Geschlecht und Charakter. Отто Вейнингер
zu tun ist, die bestehende Morphologie und Physiologie mit ihren Angaben gänzlich im Stich. Es wären da alle Messungen wie auch alle übrigen Detailforschungen erst auszuführen. Was existiert, ist für eine Wissenschaft auch in laxerem (nicht erst in Kantischem) Sinne völlig unverwendbar.
Alles kommt auf die Kenntnis von M und W, auf die richtige Feststellung des idealen Mannes und des idealen Weibes an (ideal im Sinne von typisch, ohne jede Bewertung).
Wird es gelungen sein, diese Typen zu erkennen und zu konstruieren, so wird die Anwendung auf den einzelnen Fall, seine Darstellung durch ein quantitatives Mischungsverhältnis, ebenso unschwer wie fruchtbar sein.
Ich resumiere den Inhalt dieses Kapitels: es gibt keine kurzweg als ein- und bestimmt-geschlechtlich zu bezeichnenden Lebewesen. Vielmehr zeigt die Wirklichkeit ein Schwanken zwischen zwei Punkten, auf denen selbst kein empirisches Individuum mehr anzutreffen ist, zwischen denen irgendwo jedes Individuum sich aufhält. Aufgabe der Wissenschaft ist es, die Stellung jedes Einzelwesens zwischen jenen zwei Bauplänen festzustellen; diesen Bauplänen ist keineswegs eine metaphysische Existenz neben oder über der Erfahrungswelt zuzuschreiben, sondern ihre Konstruktion ist notwendig aus dem heuristischen Motive einer möglichst vollkommenen Abbildung der Wirklichkeit. – —
Die Ahnung dieser Bisexualität alles Lebenden (durch die nie ganz vollständige sexuelle Differenzierung) ist uralt. Vielleicht ist sie chinesischen Mythen nicht fremd gewesen; jedenfalls war sie im Griechentum äußerst lebendig. Hiefür zeugen die Personifikation des Hermaphroditos als einer mythischen Gestalt; die Erzählung des Aristophanes im platonischen Gastmahl; ja noch in später Zeit galt der gnostischen Sekte der Ophiten der Urmensch als mannweiblich, ἀρσενόθηλυς.
II. Kapitel.
Arrhenoplasma und Thelyplasma
Die nächste Erwartung, welche eine Arbeit zu befriedigen hätte, in deren Plan eine universelle Revision aller einschlägigen Tatsachen gelegen wäre, würde sich auf eine neue und vollständige Darstellung der anatomischen und physiologischen Eigenschaften der sexuellen Typen richten. Da ich aber selbständige Untersuchungen zum Zwecke einer Lösung dieser umfassenden Aufgabe nicht angestellt habe, und eine Beantwortung jener Fragen für die letzten Ziele dieses Buches mir nicht notwendig erscheint, so muß ich auf dieses Unternehmen von vornherein Verzicht leisten – ganz abgesehen davon, ob es die Kräfte eines einzelnen nicht bei weitem übersteigt. Eine Kompilation der in der Literatur niedergelegten Ergebnisse wäre überflüssig, denn eine solche ist in vorzüglicher Weise von Havelock Ellis besorgt worden. Aus den von ihm gesammelten Resultaten die sexuellen Typen auf dem Wege wahrscheinlicher Schlußfolgerungen zu gewinnen, bliebe hypothetisch und würde der Wissenschaft nicht eine einzige Neuarbeit zu ersparen vermögen. Die Erörterungen dieses Kapitels sind darum mehr formaler und allgemeiner Natur, sie gehen auf die biologischen Prinzipien, zum Teil wollen sie auch jener notwendigen Arbeit der Zukunft die Berücksichtigung bestimmter einzelner Punkte ans Herz legen und so derselben förderlich zu werden versuchen. Der biologische Laie kann diesen Abschnitt überschlagen, ohne das Verständnis der übrigen hiedurch sehr zu beeinträchtigen.
Es wurde die Lehre von den verschiedenen Graden der Männlichkeit und Weiblichkeit vorderhand rein anatomisch entwickelt. Die Anatomie wird aber nicht nur nach den Formen fragen, in denen, sondern auch nach den Orten, an denen sich Männlichkeit und Weiblichkeit ausprägt. Daß die Sexualität nicht bloß auf die Begattungswerkzeuge und die Keimdrüsen beschränkt ist, geht schon aus den früher als Beispielen sexueller Unterschiedenheit erwähnten Körperteilen hervor. Aber wo ist hier die Grenze zu ziehen, mit anderen Worten, wo steckt das Geschlecht und wo steckt es nicht? Ist es bloß auf die »primären« und »sekundären« Sexualcharaktere beschränkt? Oder reicht sein Umfang nicht viel weiter?
Es scheint nun eine große Anzahl in den letzten Jahrzehnten aufgefundener Tatsachen zur Wiederaufnahme einer Lehre zu zwingen, welche in den vierziger Jahren des XIX. Jahrhunderts aufgestellt wurde, aber wenig Anhänger fand, da ihre Konsequenzen dem Begründer der Theorie selbst ebenso wie ihren Bestreitern einer Reihe von Forschungsergebnissen zu widersprechen schienen, die zwar nicht jenem, aber diesen als unumstößlich galten. Ich meine unter dieser Anschauung, welche, mit einer Modifikation, die Erfahrung uns gebieterisch abermals aufnötigt, die Lehre des Kopenhagener Zoologen Joh. Japetus Sm. Steenstrup, der behauptet hatte, das Geschlecht stecke überall im Körper.
Ellis hat zahlreiche Untersuchungen über fast alle Gewebe des Organismus excerpiert, die überall Unterschiede der Sexualität nachweisen konnten. Ich will erwähnen, daß der typisch männliche und der typisch weibliche »Teint« sehr voneinander verschieden sind; dies berechtigt zur Annahme sexueller Differenzen in den Zellen der Cutis und der Blutgefäße. Aber auch in der Menge des Blutfarbstoffes, in der Zahl der roten Blutkörperchen im Kubikcentimeter der Flüssigkeit sind solche gesichert. Bischoff und Rüdinger haben im Gehirne Abweichungen der Geschlechter voneinander festgestellt, und Justus und Alice Gaule in der jüngsten Zeit solche auch in vegetativen Organen (Leber, Lunge, Milz) aufgefunden. Tatsächlich wirkt auch alles am Weibe, wenn auch gewisse Zonen stärker und andere schwächer, »erogen« auf den Mann, und ebenso alles am Manne sexuell anziehend und erregend auf das Weib.
Wir können so zu der vom formal-logischen Standpunkt hypothetischen, aber durch die Summe der Tatsachen fast zur Gewißheit erhobenen Anschauung fortschreiten: jede Zelle des Organismus ist (wie wir vorläufig sagen wollen) geschlechtlich charakterisiert, oder hat eine bestimmte sexuelle Betonung. Unserem Prinzipe der Allgemeinheit der sexuellen Zwischenformen gemäß werden wir gleich hinzufügen, daß diese sexuelle Charakteristik verschieden hohe Grade haben kann. Diese sofort zu machende Annahme einer verschieden starken Ausprägung der sexuellen Charakteristik ließe uns auch den Pseudo- und sogar den echten Hermaphroditismus (dessen Vorkommen für viele Tiere, wenn auch nicht mit Sicherheit für den Menschen, seit Steenstrups Zeit über allen Zweifel erhoben worden ist) unserem Systeme leicht eingliedern. Steenstrup sagte: »Wenn das Geschlecht eines Tieres wirklich seinen Sitz allein in den Geschlechtswerkzeugen hätte, so könnte man sich noch zwei Geschlechter in einem Tiere gesammelt, zwei solche Geschlechtswerkzeuge an die Seite voneinander gestellt denken. Aber das Geschlecht ist nicht etwas, welches seinen Sitz in einer gegebenen Stelle hat, oder welches sich nur durch ein angegebenes Werkzeug äußert; es wirkt durch das ganze Wesen, und hat sich in jedem Punkte davon entwickelt. In einem männlichen Geschöpfe ist jeder, auch der kleinste Teil männlich, mag er dem entsprechenden Teile von einem weiblichen Geschöpfe noch so ähnlich sein, und in diesem ist ebenso der allerkleinste Teil nur weiblich. Eine Vereinigung von beiden Geschlechtswerkzeugen in einem Geschöpfe würde deshalb dieses erst zweigeschlechtlich machen, wenn die Naturen beider Geschlechter durch den ganzen Körper herrschen und sich auf jeden einzelnen Punkt davon geltend machen könnten – etwas, das sich infolge des Gegensatzes beider Geschlechter nur als eine gegenseitige Aufhebung voneinander, als ein Verschwinden alles Geschlechtes in einem solchen Geschöpfe äußern könnte.« Wenn jedoch, und hiezu scheinen alle empirischen Tatsachen zu zwingen, das Prinzip der unzähligen sexuellen Übergangsstufen zwischen M und W auf alle Zellen des Organismus ausgedehnt wird, so entfällt die Schwierigkeit, an der Steenstrup Anstoß nahm, und das Zwittertum ist keine Naturwidrigkeit mehr. Von der völligen Männlichkeit an in allen Vermittlungen bis zu deren gänzlichem Fehlen, welches mit dem Vorhandensein der absoluten Weiblichkeit zusammenfiele, sind danach unzählige verschiedene sexuelle Charakteristiken jeder einzelnen Zelle denkbar. Ob diese Graduierung in einer Skala von Differenzialien wirklich unter dem Bilde zweier realer, jeweils in anderem Verhältnis zusammentretender Substanzen zu denken ist, oder ein einheitliches Protoplasma in unendlich vielen Modifikationen (etwa räumlich verschiedenen Anordnungen der Atome in großen Molekülen) anzunehmen ist, darüber tut man gut, sich jeder Vermutung zu enthalten. Die erste Annahme wird physiologisch nicht gut verwendbar sein – man denke an eine männliche oder weibliche Körperbewegung und die dann notwendige Duplizität in den bestimmenden Verhältnissen ihrer realen, physiologisch doch immer einheitlichen Erscheinungsform; die zweite erinnert zu sehr an wenig geglückte Spekulationen über die Vererbung. Vielleicht sind beide gleich weit von der Wahrheit entfernt.
Worin die Männlichkeit (Maskulität) oder Weiblichkeit (Muliebrität) einer Zelle eigentlich bestehen mag, welche histologischen, molekular-physikalischen oder gar chemischen Unterschiede jede Zelle von W trennen mögen von jeder Zelle von M,