Die Grundlagen der Arithmetik. Frege Gottlob
eröffnet sich die Möglichkeit, die allgemeinen Gesetze der Zahlen aus der allen gemeinsamen Entstehungsweise zu beweisen, während die besondern Eigenschaften der einzelnen aus der besondern Weise zu folgern wären, wie sie durch fortgesetzte Vermehrung um eins gebildet sind. So kann man auch, was bei den Erdschichten, schon durch die Tiefe allein bestimmt ist, in der sie getroffen werden, also ihre Lagenverhältnisse, eben daraus schliessen, ohne dass man die Induction nöthig hätte; was aber nicht dadurch bestimmt ist, kann auch die Induction nicht lehren.
Vermuthlich kann das Verfahren der Induction selbst nur mittels allgemeiner Sätze der Arithmetik gerechtfertigt werden, wenn man darunter nicht eine blosse Gewöhnung versteht. Diese hat nämlich durchaus keine wahrheitverbürgende Kraft. Während das wissenschaftliche Verfahren nach objectiven Maasstäben bald in einer einzigen Bestätigung eine hohe Wahrscheinlichkeit begründet findet, bald tausendfaches Eintreffen fast für werthlos erachtet, wird die Gewöhnung durch Zahl und Stärke der Eindrücke und subjective Verhältnisse bestimmt, die keinerlei Recht haben, auf das Urtheil Einfluss zu üben. Die Induction muss sich auf die Lehre von der Wahrscheinlichkeit stützen, weil sie einen Satz nie mehr als wahrscheinlich machen kann. Wie diese Lehre aber ohne Voraussetzung arithmetischer Gesetze entwickelt werden könne, ist nicht abzusehen.
§ 11. Leibniz20 meint dagegen, dass die nothwendigen Wahrheiten, wie man solche in der Arithmetik findet, Principien haben müssen, deren Beweis nicht von den Beispielen und also nicht von dem Zeugnisse der Sinne abhangt, wiewohl ohne die Sinne sich niemand hätte einfallen lassen, daran zu denken. »Die ganze Arithmetik ist uns eingeboren und in uns auf virtuelle Weise.« Wie er den Ausdruck »eingeboren« meint, verdeutlicht eine andere Stelle21: »Es ist nicht wahr, dass alles, was man lernt, nicht eingeboren sei; – die Wahrheiten der Zahlen sind in uns, und nichtsdestoweniger lernt man sie, sei es, indem man sie aus ihrer Quelle zieht, wenn man sie auf beweisende Art lernt (was eben zeigt, dass sie eingeboren sind), sei es …«.
Sind die Gesetze der Arithmetik synthetisch apriori oder analytisch?
§ 12. Wenn man den Gegensatz von analytisch und synthetisch hinzunimmt, ergeben sich vier Combinationen, von denen jedoch eine, nämlich
ausfällt. Wenn man sich mit Mill für aposteriori entschieden hat, bleibt also keine Wahl, sodass für uns nur noch die Möglichkeiten
und
zu erwägen bleiben. Für die erstere entscheidet sich Kant. In diesem Falle bleibt wohl nichts übrig, als eine reine Anschauung als letzten Erkenntnissgrund anzurufen, obwohl hier schwer zu sagen ist, ob es eine räumliche oder zeitliche ist, oder welche es sonst sein mag. Baumann22 stimmt Kant, wenngleich mit etwas anderer Begründung, bei. Auch nach Lipschitz23 fliessen die Sätze, welche die Unabhängigkeit der Anzahl von der Art des Zählens und die Vertauschbarkeit und Gruppirbarkeit der Summanden behaupten, aus der inneren Anschauung. Hankel24 gründet die Lehre von den reellen Zahlen auf drei Grundsätze, denen er den Charakter der notiones communes zuschreibt: »Sie werden durch Explication vollkommen evident, gelten für alle Grössengebiete nach der reinen Anschauung der Grösse und können, ohne ihren Charakter einzubüssen, in Definitionen verwandelt werden, indem man sagt: Unter der Addition von Grössen versteht man eine Operation, welche diesen Sätzen genügt.« In der letzten Behauptung liegt eine Unklarheit. Vielleicht kann man die Definition machen; aber sie kann keinen Ersatz für jene Grundsätze bilden; denn bei der Anwendung würde es sich immer darum handeln: sind die Anzahlen Grössen, und ist das, was man Addition der Anzahlen zu nennen pflegt, Addition im Sinne dieser Definition? Und zur Beantwortung müsste man jene Sätze von den Anzahlen schon kennen. Ferner erregt der Ausdruck »reine Anschauung der Grösse« Anstoss. Wenn man erwägt, was alles Grösse genannt wird: Anzahlen, Längen, Flächeninhalte, Volumina, Winkel, Krümmungen, Massen, Geschwindigkeiten, Kräfte, Lichtstärken, galvanische Stromstärken u. s. f., so ist wohl zu verstehen, wie man dies einem Grössenbegriffe unterordnen kann; aber der Ausdruck »Anschauung der Grösse« und gar »reine Anschauung der Grösse« kann nicht als zutreffend anerkannt werden. Ich kann nicht einmal eine Anschauung von 100000 zugeben, noch viel weniger von Zahl im Allgemeinen oder gar von Grösse im Allgemeinen. Man beruft sich zu leicht auf innere Anschauung, wenn man keinen andern Grund anzugeben vermag. Aber man sollte dabei den Sinn des Wortes »Anschauung« doch nicht ganz aus dem Auge verlieren.
Kant definirt in der Logik (ed. Hartenstein, VIII, S. 88):
»Die Anschauung ist eine einzelne Vorstellung (repraesentatio singularis), der Begriff eine allgemeine (repraesentatio per notas communes) oder reflectirte Vorstellung (repraesentatio discursiva).«
Hier kommt die Beziehung zur Sinnlichkeit gar nicht zum Ausdrucke, die doch in der transcendentalen Aesthetik hinzugedacht wird, und ohne welche die Anschauung nicht als Erkenntnissprincip für die synthetischen Urtheile apriori dienen kann. In der Kr. d. r. V. (ed. Hartenstein III, S. 55) heisst es:
»Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben und sie allein liefert uns Anschauungen.«
Der Sinn unseres Wortes in der Logik ist demnach ein weiterer als in der trancendentalen Aesthetik. Im logischen Sinne könnte man vielleicht 100000 eine Anschauung nennen; denn ein allgemeiner Begriff ist es nicht. Aber in diesem Sinne genommen, kann die Anschauung nicht zur Begründung der arithmetischen Gesetze dienen.
§ 13. Ueberhaupt wird es gut sein, die Verwandtschaft mit der Geometrie nicht zu überschätzen. Ich habe schon eine leibnizische Stelle dagegen angeführt. Ein geometrischer Punkt für sich betrachtet, ist von irgendeinem andern gar nicht zu unterscheiden; dasselbe gilt von Geraden und Ebenen. Erst wenn mehre Punkte, Gerade, Ebenen in einer Anschauung gleichzeitig aufgefasst werden, unterscheidet man sie. Wenn in der Geometrie allgemeine Sätze aus der Anschauung gewonnen werden, so ist das daraus erklärlich, dass die angeschauten Punkte, Geraden, Ebenen eigentlich gar keine besondern sind und daher als Vertreter ihrer ganzen Gattung gelten können. Anders liegt die Sache bei den Zahlen: jede hat ihre Eigenthümlichkeit. Inwiefern eine bestimmte Zahl alle andern vertreten kann, und wo ihre Besonderheit sich geltend macht, ist ohne Weiteres nicht zu sagen.
§ 14. Auch die Vergleichung der Wahrheiten in Bezug auf das von ihnen beherrschte Gebiet spricht gegen die empirische und synthetische Natur der arithmetischen Gesetze.
Die Erfahrungssätze gelten für die physische oder psychologische Wirklichkeit, die geometrischen Wahrheiten beherrschen das Gebiet des räumlich Anschaulichen, mag es nun Wirklichkeit oder Erzeugniss der Einbildungskraft sein. Die tollsten Fieberphantasien, die kühnsten Erfindungen der Sage und der Dichter, welche Thiere reden, Gestirne stille stehen lassen, aus Steinen Menschen und aus Menschen Bäume machen, und lehren, wie man sich am eignen Schopfe aus dem Sumpfe zieht, sie sind doch, sofern sie anschaulich bleiben, an die Axiome der Geometrie gebunden. Von diesen kann nur das begriffliche Denken in gewisser Weise loskommen, wenn es etwa einen Raum von vier Dimensionen oder von positivem Krümmungsmaasse annimmt. Solche Betrachtungen sind durchaus nicht unnütz; aber sie verlassen ganz den Boden der Anschauung. Wenn man diese auch dabei zu Hilfe nimmt, so ist es doch immer die Anschauung des euklidischen Raumes, des einzigen, von dessen Gebilden wir eine haben. Sie wird dann nur nicht so, wie sie ist, sondern symbolisch für etwas anderes genommen; man nennt z. B. gerade oder eben, was man doch als Krummes anschaut. Für das begriffliche Denken kann man immerhin von diesem oder jenem geometrischen Axiome das Gegentheil annehmen, ohne dass man in Widersprüche mit sich selbst verwickelt wird, wenn man Schlussfolgerungen aus solchen der Anschauung widerstreitenden Annahmen zieht. Diese Möglichkeit zeigt, dass die geometrischen Axiome von einander und von den logischen Urgesetzen unabhängig, also synthetisch sind. Kann man dasselbe von den Grundsätzen der Zahlenwissenschaft sagen? Stürzt nicht alles in Verwirrung, wenn man einen von diesen leugnen wollte? Wäre dann noch Denken möglich? Liegt nicht der Grund der Arithmetik tiefer als der alles Erfahrungswissens, tiefer selbst als der der Geometrie? Die arithmetischen Wahrheiten beherrschen das Gebiet des Zählbaren. Dies ist das umfassendste;
20
Baumann a. a. O. Bd. II., S. 13 u. 14; Erdm. S. 195, S. 208 u. 209.
21
Baumann a. a. O. Bd. II., S. 38; Erdm. S. 212.
22
A. a. O. Bd. II., S. 669.
23
Lehrbuch der Analysis, Bd. I., S. 1.
24
Theorie der complexen Zahlensysteme, S. 54 u. 55.