ein Goethe, ein Schiller, ein Napoleon, ein Luther unter uns, in uns als selbstbewußte, schon höher als bei ihrem Tode entwickelte, in uns denkende und handelnde, Ideen zeugende und fortentwickelnde Individuen, jeder nicht mehr eingeschlossen in einen engen Leib, sondern ergossen durch die Welt, die sie bei Lebzeiten bildeten, erfreuten, beherrschten, und weit hinausreichend mit ihrem Selbst über die Wirkungen, die wir noch von ihnen spüren.
Das größte Beispiel eines mächtigen Geistes, der noch in der Nachwelt fortlebt und fortwirkt, haben wir an Christo. Es ist nicht ein leeres Wort, daß Christus in seinen Bekennern lebe; jeder echte Christ trägt ihn nicht bloß vergleichungsweise, sondern wahrhaft lebendig in sich; jeder ist seiner teilhaftig, der in seinem Sinne handelt und denkt, denn eben nur Christi Geist wirkt in ihm dieses Handeln und Denken. Er hat sich ausgebreitet durch die ganzen Glieder seiner Gemeinde, und alle hängen durch seinen Geist zusammen wie die Äpfel eines Stammes, wie die Reben eines Weinstocks.
„Denn gleich wie ein Leib ist und hat doch viele Glieder, alle Glieder aber eines Leibes, wiewohl ihrer viele sind, sind sie doch ein Leib, also auch Christus“ (1. Kor. 12, 12).2
Aber nicht
1
Dem Physiologen läßt sich bezeichnender sagen: das schaffende Prinzip des Kindes liegt vor der Geburt nicht in dem, was nach der Geburt von ihm fortleben wird, was ja jetzt erst das Abhängige ist, das Geschaffene, sondern in dem, was vom Kinde bei der Geburt in Rückstand bleiben und verderben wird, wie der Leib des Menschen im Tode (
2
Viele biblische Parallelstellen hierzu sind zusammengestellt in „Zendavesta“ III, S. 363 ff. und den „Drei Motiven und Gründen des Glaubens“, S. 178.