Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. Lagerlöf Selma

Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen - Lagerlöf Selma


Скачать книгу
der Karte und sollte Fragen über Blekinge beantworten, wußte aber kein Wort zu sagen. Mit jeder Sekunde wurde das Gesicht des Lehrers düsterer, und der Junge dachte, der Lehrer nehme es viel genauer mit der Geographie als mit irgend einem der andern Fächer. Jetzt kam er auch noch vom Katheder herunter, nahm dem Jungen den Stock aus der Hand und schickte ihn auf seinen Platz zurück. „Das nimmt gewiß kein gutes Ende,“ dachte der Junge.

      Aber der Lehrer trat an ein Fenster und sah eine Weile hinaus, und dann begann er leise zu pfeifen, wie er zu tun pflegte, wenn er guter Laune war. Jetzt stieg er wieder auf den Katheder und sagte, er wolle ihnen etwas von Blekinge erzählen.

      Und was der Lehrer dann erzählt hatte, war so unterhaltend gewesen, daß der Junge wohl aufgepaßt hatte. Wenn er nur daran dachte, wußte er jedes Wort wieder.

      „Småland ist ein hohes Haus,“ begann der Lehrer, „mit Tannen auf dem Dache; vor dem Hause aber ist eine breite Treppe mit drei Stufen, und diese Treppe wird Blekinge genannt.

      Es ist eine Treppe, die tüchtig zugenommen hat. Sie erstreckt sich acht Meilen weit über die Vorderseite des småländischen Hauses, und wer die Treppe bis an die Ostsee hinuntergehen will, hat vier Meilen zu wandern.

      Es ist auch schon recht lange her, seit die Treppe gebaut worden ist. Tage und Jahre sind vergangen, seit die ersten aus Feldsteinen gehauenen Stufen zu einer bequemen Verkehrsstraße zwischen Småland und der Ostsee eben und gleichmäßig gelegt wurden.

      Da die Treppe schon so alt ist, wird man wohl begreifen, daß sie jetzt nicht mehr so aussieht wie zu der Zeit, wo sie neu war. Ich weiß nicht, wie viel man sich damals um so etwas gekümmert hat, aber jedenfalls war bei einer solchen Größe keine Kunst imstande, sie rein zu halten. Nach ein paar Jahren wuchsen Moos und Flechten darauf, Spreu und dürres Laub wurde im Herbst darüber geweht, und ihm Frühling wurde sie mit niederprasselnden Steinen und Kies überschüttet. Und da dies alles liegen blieb, sammelte sich schließlich so viel Erde auf der Treppe an, daß nicht nur Gras und Kräuter, sondern auch Büsche und große Bäume darauf Wurzel schlugen.

      Aber zugleich ist zwischen den drei Stufen ein großer Unterschied entstanden. Die oberste, die Småland am nächsten liegt, ist zum großen Teil mit magrer Erde und kleinen Steinen bedeckt, und es wachsen nicht gern andre Bäume da als Weißbirken und Faulkirschen und Tannen, die die Kälte dort oben ertragen und mit wenig zufrieden sind. Am allerbesten begreift man, wie kärglich und ärmlich es da oben ist, wenn man sieht, wie klein die vom Walde urbar gemachten Äcker sind, was für winzige Häuser die Leute sich da bauen und wie weit die Kirchen voneinander entfernt sind.

      Auf der mittlern Treppe gibt es bessere Erde, und es wird dort auch nicht so sehr kalt. Man sieht das gleich daran, daß die Bäume höher und von besserer Art sind. Dort wachsen Ahorn und Eichen und Linden, Hängebirken und Haselsträucher, aber keine Nadelhölzer. Und noch deutlicher sieht man es an den vielen bebauten Landstrecken und an den großen und schönen Häusern, die sich die Menschen gebaut haben. Es stehen auch viele Kirchen auf der mittlern Stufe, und große Ortschaften liegen rings um sie herum, und sie nimmt sich in jeder Beziehung besser und schöner aus als die oberste Stufe.

      Aber die unterste Stufe ist doch von allen die beste. Sie ist mit guter, richtiger Erde bedeckt, und da, wo sie liegt und sich im Meere badet, hat man nicht das geringste Gefühl von der småländischen Kälte. Hier unten gedeihen Buchen und Kastanien und Nußbäume, und sie werden so groß, daß sie über das Kirchendach hinausragen. Hier sind auch die größten Ackerfelder; aber die Leute leben nicht allein vom Ackerbau und vom Ertrag der Wälder, sie beschäftigen sich auch mit dem Fischfang, mit Handel und Schiffahrt. Deshalb gibt es hier auch die kostbarsten Häuser und die schönsten Kirchen, und die Kirchspiele sind zu Handelsplätzen und Städten herangewachsen.

      Aber damit ist noch nicht alles über die drei Treppenstufen gesagt. Denn man muß wohl bedenken, daß das Wasser, wenn es auf das Dach des großen Hauses in Småland regnet, oder wenn der Schnee da oben schmilzt, sich irgendwohin verlaufen muß, und da stürzt natürlich ein Teil davon die große Treppe hinunter. Im Anfang floß es allerdings über die ganze Breite der Treppe; aber dann entstanden Risse darin, und allmählich hat sich nun das Wasser daran gewöhnt, in mehreren gut ausgewaschenen Rinnen hinunterzufließen. Und Wasser ist Wasser, was man auch immer damit tun mag. Es gönnt sich nie Ruhe. An einer Stelle gräbt es sich ein, sickert in den Erdboden und verschwindet, und an einer andern Stelle nimmt es zu. Die Rinnen hat es zu Tälern ausgegraben, die Talwände hat es mit Erde bedeckt, und dann haben Büsche und Ranken und Bäume sich daran angeklammert, in so dichter und reicher Fülle, daß sie den Wasserstrom, der in der Tiefe dahinfließt, beinahe verdecken. Aber wenn die Ströme an die Absätze zwischen den Stufen kommen, müssen sie sich kopfüber hinunterstürzen, und dadurch kommt das Wasser in so schäumende Erregung, daß es die Kraft hat, Mühlräder und Maschinen zu treiben; und Mühlen und Fabriken sind denn auch rings um jeden Wasserfall her entstanden.

      Aber auch damit ist durchaus noch nicht alles über das Land mit den drei Treppenstufen gesagt, sondern es muß auch noch hervorgehoben werden, daß da droben in Småland in dem großen Haus einst ein Riese wohnte, der alt geworden war. Und es ärgerte ihn, daß er in seinem hohen Alter gezwungen sein sollte, die hohe Treppe hinunterzugehen, um den Lachs im Meere zu fangen. Er dachte, es sei viel bequemer, wenn der Lachs dahin käme, wo er hauste.

      Er ging daher auf das Dach seines großen Hauses und schleuderte von da mächtige Steine in die Ostsee hinein. Er warf sie mit solcher Kraft, daß die Steine über ganz Blekinge wegflogen und wirklich ins Meer fielen. Und als die Steine hineinfielen, bekam der Lachs so große Angst, daß er aus dem Meere herausging, die Ströme von Blekinge hinauffloh, dann durch die Bäche hindurchschwamm, mit hohen Sprüngen sich die Fälle hinaufschnellte und nicht eher anhielt, als bis er weit drinnen in Småland bei dem alten Riesen war.

      Und wie wahr alles das ist, das sieht man an den vielen Inseln und Schären, die vor der Küste von Blekinge liegen, die aber nichts andres sind als die vielen großen Steine, die der Riese dahingeschleudert hat.

      Man erkennt es auch daran, daß der Lachs sich immer noch durch die Ströme von Blekinge und durch die Wasserfälle in die ruhig fließenden Wasser bis nach Småland hinaufarbeitet.

      Aber jener Riese hat viel Dank und Ehre von den Bewohnern von Blekinge verdient, denn die Lachsfischerei in den Strömen und die Steinhauerei in den Schären ist eine Arbeit, womit sich bis zum heutigen Tag viele Menschen ihren Unterhalt verdienen.“

      8

      Am Ronnebyfluß

Freitag, 1. April

      Weder die Wildgänse noch der Fuchs Smirre hatten geglaubt, daß sie je wieder zusammentreffen würden, nachdem dieser Schonen verlassen hatte. Aber nun geschah es, daß die Wildgänse ihren Weg über Blekinge nahmen, und da hatte sich Smirre auch hinbegeben. Er hatte die Zeit bis jetzt in dem nördlichen Teil dieser Landschaft verbracht und war äußerst mißvergnügt über diesen Aufenthalt. Eines Nachmittags, als Smirre in einer einsamen Waldgegend, nicht weit von dem Ronnebyfluß entfernt, umherstreifte, sah er eine Schar Wildgänse daherfliegen. Er sah sogleich, daß eine der Gänse weiß war, und da wußte er ja, mit wem er es zu tun hatte.

      Und sofort begann Smirre hinter den Gänsen herzujagen, einmal, weil ihn nach einer guten Mahlzeit gelüstete, dann aber auch in der Absicht, sich für all den Verdruß zu rächen, den sie ihm bereitet hatten. Er sah sie ostwärts bis zum Ronnebyfluß fliegen; dort änderten sie die Richtung und zogen weiter nach Süden. Er erriet, daß sie sich am Flußufer eine Schlafstätte suchten, und hoffte, ohne besondre Schwierigkeit einige von ihnen erwischen zu können.

      Aber als Smirre endlich den Ort erblickte, wo die Gänse sich niedergelassen hatten, entdeckte er, daß es ein sehr gut beschützter Platz war, und daß er ihnen nicht beikommen konnte.

      Der Ronnebyfluß ist zwar kein großer und mächtiger Wasserlauf, aber er ist seiner schönen Ufer wegen doch sehr berühmt. Einmal ums andre zwängt er sich zwischen steilen Gebirgswänden hindurch, die senkrecht aus dem Wasser aufragen und vollständig mit Geißblatt, Faulkirschen und Weißdorn, mit Erlen, Ebereschen und Weiden bewachsen sind; an einem schönen Sommertag gibt es nicht leicht etwas Angenehmeres, als auf dem kleinen, dunklen Fluß dahinzurudern und hinaufzuschauen in all das Grün, das sich


Скачать книгу