Das Bildnis des Dorian Gray. Wilde Oscar
Erskine. „Ich würde eher sagen, daß es nur aufgefunden worden ist.“
„Oh, ich muß aber gestehen, daß ich einige Exemplare seiner Bewohnerinnen gesehen habe,“ antwortete die Herzogin zerstreut, „ich muß zugeben, die meisten von ihnen sind ausgesprochen hübsch. Und außerdem ziehen sie sich gut an. Sie beziehen alle ihre Kleider aus Paris. Ich wollte, ich könnte mir das auch leisten.“
„Man sagt: wenn gute Amerikaner sterben, so fahren sie nach Paris“, gluckste Sir Thomas, der eine große Kiste voll abgelegter Scherze sein eigen nannte.
„In der Tat? Und wohin gehen schlechte Amerikaner, wenn sie sterben?“ fragte die Herzogin.
„Sie gehen nach Amerika“, murmelte Lord Henry.
Sir Thomas runzelte die Stirn. „Ich fürchte, Ihr Neffe hat Vorurteile gegen dieses große Land“, sagte er zu Lady Agatha. „Ich habe es ganz bereist im Eisenbahnwagen, die mir die Direktionen zur Verfügung stellten. Man ist da in diesen Dingen außerordentlich höflich. Ich versichere Ihnen, es ist eine vorzüglich bildende Reise da drüben.“
„Aber müssen wir wirklich nach Chicago schwimmen, um unsere Bildung zu vervollständigen?“ fragte Herr Erskine wehmütig. „Ich fühle mich wirklich zu solcher Reise nicht aufgelegt.“
Sir Thomas winkte mit der Hand. „Herr Erskine of Treadley besitzt die Welt auf seinen Bücherregalen. Wir Männer des praktischen Lebens lieben es, die Dinge zu sehen, nicht darüber zu lesen. Die Amerikaner sind ein außerordentlich interessantes Volk. Sie sind vollständig Vernunftmenschen. Ich glaube, das ist ihr Charaktermerkmal. Ja, Herr Erskine, ein ausschließlich von der Vernunft beherrschtes Volk. Ich versichere Ihnen, es gibt bei den Amerikanern keinerlei Unsinn.“
„Wie schrecklich!“ rief Lord Henry aus. „Ich kann rohe Gewalt vertragen, aber rohe Vernunft ist mir unerträglich. Ich finde immer, daß ihre Anwendung unbillig ist. Es heißt den Geist unterjochen.“
„Ich verstehe Sie nicht“, erwiderte Sir Thomas und wurde etwas rot.
„Ich verstehe Sie, Lord Henry“, murmelte Herr Erskine lächelnd.
„Paradoxe sind ja an und für sich recht schön und gut…“, nahm der Baronet wieder das Wort.
„War das ein Paradoxon?“ fragte Herr Erskine. „Ich habe es nicht dafür gehalten. Vielleicht war es eins. Nun, der Weg zur Wahrheit scheint mit Paradoxen gepflastert zu sein. Um die Wahrheit zu erkennen, müssen wir sie auf gespanntem Seil tanzen sehen. Wenn die Wahrheiten Akrobaten werden, können wir sie beurteilen.“
„Mein großer Gott!“ sagte Lady Agatha, „was für eine Art zu diskutieren habt ihr Männer. Ich verstehe nie ein einziges Wort von eurem Gerede. Mit dir, Harry, oh! bin ich ganz böse. Warum versuchst du, unseren lieben Herrn Dorian Gray zu überreden, nicht mehr ins East-End zu gehen? Ich versichere dir, er wäre dort für uns unschätzbar; sein Spiel würde die Leute ungemein begeistern.“
„Mir ist es lieber, wenn er für mich spielt“, rief Lord Henry lächelnd, sah am Tisch hinunter, wo ihn ein fröhlich antwortender Blick traf.
„Aber sie sind in Whitechapel so unglücklich“, fuhr Lady Agatha wieder fort.
„Ich kann mit allem möglichen Mitgefühl haben,“ sagte Lord Henry, die Achseln zuckend, „außer mit Leiden. Damit kann ich keine Sympathie haben. Es ist zu häßlich, zu schrecklich, zu niederdrückend. In der heut modernen Sympathie für die Leiden liegt etwas schrecklich Krankhaftes. Man sollte mit Farben sympathisieren, mit Schönheit, mit Lebensfreude. Je weniger man über das Elend des Lebens sagt, desto besser.“
„Aber das East-End ist ein sehr wichtiges Problem“, bemerkte Sir Thomas mit ernstem Kopfschütteln.
„Sicherlich“, antwortete der junge Lord. „Es ist das Problem der Sklaverei, und wir versuchen es derart zu lösen, daß wir die Sklaven amüsieren.“
Der Politiker sah ihn mit einem forschenden Blicke an. „Welche Änderung schlagen Sie also vor?“
Lord Henry lachte. „Ich habe gar nicht das Verlangen, in England etwas zu ändern außer dem Wetter“, entgegnete er. „Ich begnüge mich mit philosophischer Betrachtung. Da aber das neunzehnte Jahrhundert durch übermäßigen Verbrauch von Sympathie Bankrott geworden ist, möchte ich vorschlagen, daß man sich an die Wissenschaft hält, damit diese uns wieder aufrichtet. Der Vorteil der Gefühle liegt darin, daß sie uns in die Irre führen, und der Vorteil der Wissenschaft darin, daß sie sich mit Gefühlen nicht abgibt.“
„Aber auf uns liegen so ernste Verantwortlichkeiten“, warf Frau Vandeleur schüchtern ein.
„Entsetzlich schwere“, stimmte Lady Agatha ein.
Lord Henry sah zu Herrn Erskine hinüber. „Die Menschheit nimmt sich selber zu ernst. Das ist die Todsünde der Welt. Wenn die Höhlenmenschen schon hätten lachen können, hätte die Weltgeschichte andere Wege eingeschlagen.“
„Ihre Worte klingen sehr tröstlich“, trillerte die Herzogin. „Ich habe immer eine Art Schuldgefühl gehabt, wenn ich Ihre liebe Tante besuchte, denn ich nehme nicht das geringste Interesse an East-End. In Zukunft werde ich ihr ohne zu erröten ins Gesicht sehen können.“
„Erröten ist ein vorzügliches Schönheitsmittel“, bemerkte Lord Henry.
„Nur wenn man jung ist“, antwortete sie. „Wenn eine alte Frau wie ich errötet, ist es ein sehr schlechtes Zeichen. Ach, Lord Henry, ich wünschte, Sie könnten mir sagen, wie man wieder jung wird!“
Er dachte einen Augenblick nach. „Können Sie sich an irgendeinen großen Fehler erinnern, den Sie in der Jugend begangen haben?“ fragte er dann, sie fest über den Tisch hin ansehend.
„An eine ganze Menge, fürchte ich!“ rief sie aus.
„Dann begehen Sie sie wieder“, entgegnete er ernst. „Um seine Jugend zurückzubekommen, braucht man nur seine Torheiten zu wiederholen.“
„Eine allerliebste Theorie!“ rief sie. „Ich muß sie mal in die Praxis umsetzen.“
„Eine gefährliche Theorie“, sagte Sir Thomas, seine dünnen Lippen zusammenkneifend. Lady Agatha schüttelte den Kopf, aber sie amüsierte sich doch. Herr Erskine lauschte.
„Ja,“ fuhr Henry fort, „das ist eines der großen Lebensgeheimnisse. Heutzutage sterben die meisten Leute an einer Art von schleichender Verständigkeit, und erst, wenn es zu spät ist, kommen sie dahinter, daß die einzigen Dinge, die man niemals bereut, die Torheiten sind.“
Nun lachte der ganze Tisch.
Er spielte jetzt mit diesem Einfall nach Willkür; warf ihn in die Luft und änderte ihn um: ließ ihn entwischen und haschte ihn wieder auf: ließ ihn phantastisch glitzern und gab ihm Paradoxe als Flügel. Als er fortfuhr, rundete sich dieser Ruhm der Narretei in ein philosophisches System und die Philosophie selbst wurde dabei jung und tanzte, begleitet von der tollen Musik der Lust, in ihrem von Wein befleckten Gewande und mit Efeu bekränzten Locken, wie eine Bacchantin über die Hügel des Lebens und neckte den plumpen Silen, weil er nüchtern blieb. Die Tatsachen flüchteten vor ihr wie das erschreckte Getier des Waldes. Ihre weißen Füße stampften in der ungefügen Kelter, an der der weise Omar sitzt, bis der schäumende Traubensaft in purpurblasigen Wellen an ihren nackten Gliedern aufspritzte oder in rotem Gischt über die dunkeln, triefenden, gewölbten Seiten der Kufe herabrann. Es war eine ganz brillante Improvision. Er empfand, daß die Augen Dorian Grays auf ihn gerichtet waren, und das Bewußtsein, daß es unter seinen Zuhörern einen gab, dessen Temperament er zu bezaubern wünschte, gab seinem Witz Würzigkeit und seiner Phantasie Farbe. Er war geistreich, phantasievoll, unwiderstehlich. Er begeisterte seine Zuhörer dahin, aus sich heraus zu gehen, und lachend folgten sie seiner Rattenfängerpfeife. Dorian Gray verwandte seinen Blick nicht von ihm, sondern saß wie unter einem Zauberbanne da, während ein Lächeln nach dem andern auf seine Lippen trat und sich das Staunen in seinen dunklen Augen immer mehr vertiefte.
Endlich betrat die Wirklichkeit im Kleide des Alltags das Zimmer, und zwar in Gestalt eines Lakaien, der der Herzogin meldete, daß ihr Wagen warte. Sie rang ihre Hände in geschauspielerter Verzweiflung.