«1906». Der Zusammenbruch der alten Welt. Grautoff Ferdinand Heinrich
wurde.
Glühend rot versank der Sonnenball im Meere. Auf der stillen Flut wiegten sich leise die schlanken weißen Leiber der vier Schiffe. Scharf und deutlich drangen die schnarrenden Trommelwirbel und die langgezogenen Horntöne des Zapfenstreichs zum Lande hinüber. Langsam und ruckweise kletterte die weiße Toplaterne wie ein blasser Stern am Fockmast der „Möwe“ empor. Wie ein Spielschiff nahm sie sich mit ihrer hohen Takelage gegenüber den ernsten, ausgesprochen kriegerisch aussehenden fremden Kreuzern aus. Nur zwei Batterienpforten unterbrachen die Reeling der „Möwe“, nur zwei größere Geschütze gegenüber zwei Dutzend englischen und amerikanischen, im Ernstfall ein von vornherein verlorenes Spiel. Hinter der „Möwe“ der groteske Bau des „Wilmington“, ein schwimmendes Plätteisen mit einem Fabrikschornstein drauf, ungefähr als wäre in diesem Fahrzeug mit dem überlangen Schlot wieder eines jener frühesten unbeholfenen, unproportionierten Dampfboote lebendig geworden, wie sie noch hie und da in stillen Hafenwinkeln rosten.
Schnell brach die tropische Nacht herein. Unter ihrem Schutze näherten sich zwei amerikanische Schiffsboote dem Strande; beide Kommandanten begaben sich ins amerikanische Konsulat. Nur eine Bootswache blieb am Strande zurück.
Um 2 Uhr nachts wurden mehrere total betrunkene Seehelden vom Sternenbanner von deutschen Marinesoldaten im Arrestlokal eingeliefert. Während die Patrouillen mit der Bändigung dieser Gesellen – es waren zwei Neger darunter – beschäftigt waren, spielten sich im eigentlichen Apia wüste Szenen ab. Eine Schar wiskybegeisterter amerikanischer Matrosen war in mehrere Eingeborenenhütten eingebrochen. Aus einer Prügelei war ein regelrechter Kampf geworden. Schüsse fielen von beiden Seiten. Die Samoaner, denen vor Jahren alle Waffen von den deutschen Behörden abgenommen, d. h. abgekauft worden waren, hatten unerklärlicherweise plötzlich amerikanische Karabiner; sie stammten, wie sich später herausstellte, aus dem Waffenlager im Konsulat. Zwei amerikanische Matrosen wurden getötet, vier verwundet, acht sinnlos betrunkene Leute waren im Arrest. Von den Samoanern waren acht tot, vierzehn verwundet.
Noch vor Tagesanbruch fand ein lebhafter amtlicher Verkehr zwischen dem Gouverneur und den Konsulaten statt. Es war eine böse Nacht.
Am 17. März, morgens 7 Uhr, erhielt Dr. Solf vom amerikanischen und gleich darauf vom englischen Konsul ein Schreiben des Inhalts: Da bewaffnete Eingeborene amerikanische Seesoldaten überfallen hätten, müßten sie als Schiffskommandanten ihrer Regierung ersuchen, eine Abteilung Mannschaften zum Schutze der Konsulate zu landen.
Dr. Solf antwortete: Die Konsulate ständen unter dem Schutze der deutschen Regierung; er erstrecke sich allerdings nicht auf Leute, die die Hütten friedlicher Eingeborener überfielen, wie das geschehen sei. Eine Landung fremder Marinemannschaften könne er nicht erlauben. Er wolle über den Fall telegraphisch Instruktionen seiner Regierung einholen. Bis dahin müßte es bei diesem Bescheide bleiben. Die Benützung des Kabels sei vor der Hand nur für gewöhnliche, nicht chiffrierte Depeschen zulässig. Die verhafteten Amerikaner müßten bis auf weiteres im Arrest verbleiben.
Antwort beider Konsuln: Wenn bis um 9 Uhr keine zustimmende Antwort des Gouverneurs vorliege, würde die Landung zweier Abteilungen ohne Erlaubnis stattfinden.
Antwort Dr. Solfs: Einer bewaffneten Landung würde er mit Waffengewalt entgegentreten. Der Kommandant S. M. S. „Möwe“ werde instruiert werden, jedes Boot mit bewaffneter Macht unter Feuer zu nehmen.
Die Uhr schlug die 8. Stunde; alle Arbeit ruhte in Apia. Überall wurden die Ereignisse der Nacht besprochen. Auf den Straßen standen lebhaft sich unterhaltende Gruppen; die englischen und amerikanischen Ansiedler hatten sich in der Nähe ihrer Konsulate versammelt. Die Hügel hinter Apia waren dicht besetzt von Eingeborenen; das reine Amphitheater „Caesar, morituri te salutant“ … 5 Minuten nach 8 Uhr glitt das von 8 eingeborenen Polizeisoldaten geruderte Gouvernementsboot rasch aus dem Hafen hinaus. Dr. Solf begab sich an Bord der „Möwe“. Eine Viertelstunde später verabschiedete er sich am Fallreep von Kapitänleutnant Schröder mit einem langen Händedruck. Auf der Rückfahrt begegnete Dr. Solf dem Boote des amerikanischen Konsuls, das wenige Minuten später beim „Wilmington“ anlegte und kurz darauf zurückkehrte. Am Lande hieß es Mr. Schumacher habe dem Kommandanten des „Wilmington“ eine wichtige Meldung überbracht.
½9 Uhr. Tausend Augen blickten hinaus aufs Meer voll banger Sorge. Man war auf sich selber angewiesen, ganz allein auf sich. Das Kabel hatte, nachdem der amerikanische Konsul noch eine Depesche erhalten, versagt, von der übrigen Welt war man abgeschnitten. Draußen lagen die drei weißen Schiffe mit ihren blanken drohenden Geschützen, der Feind, daneben dem Lande zu die kleine „Möwe“. Und die Minuten rannen. Stolz flattert des Reiches Flagge über dem Gouvernementsgebäude in der frischen Brise. Dicke Ballen Rauch warfen die Schlote der Kriegsschiffe aus; er sank nieder auf die Wasserfläche, auf ihr sich zerteilend zu einem feinen braunen Schleier. Ab und zu drang ein Signal herüber. Klick, klick, klack, klick, klick, klack tönte es scharf und regelmäßig – die Anker gingen auf, gleichzeitig erschien eine sprudelnde Welle am Heck … man ließ die Schraube angehen. Und die Minuten rannen. Die kleine „Möwe“, die arme „Möwe“. Ihr Schicksal war besiegelt. Was nützte es, daß man die Faust ballte, daß man die Zähne zusammenbiß. Die arme „Möwe“ und unsere braven, blauen Jungen. Totenstill lag Apia da. Alle blickten sie hinaus mit brennenden Augen, alle Deutschen auf des Reiches äußersten verlorenen Posten, alle, alle.
Gewehr bei Fuß stand das gelandete Marinekommando im Vorhof des Gouvernementsgebäudes. „Kerls das ist gräßlich. Wer doch wenigstens an Bord sein könnte, um den verfluchten Hunden eins aufs Fell zu brennen“, knirschte der führende Leutnant zwischen den Zähnen hervor. Die Sekunden wuchsen, aber sie schwanden Tropfen um Tropfen. Am Gouvernementsgebäude sammelten sich die Deutschen. Mit kurzem Händedruck begrüßte man sich, man sprach nur flüsternd, die Sekunden rannen. Da tönte plötzlich der heulende Schrei einer Dampfpfeife zum Lande herüber, an dem langen Schlot des „Wilmington“ erschien eine weiße Dampfwolke. Am Bug des Schiffes wallte das Wasser auf. Langsam glitt der „Wilmington“ zwischen den beiden Engländern hindurch und verließ nun unter Volldampf die Reede, weit draußen auf der offnen See einen flachen Bogen nach Osten beschreibend und dann die Richtung nach Pago Pago nehmend. Der amerikanische Konsul hatte dem Kommandanten des „Wilmington“ das Telegramm seiner Regierung noch rechtzeitig übermitteln können, welches die Anweisung enthielt, auf jeden Fall einen Konflikt zu vermeiden, bei Ausbruch von Feindseligkeiten Apia zu verlassen und alles weitere der Regierung der Vereinigten Staaten zu überlassen. Die beiden Engländer blieben auf ihren Plätzen.
¾9 Uhr. Trug der Wind nicht den Ton einer Trillerpfeife herüber? Auf dem Achterdeck der „Möwe“ trat die Mannschaft an.
Kapitänleutnant Schröder hielt eine kurze Ansprache: „Kameraden! die Kommandanten der englischen und amerikanischen Schiffe haben verlangt, Mannschaften landen zu dürfen zum Schutze ihrer Konsulate. Fremde Konsulate auf deutschem Boden stehen unter deutschem Schutz und bedürfen keines anderen. Unser Gouverneur hat das Ansinnen deshalb rundweg abgelehnt und erklärt den Versuch einer Landung mit Waffengewalt verhindern zu müssen. Da der „Wilmington“ in See geht, scheint der Amerikaner seine Forderung zurückgezogen zu haben. Die beiden Engländer werden aber sicherlich Ernst machen. Kameraden! Wir lassen deutschen Boden nicht vom Feinde betreten, einen Boden, auf dem so viel deutsches Blut geflossen ist. Kameraden! Wird die Landung versucht, so sprechen unsere Geschütze. Kerls, ich wollte wir hätten hier ein anderes Schiff unter den Füßen. Wenn um 9 Uhr der erste Schuß fällt, so wird eine Viertelstunde später die „Möwe“ aller Voraussicht nach nicht mehr existieren. Kameraden! Zeigen wir der Welt, wie deutsche Seeleute ihre Flagge zu verteidigen wissen. Noch nie hat ein deutsches Kriegsschiff die Flagge vor dem Feinde gestrichen, der letzte von uns nehme sie hinab mit ins dunkle Grab. Und nun Kameraden, fassen wir alles, was uns bewegt, in dem Rufe zusammen: Unser allergnädigster Kriegsherr, hurra, hurra, hurra!“
Das brausende Hurra fand am Lande ein tausendfaches Echo; die gepreßte Brust machte sich Luft in dem alten Kriegsruf.
5 Minuten vor 9 Uhr. Dr. Solf erscheint auf der Veranda des Gouvernementsgebäudes. Die Matrosenabteilung tritt an. Mit einem Ruck fliegen die Gewehre empor. Totenstille. Alle Nerven gespannt. Arme „Möwe“. Einer zeigt nach