Werner von Siemens. Fürst Artur
nahe Subsistenzbaum bedeutend erfrischt«.
Theorie und Technik
Es ist heute nicht mehr genau zu verfolgen, wie Werner Siemens sich und seine Geschwister durch diese Periode der drückendsten Sorgen glücklich hindurchgebracht hat. Aber es steht fest, daß der Kummer ihn nicht zu Boden warf, sondern seine Kräfte nur verstärkte, wie die Kraft einer stählernen Feder gesteigert wird, je mehr man sie zusammenpreßt. Eine moralische Stimme in Siemens begann plötzlich deutlich zu sprechen. Er erkannte, daß das Jagen nach Erfindungen, zu dem er sich durch die Leichtigkeit des ersten Erfolgs hatte hinreißen lassen, sowohl ihm wie seinem Bruder zum Verderben gereichen würde. Er sagte sich daher von allen Erfindungen los und gab sich ganz ernsten wissenschaftlichen Studien hin.
Von nun ab beginnt der Werner Siemens, wie wir ihn kennen und wie er uns teuer geworden ist, zu wachsen. Er fühlte deutlich, daß seine Vorbildung noch immer unvollkommen sei und seine Leistungen dadurch zurückgehalten würden. Da er nun Vorlesungen an der Berliner Universität hörte, kam er bald in den anregenden Kreis der später so bedeutend gewordenen jungen Naturforscher Du Bois-Reymond, Brücke, Helmholtz, und durch diesen Verkehr wurde sein ernstes Streben nach wissenschaftlicher Durchbildung seines Geistes mächtig gefördert.
Unter den naturwissenschaftlichen Fragen, die ihn damals sofort lebhaft beschäftigten, stand das Problem der Heißluftmaschine, die soeben von Stirling erfunden worden war, voran. Es schien eine Zeitlang, als sollte sie der Antriebsmotor der Zukunft werden, und die erste literarische Arbeit, die Werner Siemens verfaßte, führte den Titel: »Über die Anwendung der erhitzten Luft als Triebkraft.« Die Abhandlung erschien im Sommer 1845 in Dinglers »Polytechnischem Journal«. Die abgeklärten Betrachtungen darin sind auffallend, und die strenge Wissenschaftlichkeit darin verblüfft um so mehr, wenn man weiß, daß Werner noch im Anfang des Jahrs in flammendem Enthusiasmus über die Leistungen der Stirlingschen Maschine an Wilhelm geschrieben hatte: »Ein Perpetuum mobile ist jetzt kein Unsinn mehr.« Bis zur Niederschrift seiner Betrachtungen ist er von dieser Ansicht, die ein schwerer Irrtum war, vollständig zurückgekommen, und der Aufsatz steht bereits vollständig auf dem Boden des großen Perpetuum mobile-feindlichen Satzes von der Erhaltung der Kraft, der gerade in jener Zeit von Julius Robert Mayer zum erstenmal ausgesprochen worden, Siemens aber noch nicht bekannt war.
Wenn die Stirlingsche Maschine auch später keine große Bedeutung erlangt hat, so ist sie, abgesehen von der Gelegenheit, die sie Werner Siemens für seine erste wissenschaftliche Betätigung gegeben hat, auch noch dadurch wichtig geworden, daß sie dessen Brüder Wilhelm und Friedrich Siemens zu ihren Arbeiten über die Wärmeausnutzung anregte und so zur Aufstellung des bedeutenden Regenerativprinzips beitrug.
In »Poggendorfs Annalen« erschien im gleichen Jahr die zweite wissenschaftliche Abhandlung aus Werner Siemens' Feder, und deren Thema fiel bereits in das Gebiet der Elektrizität. Den jungen Physiker beschäftigte schon seit längerer Zeit das Problem der Messung von Geschoßgeschwindigkeiten. Er sah bald ein, daß die Feststellung äußerst geringer Zeitunterschiede auf dem bisher immer wieder versuchten elektro-magnetischen Weg nicht gelingen könne. Hierbei mußten Massen bewegt werden, und diese brauchten zur Überwindung ihrer natürlichen Trägheit zu lange Zeit. Er ließ darum durch die fliegende Kugel, die an zwei Stellen ihres Wegs Drähte berührte, nicht magnetisierende Ströme schließen, sondern Funkenentladungen hervorrufen, die Marken in einen rasch rotierenden blanken Stahlzylinder brannten. Die Funken besitzen keine Schwere und tun ihre Arbeit darum ohne Verzögerung. Was er in dem Aufsatz »Über die Anwendung des elektrischen Funkens zur Geschwindigkeitsmessung« darlegte, wird mit entsprechenden Abänderungen noch heute zur Messung von Geschoßgeschwindigkeiten, insbesondere in Geschützrohren, benutzt.
Seine Bemühungen um die Feststellung der Geschoßgeschwindigkeiten brachte Siemens auch mit dem Uhrmacher Leonhardt in Berührung, der für die Artillerieprüfungskommission auf gleichem Gebiet tätig war. Zur selben Zeit machte Leonhardt für den Generalstab der Armee Versuche, die Klarheit darüber schaffen sollten, ob der rascher arbeitende elektrische Telegraph wohl imstande sein könnte, den optischen zu ersetzen. Leonhardt bemühte sich, für diesen Zweck den unzuverlässigen Zeigertelegraphen von Wheatstone zu verbessern. Siemens stand ihm hierbei mit plötzlich aufflammendem Interesse eifrig bei. Es gelang ihm zu seiner eigenen Überraschung sehr schnell, den charakteristischen Fehler des Wheatstone-Apparats herauszufinden und diesen durch eine Neukonstruktion zu verbessern.
Sogleich fühlte er deutlich, daß der Telegraph eine große Zukunft haben, und daß er selbst vermutlich befähigt sein würde, an dem Ausbau dieser Zukunft mit Erfolg und Vorteil mitzuarbeiten. Und so sehen wir ihn jetzt den ersten Schritt auf dem Weg tun, der ihn zum Gipfel führen sollte.
Aber schon tritt von neuem der Deus ex machina auf und faßt ihn hindernd am Knöchel. Der Gipfelweg verschwindet noch einmal hinter Wolken.
Wenn man erfahren hat, an wie vielen wissenschaftlichen und technischen Dingen Werner Siemens in jener Zeit eifrig und schaffend arbeitete, so denkt man sicher nicht mehr daran, daß er zu jener Zeit noch Offizier war und für alle diese Dinge nur die Zeit übrig hatte, die ihm der Dienst in der Artilleriewerkstatt ließ. Nur eisernster Fleiß vermochte ihm die Kraft zu geben, immer weiter an seinem geistigen Aufstieg zu arbeiten. War der Dienst also längst eine höchst unangenehm empfundene Hemmung, so schien es nun gar einen Augenblick, als ob das Räderwerk der militärischen Zucht die ganze Zukunft des jungen Siemens zwischen seinen Zähnen zermalmen wollte.
Er wurde plötzlich in einen politisch-religiösen Konflikt verwickelt.
Man brachte in jenen bewegten Zeiten den Rundreisen des Predigers Johannes Ronge, eines früheren katholischen Kaplans, lebhaftestes Interesse entgegen. Ronge hatte einen scharfen Artikel gegen die von einer wahren Völkerwanderung besuchte Ausstellung des heiligen Rocks in Trier geschrieben und war zur Strafe dafür exkommuniziert worden. Er strebte nun, Deutschland durchziehend, die Gründung einer neuen deutsch-katholischen Kirche an. Auch in Berlin trat er auf, und seine Versammlungen wurden von vielen jungen Offizieren und Beamten besucht, die damals sämtlich liberal dachten.
Werner Siemens hatte sich nicht allzusehr um diese Bewegung gekümmert, da seine naturwissenschaftlich-technischen Bemühungen ihn weit davon hinwegtrugen. Aber er sollte durch eine zunächst ganz äußerliche Berührung doch recht eng damit verknüpft werden. Über diesen Vorgang berichtet er in den »Lebenserinnerungen«:
»Gerade als dieser Rongekultus auf seinem Höhepunkte angelangt war, machte ich mit sämtlichen Offizieren der Artilleriewerkstatt – neun an der Zahl – nach Schluß der Arbeit eine Promenade im Tiergarten. »Unter den Zelten« fanden wir viele Leute versammelt, die lebhaften Reden zuhörten, in denen alle Gesinnungsgenossen aufgefordert wurden, für Johannes Ronge und gegen die Dunkelmänner Stellung zu nehmen. Die Reden waren gut und wirkten vielleicht gerade deswegen so überzeugend und hinreißend, weil man in Preußen bis dahin an öffentliche Reden nicht gewöhnt war.
»Als mir daher beim Fortgehen ein Bogen zur Unterschrift vorgelegt wurde, der mit teilweise bekannten Namen schon beinahe bedeckt war, nahm ich keinen Anstand, auch den meinigen hinzuzufügen. Meinem Beispiel folgten die übrigen zum Teil viel älteren Offiziere ohne Ausnahme. Es dachte sich eigentlich keiner dabei etwas Schlimmes. Jeder hielt es nur für anständig, seine Überzeugung auch seinerseits offen auszusprechen.
»Aber groß war mein Schreck, als ich am anderen Morgen beim Kaffee einen Blick in die Vossische Zeitung warf und als Leitartikel einen »Protest gegen Reaktion und Muckertum« und an der Spitze der Unterschriften meinen Namen und nach ihm die meiner Kameraden fand.«
Die Offiziere erfuhren bald, daß sie zur Strafe aus der Artilleriewerkstatt zu ihren Truppenteilen zurückversetzt werden sollten. Für Siemens drohte also die Gefahr, wieder nach Wittenberg zu kommen, wo natürlich weitere Bestrebungen auf dem Gebiet der Telegraphie unmöglich gewesen wären.
Dagegen empörte sich alles in ihm, und er war schon stark genug, nicht bloß gegen das Schicksal zu wüten, sondern es zu meistern. Er faßte einen Entschluß, der bei jedem anderen als bei einem Menschen von genialer Kraft abenteuerlich zu nennen wäre.
Etwas Besonderes mußte geschehen, um sein