Das Bildnis des Dorian Gray. Wilde Oscar
stehe zur Zeit auf Lady Agathas schwarzer Liste“, antwortete Dorian mit einem komisch reuigen Gesichtsausdruck. „Ich hatte ihr versprochen, sie letzten Dienstag nach einem Klub in Whitechapel zu begleiten, und ich habe dann die Abmachung vergessen. Wir sollten da miteinander vierhändig spielen – drei Stücke glaube ich. Ich weiß nun nicht, was sie mir dazu sagen wird. Ich habe Angst, ihr einen Besuch zu machen.“
„Oh, ich werde Sie mit meiner Tante versöhnen. Sie ist Ihnen äußerst zugetan. Und ich glaube auch, es schadet nichts, daß Sie nicht dort waren. Die Zuhörer haben sicher angenommen, es sei vierhändig gespielt worden. Wenn sich Tante Agatha ans Klavier setzt, macht sie für zwei Personen reichlich Lärm.“
„Sie sprechen sehr schlecht von ihr, und mir machen Sie auch gerade kein Kompliment damit“, antwortete Dorian lachend.
Lord Henry sah ihn an. Ja, er war wirklich wunderbar schön, mit seinen feingeschwungenen dunkelroten Lippen, seinen offenen blauen Augen und seinem gewellten, goldblonden Haar. In seinem Gesicht war ein Ausdruck, der sofort Vertrauen erweckte. Aller Glanz der Jugend lag darin und ebenso all die leidenschaftliche Reinheit der Jugend. Man fühlte, daß er bisher noch nicht von der Welt befleckt war. Kein Wunder, daß ihn Basil Hallward anbetete.
„Sie sind viel zu hübsch, um sich mit Wohltätigkeit abzugeben, Herr Gray – viel zu hübsch!“ Und Lord Henry warf sich auf den Diwan und öffnete seine Zigarettendose.
Der Maler hatte inzwischen eifrig seine Farben gemischt und seine Pinsel zurechtgemacht. Er sah etwas gequält aus, und als er Lord Henrys letzte Bemerkung hörte, blickte er zu ihm hin, sann einen Augenblick nach und sagte dann: „Harry, ich möchte das Bild heute fertig kriegen. Fändest du es sehr grob von mir, wenn ich dich jetzt bäte, uns allein zu lassen?“
Lord Henry lächelte und sah Dorian Gray an. „Soll ich gehen, Herr Gray?“ fragte er.
„Oh, bitte, nein, Lord Henry. Ich sehe, Basil hat wieder einen seiner schlechten Tage, und ich kann ihn nicht vertragen, wenn er so brummt. Außerdem möchte ich von Ihnen erfahren, warum ich mich nicht mit Wohltätigkeit befassen soll?“
„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll, Herr Gray. Es ist ein so langweiliges Thema, daß man schon ernsthaft darüber reden müßte. Aber jetzt geh ich auf keinen Fall, nachdem Sie mir erlaubt haben, dazubleiben. Du hast doch nichts im Ernst dagegen, Basil? Du hast mir oft genug gesagt, daß es dir angenehm sei, wenn deine Modelle mit jemand plaudern können.“
Hallward biß sich auf die Lippe. „Wenn es Dorian wünscht, wirst du natürlich dableiben. Dorians Launen sind Gesetze für jedermann, außer für ihn selbst.“
Lord Henry nahm seinen Hut und seine Handschuhe. „Trotz deiner dringenden Aufforderung, Basil, fürchte ich, gehen zu müssen. Ich habe mit jemand eine Verabredung im Orleans-Klub. Adieu, Herr Gray! Bitte, besuchen Sie mich doch mal eines Nachmittags in Curzon Street. Um fünf Uhr treffen Sie mich fast immer. Schreiben Sie mir, bitte, wann Sie kommen. Es täte mir sehr leid, wenn Sie mich verfehlten.“
„Basil,“ rief Dorian Gray, „wenn Lord Henry Wotton geht, dann gehe ich auch. Du bringst ja beim Malen nie die Lippen auseinander, und es ist furchtbar ermüdend, auf einem Podium zu stehen und sich anzustrengen, freundlich auszusehen. Bitte ihn, dazubleiben. Ich bestehe darauf.“
„Bleib, Harry, du machst Dorian damit ein Vergnügen und auch mir“, sagte Hallward, ohne von seinem Bilde aufzublicken. „Er hat ganz recht, ich spreche nie ein Wort während der Arbeit und höre ebensowenig zu, und das muß sehr langweilig für meine unglücklichen Modelle sein. Ich bitte dich also, bleib.“
„Was fange ich aber mit meinem Mann im Orleans an?“
Der Maler lachte. „Ich glaube, damit wird es keine Schwierigkeit haben. Setz dich nur wieder, Harry. Und jetzt, Dorian, geh auf das Podium und bewege dich nicht zuviel und achte auch nicht auf das, was Lord Henry sagt. Er hat einen sehr bösen Einfluß auf alle seine Freunde, nur mich ausgenommen.“
Dorian Gray bestieg das Podium mit der Miene eines jungen griechischen Märtyrers und stieß, zu Lord Henry gewandt, der ihm gleich gut gefallen hatte, einen kleinen drolligen Seufzer aus. Dieser Mann war so ganz anders als Basil. Die beiden bildeten einen entzückenden Gegensatz. Und er hatte ein so schönes Organ. Nach ein paar Augenblicken sagte Dorian zu ihm: „Haben Sie wirklich einen so bösen Einfluß, Lord Henry? Ist es so arg, wie Basil sagt?“
„Es gibt keinen sogenannten guten Einfluß, Herr Gray. Jeder Einfluß ist unmoralisch – unmoralisch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus.“
„Wieso?“
„Weil jemand beeinflussen soviel ist wie ihm die eigene Seele leihen. Er denkt dann nicht mehr seine natürlichen Gedanken und brennt nicht mehr in seinem natürlichen Feuer. Seine Tugenden sind gar nicht seine Tugenden. Seine Sünden, wenn es so etwas wie Sünden gibt, sind nur ausgeborgte. Er wird ein Echo für die Töne eines anderen, Schauspieler einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben wurde. Der Sinn des Daseins ist: Selbstentwicklung. Die eigene Natur voll zum Ausdruck zu bringen – diese Aufgabe hat jeder von uns hier zu lösen. Heutzutage hat jeder Mensch Angst vor sich. Sie haben ihre heiligste Pflicht vergessen, nämlich die gegen sich selbst. Natürlich sind sie wohltätig. Sie nähren den Hungernden und kleiden den Bettler. Aber ihre eigenen Seelen darben und gehen nackt. Der Mut ist unserem Geschlecht abhanden gekommen. Vielleicht haben wir ihn nie wirklich besessen. Die Furcht vor der Gesellschaft als der Grundlage der Sittlichkeit, und die Furcht vor Gott, als dem Geheimnis der Religion – das sind die zwei Dinge, die uns beherrschen. Und doch – “
„Dorian, dreh den Kopf mal ein wenig mehr nach rechts, sei so gut“, sagte der Maler, der ganz in sein Werk vertieft war, aber doch gemerkt hatte, daß in des Jünglings Gesicht ein Ausdruck getreten war, den er vorher nie darin gesehen hatte.
„Und doch,“ fuhr Lord Henry mit seiner tiefen musikalischen Stimme fort, während er die Hand in der anmutigen Art bewegte, die er schon seinerzeit in Eton gehabt hatte, „ich glaube, wenn die Menschen nur ihr eigenes Leben voll, bis auf den letzten Rest ausleben würden, jedes Gefühl Gestalt bekommen lassen, jeden Gedanken ausdrücken, jeden Traum in Dasein umsetzen wollten – ich glaube, dann käme in die Welt ein solcher Schwung von neuer Freudigkeit, daß wir alle die Krankheiten des Mittelalters vergäßen und zum hellenischen Ideal zurückkehrten, ja wir kämen vielleicht zu etwas Feinerem und Reicherem, als das hellenische Ideal war. Aber selbst der Tapferste unter uns hat Angst vor sich selber. Die Selbstverstümmelung der Wilden hat ihr tragisches Überbleibsel in der Selbstverleugnung, die unser Leben verstümmelt. Wir büßen für unsere Entsagungen. Jeder Trieb, den wir zu ersticken suchen, frißt im Innern weiter und vergiftet uns. Der Körper sündigt nur einmal und hat sich durch die Sünde befreit, denn Tat ist immer eine Art Reinigung. Nichts bleibt davon zurück als die Erinnerung an ein Vergnügen oder die schmerzliche Wollust der Reue. Der einzige Weg, eine Versuchung zu bestehen, ist, sich ihr hinzugeben. Widerstehen Sie ihr, und Ihre Seele erkrankt vor Sehnsucht nach der Erfüllung, die sie sich selber verweigert hat, erkrankt vor dem Verlangen nach dem, was ihre ungeheuerlichen Gesetze ungeheuerlich und ungesetzmäßig gemacht haben. Es ist wohl gesagt worden, die großen Ereignisse der Welt gingen im Gehirn vor sich. Im Gehirn und ganz allein im Gehirn werden auch die großen Sünden der Welt begangen. Sie, Herr Gray, Sie selbst mit Ihrer rosenroten Jugend und Ihrer rosenblassen Knabenunschuld, Sie haben schon Leidenschaften erlebt, die Ihnen Angst einjagten, haben Gedanken gehabt, die Sie in Schrecken setzten, haben wachend und schlafend Träume gehabt, deren bloße Erinnerung Ihre Wangen schamrot werden ließ – “
„Hören Sie auf,“ stammelte Dorian Gray, „hören Sie auf, Sie machen mich ganz wirr. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es gibt eine Antwort darauf, aber ich kann sie nicht finden. Sagen Sie nichts mehr! Lassen Sie mich nachdenken. Oder vielmehr, lassen Sie mich versuchen, dem nicht nachzudenken.“
Etwa zehn Minuten stand er bewegungslos da, mit halboffenen Lippen und seltsam leuchtenden Augen. Er war sich dumpf bewußt, daß ganz neue Einflüsse in ihm arbeiteten. Und doch schien es, als kämen sie in Wirklichkeit aus seinem eigenen Innern. Die paar Worte, die Basils Freund zu ihm gesagt hatte – ohne Zweifel zufällig hingeworfene Worte voll absichtlicher Paradoxie – hatten eine geheime Saite seiner Seele berührt,