Frau Bovary. Gustave Flaubert

Frau Bovary - Gustave Flaubert


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Strecke ohne Zügel laufen ließ.

      Heute kam er mit Verspätung. Unterwegs war Frau Bovarys Windspiel querfeldein weggelaufen. Eine Viertelstunde lang pfiff man nach ihm. Hivert lief sogar ein paar Kilometer zurück; aller Augenblicke glaubte er, den Hund von weitem zu sehen. Schließlich aber mußte weitergefahren werden.

      Emma weinte und war ganz außer sich. Karl sei an diesem Unglück schuld. Herr Lheureux, der Modewarenhändler, der mit in der Post fuhr, versuchte sie zu trösten, indem er ein Schock Geschichten von Hunden erzählte, die entlaufen waren und sich nach langen Jahren bei ihren einstigen Herren wieder eingestellt hatten. Unter anderem wußte er von einem Dackel zu berichten, der von Konstantinopel aus den Weg nach Paris zurückgefunden haben sollte. Ein andrer Hund war hinter einander dreißig Meilen gelaufen und hatte dabei vier Flüsse durchschwommen. Und sein eigner Vater hatte einen Pudel besessen; der war volle zwölf Jahre weg. Eines Abends, als der alte Lheureux durch die Stadt nach dem Gasthaus ging, sprang der Hund an ihm hoch.

      Zweites Kapitel

      Emma stieg zuerst aus, nach ihr Felicie, dann Herr Lheureux und eine Amme. Karl mußte man erst aufwecken. Er war in seiner Ecke beim Einbruch der Dunkelheit fest eingeschlafen.

      Homais stellte sich vor. Er erschöpfte sich der „gnädigen Frau“ und dem „Herrn Doktor“ gegenüber in Galanterien und Höflichkeiten. Er sei entzückt, sagte er, bereits Gelegenheit gehabt zu haben, ihnen gefällig sein zu dürfen. Und in herzlichem Tone fügte er hinzu, er lüde sich für heute bei ihnen zu Tisch ein. Er sei Strohwitwer.

      Frau Bovary begab sich in die Küche und an den Herd. Mit den Fingerspitzen faßte sie ihr Kleid in der Kniegegend, zog es bis zu den Knöcheln herauf und wärmte ihre mit schwarzledernen Stiefeletten bekleideten Füße an der Glut, in der die Hammelkeule am Spieß gedreht wurde. Das Feuer beleuchtete ihre ganze Gestalt und warf grelle Lichter auf den Stoff ihres Kleides, auf ihre poröse weiße Haut und in die Wimpern ihrer Augen, die sich von Zeit zu Zeit schlössen. Der Luftzug strich durch die halboffene Tür und rötete die Flammen. Hochrote Reflexe umflossen die Frau am Herd. Am andern Ende desselben stand ein junger Mann mit blondem Haar, der sie stumm betrachtete.

      Es war Leo Düpuis, der Adjunkt des Notars Guillaumin, einer der Stammgäste im Goldnen Löwen. Er langweilte sich gehörig in Yonville, und deshalb kam er zu Tisch öfters absichtlich zu spät, in der Hoffnung, mit irgendeinem Reisenden den Abend im Wirtshause verplaudern zu können. Wenn er aber in der Kanzlei gerade gar nichts zu tun hatte, mußte er aus Langeweile wohl oder übel pünktlich erscheinen und von der Suppe bis zum Käse Binets Gesellschaft erdulden. Frau Franz hatte ihm den Vorschlag gemacht, heute mit den neuen Gästen zusammen zu essen; er war mit Vergnügen darauf eingegangen. Zur Feier des Tages war im Saal für vier Personen gedeckt worden.

      Man versammelte sich daselbst. Homais bat um Erlaubnis, sein Käppchen aufbehalten zu dürfen. Er erkälte sich leicht.

      Frau Bovary saß ihm beim Essen zur Rechten.

      „Gnädige Frau sind zweifellos ein wenig müde?“ begann er. „In unsrer alten Postkutsche wird man schauderhaft durchgerüttelt.“

      „Freilich!“ gab Emma zur Antwort. „Aber dieses Drüber und Drunter macht mir gerade Spaß. Ich liebe die Abwechselung.“

      „Ach ja, immer auf demselben Platze hocken ist gräßlich!“ seufzte der Adjunkt.

      „Wenn Sie wie ich den ganzen Tag auf dem Gaule sitzen müßten …“, warf Karl ein.

      Leo wandte sich an Emma:

      „Grade das denke ich mir köstlich. Natürlich muß man ein guter Reiter sein.“

      „Ein praktizierender Arzt hats übrigens in hiesiger Gegend ziemlich bequem“, meinte der Apotheker. „Die Wege sind nämlich soweit imstand, daß man ein Kabriolett verwenden kann. Im allgemeinen lohnt sich die Praxis auch. Die Bauern sind wohlhabend. Nach den statistischen Feststellungen haben wir, abgesehen von den gewöhnlichen Diarrhöen, Rachenkatarrhen und Magenbeschwerden, hin und wieder während der Erntezeit wohl Fälle von Wechselfieber, aber im großen und ganzen selten schwere Krankheiten. Besonders zu erwähnen sind die zahlreichen skrofulösen Leiden, die zweifellos von den kläglichen hygienischen Verhältnissen in den Bauernhäusern herrühren. Ja, ja, Herr Bovary, Sie werden öfters mit altmodischen Ansichten zu kämpfen haben, und vielfach werden Dickköpfigkeit und alter Schlendrian alle Anstrengungen Ihrer Kunst zunichte machen. Denn die Leute hierzulande versuchen es in ihrer Dummheit immer noch erst mit Beten, mit Reliquien und mit dem Pfarrer, statt daß sie von vornherein zum Arzt oder in die Apotheke gingen. Im übrigen ist das Klima wirklich nicht schlecht. Wir haben sogar etliche Neunzigjährige in der Gemeinde. Nach meinen Beobachtungen ist die Maximalkälte im Winter 4 °Celsius, während wir im Hochsommer auf 25°, höchstens 30° kommen. Das wäre ein Maximum von 24° Reaumur. Das ist nicht viel. Das kommt aber daher, daß wir einerseits vor den Nordwinden durch die Wälder von Argueil, andrerseits vor den Westwinden durch die Höhe von Sankt Johann geschützt sind. Diese Wärme, die ihre Ursachen auch in der Wasserverdunstung des Flusses und in den zahlreich vorhandenen Viehherden in den Weidegebieten hat, die, wie Sie wissen, viel Ammoniak produzieren (also Stickstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, ach nein, nur Stickstoff und Sauerstoff!), – diese Wärme, die den Humus aussaugt und alle Dünste des Bodens aufnimmt, sich gleichsam zu einer Wolke zusammenballt und sich mit der Elektrizität der Atmosphäre verbindet, die könnte schließlich (wie in den Tropenländern) gesundheitsschädliche Miasmen erzeugen – , diese Wärme, sag ich, wird gerade dort, wo sie herkommt, oder vielmehr, wo sie herkommen könnte, das heißt im Süden, durch die Südostwinde abgekühlt, die ihre Kühle über der Seine erlangen und bei uns bisweilen plötzlich als sanftes Mailüfterl wehen …“

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